Arabischer Frühling – auch für die Rechte tunesischer Frauen? Die Wirkung des Frauenrechtsregimes in Tunesien im Lichte des Arabischen Frühlings

Arabischer Frühling – auch für die Rechte tunesischer Frauen? Die Wirkung des Frauenrechtsregimes in Tunesien im Lichte des Arabischen Frühlings

50 Jahre nach der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen sind die Auswirkungen des inzwischen durch zahlreiche Abkommen kodifizierten Menschenrechtsregimes auf staatliches Handeln noch immer ein wenig erforschtes Feld. Zwar wird die Frage, ob Normen überhaupt einen Einfluss auf staatliches Handeln haben, nicht mehr kontrovers diskutiert; umstritten ist hingegen wie und wann dies geschieht. Trotz des wachsenden Vertragsrechts kann von einer universellen Einhaltung der Menschenrechte keine Rede sein.

Seit 1948 verpflichtet sich zwar eine wachsende Zahl von Staaten den Menschenrechtsabkommen, jedoch folgt der steigenden Anzahl an rhetorischen Verpflichtungen nicht zwingend eine zunehmende Einhaltung.[1] Regierungen entziehen sich in ihrem innen- und außenpolitischen Handeln immer wieder ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Wie in anderen Bereichen an der Schnittstelle von Völkerrecht und internationaler Politik stehen Rhetorik und Handeln auch hier in einem Spannungsverhältnis. So stellt das internationale Politikfeld Menschenrechte die theoretische Debatte zwischen Konstruktivisten und Rationalisten vor eine große Herausforderung. Dabei stellt sich die Frage, ob eine demokratische Staatsform die Umsetzung von Menschenrechtsnormen befördert. Insbesondere im Lichte der neueren Tendenzen im Bereich der Frauenrechte in Tunesien infolge des Arabischen Frühlings ist dies von Relevanz. Um die Entwicklungen in Tunesien im Bereich der Frauenrechte einordnen zu können, wird zunächst die dafür notwendige Methodik vorgestellt.

1. Das Spiralmodell

Einer der ersten Beiträge zur innenpolitischen Wirkung des internationalen Menschenrechtsregimes konzeptualisierte das sogenannte Spiralmodell innenpolitischen Wandels. Es beschreibt den „Sozialisierungsprozess“ internationaler Menschenrechtsstandards anhand unterschiedlicher Phasen, gibt Aufschluss darüber, wann und wie Menschenrechtsnormen Einfluss auf Staaten haben, und erklärt die Variation beim Einfluss dieser Normen. Das besondere an diesem Modell ist, dass es rationalistische und konstruktivistische Annahmen verbindet.

In der ersten Phase (Repression) des Modells ist in dem zu untersuchenden Staat eine repressive Regierung an der Macht, die Menschenrechte systematisch verletzt, während die innenpolitische gesellschaftliche Opposition zu schwach bzw. zu unterdrückt ist, um Wandlungsprozesse selbständig einleiten zu können. [2] In der zweiten Phase (Leugnen) setzt das transnationale Netzwerk den normverletzenden Staat auf die internationale Agenda. Mittels moralischer Bewusstseinsbildung und der Strategie des Beschämens sensibilisiert das Netzwerk die westliche Öffentlichkeit und zwingt so die westliche Staatengemeinschaft und internationale Organisationen zu einer Reaktion auf die Menschenrechtsverletzung.[3] Daraus resultiert ein anfänglicher Druck auf den Zielstaat, seine Menschenrechtssituation zu verbessern. Die erste Reaktion der normverletzenden Regierung besteht darin, die Geltungsansprüche internationaler Menschenrechtsnormen als berechtigtes Anliegen der internationalen Gemeinschaft zurückzuweisen, um so die externe Einmischung abzulehnen. In der dritten Phase des Modells (Taktische Konzessionen) wird die Handlungsfähigkeit der repressiven Regierung zunehmend eingeschränkt, da es nun auch zu einer umfassenden nationalen Mobilisierung kommt. Der Regierung entgleitet zunehmend die Kontrolle über die nationale Situation und sie versucht den Handlungsspielraum durch argumentative Zugeständnisse nach innen und außen zu vergrößern. Zu Beginn der vierten Phase (Präskriptiver Status) wird ein Machtwechsel wahrscheinlich, oder aber die Regierung leitet einen grundsätzlichen Kurswechsel ein. Dies setzt jedoch noch nicht normgeleitetem Verhalten voraus, da Regierungen zwar die Gültigkeit von Normen de jure anerkennen können, aber dennoch weiterhin Menschenrechte de facto verletzten. Die fünfte Phase (Normgeleiteten Verhalten) und damit die Verwirklichung der Menschenrechte ist erreicht, wenn es zu einer Institutionalisierung rechtstaatlicher Verhältnisse kommt. Ein dauerhafter Wandel der Menschenrechtssituation erfordert daher eine Aufrechterhaltung der internationalen und nationalen Mobilisierung, sodass die Regierungen aufgrund des Drucks „von unten“ und „von oben“ weiterhin zur Einhaltung der Pflichten gedrängt werden.[4] Die Dynamik des Modells besteht somit darin, dass sowohl eine Aufwärts- als auch eine Abwärtsbewegung innerhalb der Spirale möglich ist. Somit setzt das Modell – sollten die Bedingungen für den Übergang von einer Phase zur anderen nicht gegeben sein – auch keine Fortschritte bei der Verwirklichung der Menschenrechte voraus.[5]

2. Frauenrechte in Tunesien

Grundlage des internationalen Frauenrechtsregimes ist das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), welches 1979 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet[6] und 1985 von Tunesien mit Vorbehalten gegenüber Kernbestimmungen ratifiziert wurde.[7] Das Übereinkommen formuliert in Artikel 2: „Die Vertragsstaaten verurteilen jede Form von Diskriminierung der Frau; sie kommen überein, mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen.“[8] Konkrete Maßnahmen, welche die Staaten ergreifen sollen, um dies zu erreichen, sind u.a. Gesetzes- und Schutzmechanismen, Sanktionen, Maßnahmen zum Schutz der Frau durch öffentliche Institutionen und nationale Gerichte.

Tunesien ist ein Staat, in dem Frauenrechte eine vergleichsweise lange Tradition haben. Artikel 6 der ehemaligen Verfassung garantierte die Gleichheit aller Bürger. Der Code du statut personnel von 1956 verbot Polygamie und Zwangsheirat und garantierte Frauen ein Scheidungsrecht.[9] Seit 1958 haben Frauen gleiche Rechte bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt und beim Wahlrecht – auch wenn sie bis heute noch keine landesweite Realität sind.[10] Denn Frauen waren bisher v.a. in den politischen Institutionen unterrepräsentiert: in der 45-köpfigen Regierung gab es lediglich vier weibliche Mitglieder.[11]Das Auswärtige Amt beschreibt den rechtlichen Status von Frauen in Tunesien als ambivalent: „Tunesien spielte seither diesbezüglich eine Vorreiterrolle in der arabischen Welt. Im islamisch geprägten Familienrecht bestanden jedoch Benachteiligungen der Frau bei Scheidung und Erbfall fort.“[12]

Aufgrund von negativen sozioökonomischen Umständen, bedingt durch eine Dürre, die zu landesweit steigenden Lebensmittelpreisen und Energiekosten führte, kam es im Herbst 2010 zu vereinzelten Unruhen in Tunesien. Grund hierfür waren mangelnden Zukunftsperspektiven gut ausgebildeter Jugendlicher, die Polizeigewalt, Repressalien und Schikanen. Begünstigt durch Internet und neue Medien entwickelte sich daraus ein Volksaufstand mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu einer Revolution, worauf das Ben Ali-Regime mit dem üblichen Einsatz der allgegenwärtigen Sicherheitskräfte reagierte. Dies bewirkte jedoch das Gegenteil und die sogenannte „Jasminrevolution“ fand mit der Flucht Ben Alis nach 23-jähriger Amtszeit am 14. Januar 2011 einen vorläufigen Abschluss. Letztlich war es die Opposition innerhalb des Sicherheitsapparates, die den Präsidenten zur Flucht zwang. Ohne die Ereignisse in Tunesien hätte der Arabische Frühling in anderen nordafrikanischen Ländern wohl kaum stattgefunden.[13] Auch Frauen haben massiv an den Protesten teilgenommen und die Übergangszeit brachte ihnen einige Siege: Das Übergangsparlament sicherte eine strikte Fünfzigprozentquote für die Wahllisten[14] und die Rücknahme von Vorbehalten zu CEDAW wurde angekündigt. Jedoch sind die revolutionären Bestimmungen momentan durch das Erstarken islamitischer Kräfte gefährdet, symbolisiert durch die stärkste politische Kraft des nachrevolutionären Tunesiens, das Mouvement Ennahdha. Frauen stellen 27% der Verfassunggebenden Versammlung, die im Oktober 2011 gewählt wurde – was sogar weniger ist als zu Zeiten Ben Alis (27,6 %).[15] Lediglich drei der Mitglieder der 41-köpfigen Regierung, die durch die islamitische Ennahda geführt wird, sind Frauen.[16]Wurde die Rolle der Frauen im Arabischen Frühling vielleicht doch überbewertet? Der Arabische Frühling hat zwar die klare Botschaft gesendet, dass arabische Frauen nicht weiter am Rand stehen. Doch der Veränderungsprozess ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen: Nun müssten Frauen sich durchsetzen, damit islamistische Gruppierungen, die bestimmte Frauenrechte bereits in Frage stellen, die positiven Entwicklungen nicht wieder zurückdrehen. Für die tunesischen Frauen geht es derzeit daher vor allem um die Frage, ob die künftige Verfassung Bezug auf islamische Werte oder die Sharia nehmen wird und ob damit Frauenrechte unter Vorbehalt gestellt werden. Im August 2012 demonstrierten etwa 6.000 Menschen in der tunesischen Hauptstadt Tunis für die Rechte der Frauen. Sie lehnten die Formulierung der regierenden Ennahda-Partei im Verfassungsentwurf ab, in der es heißt, „Frauen und Männer ergänzten einander“, da diese die Gleichberechtigung der Geschlechter aufheben könnte.[17]Die neue Verfassung des Landes sollte ursprünglich im Oktober 2012 verabschiedet werden, als “realistisches Datum” wurde nun aber Ende April 2013 genannt.[18]

Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass Repression (Phase 1) im Bezug auf Frauenrechte unter dem ehemaligen diktatorischen, aber säkularen Regime im Sinne von systematischer Unterdrückung nicht, oder nur in einem begrenzten Maße stattgefunden hat, da Frauen in Tunesien insgesamt mehr Rechte genossen als in anderen arabischen Staaten. Zu taktischen Konzessionen ist es noch vor dem Machtwechsel unter Bougiba in Phase 2 gekommen, da Tunesien die Frauenrechtskonvention ratifiziert hat – wenn auch mit Einschränkungen. Nach dem Machtwechsel 1987 wäre somit ein Übergang zu Phase 4 zu erwarten gewesen, jedoch lässt sich auch in Bezug auf das Frauenrechtsregime nicht eindeutig sagen, ob diese Phase erreicht wurde oder nicht: Menschenrechtsnormen wurden zwar teilweise in die nationale Gesetzgebung inkorporiert, doch lässt sich noch unter dem Regime Ben-Alis eine eher mangelnde Normachtung feststellen. Infolge des Arabischen Frühlings wird ein Rückschritt in Phase 3 des Modells deutlich. Die Einschätzungen der UN- Menschenrechtskommissarin Navi Pillay spiegelt diesen Rückschritt anschaulich wider. So bezeichnete sie im Juli 2011 während ihrer Eröffnungsrede in Tunesien zum ersten Länderbüro des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte in Nordafrika die Beteiligung von Frauen am Wahlprozess als „ermutigend“.[29] Im September 2012 dagegen äußerte sie sich besorgt über die rechtlichte als auch tatsächliche Diskriminierung von Frauen in Tunesien und forderte die Regierung dazu auf, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Errungenschaften des Landes bezüglich der Gleichheit, Nichtdiskriminierung und Frauenrechte zu sichern.“[20]Da es jedoch einen starke innerstaatliche Oppositionsgruppe sowie fortgesetzten Druck der Weltgesellschaft nach dem Machtwechsel gibt, besteht die Hoffnung einer Verbesserung, sofern das transnationale Netzwerk sich nicht noch einmal von der widersprüchlichen Politik Tunesiens täuschen lässt. Liesl Gerntholtz, Leiterin der Abteilung für Frauenrechte bei Human Rights Watch, äußerte im Juli 2012 diesbezüglich „In Tunesien gibt es traditionell eine starke Frauenbewegung, und noch mehr Gruppen werden jetzt gegründet.“[21]

Isabel Daum

 

Literatur

Armstrong, J. D., Farrell, Theo and Hélène Lambert 2007. International Law and International Relations. Cambridge: Cambridge University Press.

Gränzer, Sieglinde, Jetschke, Anja, Risse, Thomas and Schmitz, Hans Peter 1998. Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5, 1.

Liese, Andrea 2006. Staaten am Pranger – Zur Wirkung internationaler Regime auf innerstaatliche Menschenrechtspolitik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Loetzer, Klaus D. 2011. Länderberichte – Tunesien vor den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Risse, Thomas. 2002. Die Macht der Menschenrechte: Internationale Normen Kommunikatives Handeln Und Politischer Wandel in Den Ländern Des Südens, Baden-Baden: Nomos.


[1] Armstrong, J. D., Farrell, Theo and Hélène Lambert 2007. International Law and International Relations. Cambridge: Cambridge University Press, p. 170

[2] Risse, Thomas. 2002. Die Macht der Menschenrechte: Internationale Normen Kommunikatives Handeln Und Politischer Wandel in Den Ländern Des Südens, Baden-Baden: Nomos, p. 44 ff.

[3] Gränzer, Sieglinde, Jetschke, Anja, Risse, Thomas and Schmitz, Hans Peter 1998. Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5, 1; p. 15

[4] Ibid., p. 17

[5] Liese, Andrea 2006. Staaten am Pranger – Zur Wirkung internationaler Regime auf innerstaatliche Menschenrechtspolitik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, p. 53

[7] FIDH: Arab Women Spring. Tunisia, 2012, URL: http://arabwomenspring.fidh.net/index.php?title=Tunisia

[9] Zeit Online: Tunesische Frauen erklären Schröder die Quote (08.03.2012), URL: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-03/schroeder-frauentag/seite-1

[10] Loetzer, Klaus D. 2011. Länderberichte – Tunesien vor den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., p. 2

[11] FIDH: Arab Women Spring. Tunisia, 2012

[12] URL: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tunesien/Innenpolitik_node.html

[14] AG Friedensforschung: Tunesien. “Frauen gleich Männer” – wie lange noch?, 2012

[15] FIDH: Arab Women Spring. Tunisia, 2012

[16] Ebd.

[17] Zeit Online: Tausende demonstrieren in Tunesien für Frauenrechte ( 14.08.2012), URL: http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-08/tunesien-frauenrechte-verfassung

[18] Ebd.

[19] Statement by UN High Commissioner for Human Rights Navi Pillay to mark the opening of the UN Human Rights Office in Tunisia (14.7.2011), URL: http://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=11239

[20] Opening Statement by Ms. Navi Pillay, United Nations High Commissioner for Human Rights to the Human Rights Council 21st Session (10.9.2012), URL: http://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=12486&LangID=e

[21] Human Rights Watch: „Frauen sind noch verwundbarer“ (14.07.2012), URL: http://www.hrw.org/de/news/2012/07/04/frauen-sind-noch-verwundbarer