Der ‚Arabische Frühling’ und der ‚Herbst des Westens’

Der ‚Arabische Frühling’ und der ‚Herbst des Westens’

Der arabische Frühling sagt mehr über uns aus, als über Arabien. Seine Deutung und öffentliche Resonanz im Westen verweisen auf unsere eigenen Ängste und Hoffnungen: Die arabische Revolution ist uns zum Fluchtpunkt geworden, zum Hoffnungsraum, zum mentalen Stellvertreterkrieg.

Werfen wir zunächst einen Blick auf nur einige der derzeitigen Probleme Europas und der USA: Auf die Pleite der Banken folgte eine Rezession sowie eine Währungs- und Schuldenkrise. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugend nahm zu, Staatsausgaben wurden gekürzt, ein Rettungspaket überbietet das nächste, sei es für Länder oder für Banken. Die staatlichen Akteure versuchen sich in alternativlosem Krisenmanagement, Finanzpolitik ist mehr denn je eine Mischung aus Expertentum und Hinterzimmerpolitik. Die EU von jeher als undemokratisches und bürokratisches Gebilde, als Projekt politischer Eliten verschrien, scheint somit nicht nur Opfer sondern auch Subjekt und Verursacher der Krise zu sein. Beruhte sie stets auf dem Desinteresse ihrer Bürger, so ist nun auch dieses gewichen und sie steht ihnen ferner denn je. Die ehemalige Weltmacht USA ist innerlich gespalten, pleite und von Naturkatastrophen gebeutelt. Während das politisch zu einende Europa diesen Status schon lange ad acta gelegt hat, verstand es sich seit seiner Gründung, gänzlich aber nach dem Vertrag von Maastricht, als ein Projekt der Völkerverständigung, des sozialen und politischen Fortschrittes. Dieser Optimismus ist seit einigen Jahren verblasst.

Im Herbst des Westens suchen die Menschen nach neuen Formen der politischen Artikulation. Straßenproteste gegen staatliches Handeln im Süden Europas ebenso wie in Stuttgart oder Hamburg, das Internet als effektives Mittel Massen zu erreichen und zu organisieren, Urabstimmungen in den Parteien, Tea Party, Occupy und der Aufruf „sich zu empören“ sind nur einige Testläufe und Versuche einer neuen Bürgerbeteiligung.

Was Staat war soll wieder Polis werden, was alternativlos ist wieder gestaltbar sein.

Der arabische Frühling spiegelt einen Teil dieser Probleme wider und suggeriert Lösungen, die den Menschen des Westens nicht mehr offen stehen, aber ihren Sehnsüchten entsprechen. Wieder einmal wird uns der Orient zum Hoffnungsraum.

Die Menschen der arabischen Halbinsel agieren solidarisch und „empören sich“ gegen autoritäre Regime, die sie als ‚Untertanen’ behandeln und über ihre Köpfe hinweg regieren. Nun handelt es sich tatsächlich um despotische Machthaber, ein echtes Aufbegehren, eine Revolution ist möglich und gerechtfertigt, während die ‚Staatsbürger’ des Westens ihren gewählten Regierungen nur Plakate entgegenhalten können. Die demokratische Macht des Bürgers generiert in letzter Konsequenz seine Macht- und Tatenlosigkeit.

Die Heterogenität des arabischen Frühlings ist sich in ihrer Opposition gegen die Despoten einig, die Bürger des Westens sind sich lediglich in einem diffusen Verdruss einig, für den sie keine Anlaufstelle finden können: Sind Banken die richtige Adresse ihn abzuladen, auch wenn deren Vertreter hinter einem gesichtslosen System verschwinden und wie in Spanien selbst von Pleiten betroffen sind? Soll man vor die Parlamente ziehen und die Volksvertreter antreiben, die ihrerseits von Märkten und Sachzwängen getrieben werden?

Die arabischen Revolutionäre organisierten sich vermeintlich über das Internet. Wie steht es um das world wide web in Europa? Die Piratenparteien befinden sich gerade in der Auflösung, die Medien berichten vermehrt über Cybermobbing oder aus dem Ruder gelaufene Facebook-Parties. In der arabischen Welt scheint zu gelingen, was man sich hierzulande erhofft: Mittels neuer Medien organisieren sich Bewegungen von unten, die Intelligenz des Schwarmes trägt politische Blüten. Die arabische Revolution scheint uns eine zeitgemäße Revolution zu sein. Sie hat eine digitale Sprache für die Politik gefunden. Sie bewegt etwas, statt Experimentierfeld regungsloser Nerds zu bleiben. Gerade weil unklar bleibt, was dabei bewegt wird, bleibt Raum für Hoffnungen und Revolutionspathos, der im Westen nur noch in nostalgischen Straßenkriegsgeschichten der etablierten 68er-Generation ein Schattendasein fristet.

Es ist eine Revolution der Jugend, einer Jugend, die wie in vielen Ländern des Westens unter hoher Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit zu leiden hat. Aber diese Jugend packt es an, empört sich und ist dabei noch erfolgreich. Vor ihrem Optimismus und der Aufbruchstimmung verstummen alle Sachzwänge ökonomischer oder politischer Art. Es ist der alte Vater-Sohn Konflikt, wie wir ihn aus dem Theater und den Romanen kennen, die Emanzipation der Jugend, welche ein Europa beeindruckt, das sich teilweise das Kinderkriegen abgewöhnt hat, dessen wenige Jugendliche fürchten unter die Räder zu geraten. Die Vitalität des arabischen Frühlings beeindruckt einen vergreisenden Kontinent, dem die Demoskopen permanent den eigenen Herbst prophezeien.

Der arabische Frühling will die Demokratie. Doch will „er“ sie tatsächlich? Oder liegt in dieser Zuschreibung nicht eher die Hoffnung des Westens, dass das eigene System noch attraktiv ist und Strahlkraft besitzt, nachdem der Erfolg des autoritären chinesischen Modells und die eigenen Probleme Zweifel gesät haben? Der Westen will sich reformieren und will die Neuerung, aber er will auch so bleiben wie er ist und sich bestätigt wissen. Folglich versieht er ein Bündel völlig heterogener Bewegungen mit dem Stempel der „Demokratie“, womit sich die Revolution zugleich im Rahmen des mental Erlaubten bewegt und die verfassungsrechtliche Grundlage des Westens nicht verlässt.

Was uns mit den eigenen Migranten nicht gelingt, ist uns mit der arabische Revolution gelungen: Sie wurde erfolgreich integriert.

Dies erkannten auch die westlichen Regierungen, weshalb sie den Despoten die Unterstützung aufkündigten, mit denen sie sich so lange arrangiert hatten. Wenn die eigene Politik an ihre Grenzen gerät, versucht man sie ins Ausland zu exportieren. Statt einer ins Stocken geratenen EU-Erweiterung erhofft man sich die nötigen Kriterien an Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nun im Nahen Osten. Die Maschine muss schließlich weiter laufen.

Erst der hohe Zuspruch der Muslimbrüder in Ägypten hat uns gezeigt, dass unser neues Arkadien in der Wüste liegt. Plötzlich gerieten Sandkörner in unser mediales Getriebe. Auch der Bürgerkrieg in Syrien entzog dem Revolutionspathos die Grundlage: Hohe Opferzahlen und Rebellen, die Soldaten hinrichten, passen schlecht in das Bild, das wir uns gemacht haben oder machen wollten. Bilder von Leichen in der Tagesschau ließen die Spannung, die uns zuvor von den ewig gleichen Meldungen über Pleiten und Rettungspakete abgelenkt hatte, in Grauen umschlagen. Wir mussten feststellen, dass dort Krieg herrscht und kein Spielfilm abläuft, der den Verdruss und die langweilige Abgestumpftheit der eigenen politischen und sozialen Probleme überstrahlt.

Der Ruf nach den USA wurde laut – in der Not besinnt man sich doch auf das Gewohnte – aber erschrocken musste man feststellen, dass die verhasste Weltmacht Nummer 1 mit sich selbst zu kämpfen hat. Auch das schien plötzlich kein Spielfilm mehr.

Was also tun? Ist eine neuerliche Aufklärung nötig, wie sie angesichts des extremen Islamismus immer wieder gefordert wird, um uns zu kritisieren und die Menschen der arabischen Halbinsel zu unterstützen? Oder ist unsere Konstruktion des arabischen Frühlings nicht bereits die Dialektik unserer eigenen Aufklärung, die uns immer wieder die Worte Demokratie und Toleranz einflüstert und die Differenz zwischen dem Nahen Osten und dem Westen in falsch verstandenen Eine-Welt-Visionen verwischt?

Letztlich wird man in skeptischer Distanz beobachten müssen, statt zuzuschreiben, abwarten müssen, statt vorschnell zu werten. Die iranische Revolution des Ajatollah Chomeini wurde 1978 im Westen, der ihm Asyl geboten hatte, euphorisch begrüßt. Die eigenen Hoffnungen und Ängste können den Blick trüben und uns schmerzhaft wieder einholen.

Es wäre nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass sich der Westen geirrt hätte und der Wunsch das Denken verhindert.

Philip Haas

Doktorand Geschichte und klassische Philologie (Universität Marburg)