Die nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon – effektive Hüter der Subsidiarität?

Die nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon – effektive Hüter der Subsidiarität?

Durch den Vertrag von Lissabon finden sich erstmals detaillierte Regelungen zur Einbeziehung der nationalen Parlamente im Primärrecht. Ob sich das Frühwarnsystem der nationalen Parlamente hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes als scharfes oder stumpfes Schwert erweisen und ob dadurch die versprochene Bürgernähe und Stärkung der demokratischen Legitimation umgesetzt wird, soll im Folgenden untersucht werden. Dabei soll der Schwerpunkt auf der europarechtlichen Ausgestaltung der neuen Befugnisse liegen. Um diese realistisch bewerten zu können, wird anschließend kurz auf die unterschiedliche Umsetzung in Deutschland, Dänemark, Österreich und Frankreich eingegangen.

Im Europarecht dient das Subsidiaritätsprinzip als dynamischer Grundsatz dazu, die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU sachlich zu begrenzen. Da vor dem Vertrag von Lissabon allein Unionsorgane für die Einhaltung der Subsidiarität verantwortlich waren und diese – allen voran der EuGH – nicht dazu beigetragen haben, diesem Grundsatz eine wirksame Kontur zu verleihen, entstand bei der Ausarbeitung des Verfassungsvertrags die Idee, zur Vermeidung des Dilemmas der Autointerpretation eine zusätzliche Kammer des EuGH zu schaffen. Eine solche zusätzliche Institution hätte jedoch zu einem Kompetenzverlust des EuGH geführt und das Rechtssetzungsverfahren enorm verlangsamt, sodass dieser Vorschlag letztlich verworfen wurde und nun die nationalen Parlamente über die Einhaltung der Subsidiarität wachen sollen.

Angesichts der Tatsache, dass die im Vertrag von Lissabon neu erlassene Brückenklausel aus Art. 48 Abs. 7 AEUV ein Abweichen vom Einstimmigkeitsprinzip im Rat ermöglicht und die Integration auf besonders staatsprägende Bereiche ausgeweitet wurde, ist die Subsidiaritätskontrolle nach Art. 12 i. V. m. 5 EUV von besonderer Bedeutung. Dies gilt insbesondere, da man sich auch im Vertrag von Lissabon auf keinen abschließenden Kompetenzkatalog einigen konnte. Das Verfahren der Subsidiaritätskontrolle ist im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Prot 2) geregelt und gliedert sich in die Subsidiaritätsklage als juristisches Ex-post-Instrument (Art. 8 Prot 2) und eine politische Ex-ante-Kontrolle im Rahmen des Frühwarnsystems (Art. 6 ff. Prot 2), welche im Folgenden näher untersucht werden soll.

1. Das Frühwarnsystem

a) Funktionsweise des Frühwarnsystems

Durch das Frühwarnsystem sollen die nationalen Parlamente bei der Erarbeitung von Entwürfen für europäische Gesetzgebungsakte von Anfang an einbezogen werden. Sobald ein Gesetzesvorschlag in alle Amtssprachen der Europäischen Union übersetzt und an die nationalen Parlamente übermittelt worden ist (Art. 4 Prot 2), bleibt letzteren eine Zeitspanne von acht Wochen, um in einer an die Präsidenten des Europäischen Parlamentes, des Rates und der Kommission gerichteten Stellungnahme – einer so genannten Subsidiaritätsrüge – Bedenken vorzubringen (Art. 6 S. 1 Prot 2). Hierbei kommen jedem nationalen Parlament zwei Stimmen zu (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 Prot 2), die bei einem Zweikammersystem auf die einzelnen Kammern verteilt werden; so haben z. B. in Deutschland Bundestag und Bundesrat je eine Stimme.

Die Rechtsfolgen der Subsidiaritätsrügen hängen von der Anzahl der sich beteiligenden Parlamente ab. Grundsätzlich berücksichtigen die Unionsorgane jede begründete Stellungnahme der Parlamente (Art. 7 Abs. 1 Prot 2); werden von mindestens einem Drittel der Gesamtzahl der Stimmen Bedenken gegen einen Gesetzesvorschlag vorgebracht, muss das jeweilige Unionsorgan diesen gemäß Art. 7 Abs. 2 S. 1 Prot 2 erneut überprüfen. Wird die einfache Mehrheit der Stimmen erreicht und beschließt die Kommission nach der Überprüfung an dem ursprünglichen Vorschlag festzuhalten, werden die Stellungnahmen der nationalen Parlamente und der Kommission im Wege des „Rote-Karte-Verfahrens“ an das Europäische Parlament und den Rat weitergeleitet. Sollte daraufhin eines dieser beiden Organe mehrheitlich gegen den Gesetzgebungsvorschlag stimmen, so wird dieser nicht weiter verfolgt (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 lit. b Prot 2).

b) Bewertung der Effizienz des Frühwarnsystems

Positiv ist bei der Konzeption der Subsidiaritätsrüge der Ansatz der frühzeitigen Einbeziehung der nationalen Parlamente zu bewerten. Dies birgt jedoch auch die Gefahr, dass die Rügemöglichkeit für nationale innenpolitische Streitigkeiten funktionalisiert wird und somit Aufmerksamkeit von Seiten der Unionsorgane einbüßt. Die Art und Weise, in welcher die Unionsorgane ihre Aufgabe der „Berücksichtigung“ (Art. 7 Abs. 1 Prot 2) auslegen werden, wird – in Anbetracht der Tatsache, dass die hohen Quoren von Art. 7 Abs. 2 und 3 Prot 2 seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch unerreicht gebliebenen sind – zunächst maßgeblich darüber entscheiden, ob sich das Frühwarnsystem zu einem in der Praxis effektiven oder eher symbolischen Instrument entwickeln wird. Weiterhin wird der Erfolg des Frühwarnsystems davon abhängen, in wieweit die Parlamente ihre Kommunikation und Kooperation verbessern. Die derzeitige Überforderung der nationalen Parlamente mit dem damit verbundenen Koordinationsaufwand wird an folgenden zwei Beispielen deutlich: Zum einen hatten im Herbst 2010 der Deutsche Bundestag und Bundesrat gemeinsam mit Schweden und Dänemark bezüglich des Änderungsvorschlages zur Richtlinie über Einlagensicherungssysteme Subsidiaritätsrügen eingereicht. Diese blieben jedoch mangels Beteiligung anderer Parlamente folgenlos. Zum anderen wurde ohne deutsche Beteiligung gegen den Vorschlag einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage bis zum Fristende am 18. Mai 2011 mit siebzehn Stimmen Subsidiaritätsrüge erhoben. Ein zielgerichteteres Vorgehen wäre insofern wünschenswert gewesen, als mit einer Stimme mehr das für Art. 7 Abs. 2 Prot 2 erforderliche Rügequorum erreicht gewesen wäre.

Neben der Befürchtung einer Überforderung der Parlamente ergeben sich insofern Zweifel hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Relation des Frühwarnsystems, als die Unionsorgane – auch wenn das erforderlichen Rügequorum einmal erreicht sein sollte –an dem Gesetzesvorschlag festhalten können (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 2 Prot 2). Zwar könnte man anführen dass das Rote-Karte-Verfahren eine klare und weitreichende Rechtsfolge in Aussicht stelle. Die Tatsache, dass sich zur endgültigen Ablehnung eine Mehrheit in Rat oder Europäischem Parlament finden muss (Art. 7 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 lit. b Prot 2), zeigt jedoch, dass es sich eher um eine symbolische Konstruktion handelt, da die Mehrheit des Europäischen Parlamentes grundsätzlich auch ohne vorher eingereichte Subsidiaritätsrüge einen Rechtsetzungsvorschlag (beispielsweise durch Art. 294 Abs. 7 lit. b AEUV) ablehnen kann.

2. Umsetzung des Frühwarnsystems in verschiedenen Mitgliedstaaten

Die Umsetzung der neuen parlamentarischen Rechte hat zu Reformen in vielen Mitgliedstaaten geführt, die deutsche Verfassungsänderung blieb jedoch eine Ausnahme. Die innerparlamentarische Umsetzung der neuen Mitwirkungsrechte unterscheidet sich insbesondere hinsichtlich der Rechte, die dem jeweiligen Europaausschuss übertragen worden sind. Zu unterscheiden sind drei verschiedene Systeme: Am weitreichendsten sind die Rechte des Europaausschusses im dänischen Folketing sowie dem österreichischen Nationalrat und Bundesrat, wo die vom Europaausschuss gegenüber der Regierung abgegebenen Stellungnahmen Bindungswirkungen für den nationalen Vertreter im Rat haben.[1] Ferner werden Stellungnahmen hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips immer direkt vom Europaausschuss beschlossen und ausgefertigt.[2]

Weit weniger weitreichend ist die Stellung des Europaausschusses in Frankreich[3] und im Deutschen Bundestag. Gemäß des deutschen § 93 c GO-BT i. V. m. § 9 IntVG müssen Subsidiaritätsrügen grundsätzlich im Plenum des Bundestages angenommen werden, im französischen Assemblé Nationale und dem Sénat zumindest durch den jeweiligen Fachausschuss.

Insbesondere weil der deutsche Bundestag hinsichtlich der Erhebung von Subsidiaritätsrügen im europäischen Vergleich eher durch Zurückhaltung aufgefallen ist, wird das Erfordernis eines langwierigen Plenarbeschlusses kritisiert. Auch wenn dieser den Vorteil größerer demokratischer Legitimation beinhaltet, sprechen die positiven Erfahrungen im dänischen Folketing dafür, dass es der Effizienzsteigerung dienen könnte, dem Europaausschuss des Bundestages als Expertengremium verstärkt Rechte zu übertragen.[4]

3. Fazit und Ausblick

Wie kann ein Großteil eines ganzen Kontinentes bürgernah regiert werden, ohne seine Funktionsfähigkeit einzubüßen? Eine wirksame Kontrolle der Subsidiarität gilt es mit dem Erfordernis der Effizienz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu vereinen.

Derzeit erscheint ein Erfolg einer Subsidiaritätsklage aufgrund des vom EuGH den Unionsorganen zugestandenen weiten Ermessens noch äußerst unwahrscheinlich, was die Bedeutung des Frühwarnsystems verstärkt. Die eingebrachten Stellungnahmen werden in den allermeisten Fällen wohl auf die Rechtsfolge der „Berücksichtigung“ gemäß Art. 7 Abs. 1 Prot 2 hinauslaufen, weil die Parlamente derzeit noch sehr damit beschäftigt sind, den mit der Quorenregelung verbundenen Koordinationsaufwand zu bewältigen. Schaffen sie dies, so könnte sich das Frühwarnsystem langfristig als wertvoll erweisen.

Zur Zeit sind die juristisch messbaren Erfolge der neuen Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente insgesamt noch eher gering, die politischen jedoch nicht zu unterschätzen. So verhindert die bloße Möglichkeit der Mitwirkung schon, dass der „Schwarze Peter“ für missglückte Politikvorhaben in Brüssel gesucht und politische Verantwortung abgeschoben werden kann, die Parlamente tragen die Integrationsverantwortung mit. Freilich ist aus juristischer Sicht mit einer rein politischen Europäisierung die demokratische Legitimation nicht hinreichend abgesichert. Die Anforderungen an eine europäische Demokratie unterscheiden sich jedoch stark von der eines Nationalstaates. Sollte sich die EU durch fortschreitende Integration der Staatlichkeit noch weiter annähern, wird eine Einbeziehung der dezentral organisierten nationalen Parlamente für eine wirkliche Repräsentation der europäischen Bürger nicht länger ausreichen – eine zweite Kammer des Europäischen Parlamentes erschiene erforderlich. Ob damit viel inhaltliche Kontrolle gewonnen wäre, erscheint aufgrund des altbekannten Dilemmas des Doppelmandats, gleichzeitig sowohl europäische als auch nationale Rechtssetzungsvorhaben vertieft verfolgen zu müssen, fraglich. Besser wäre wohl, wenn sich die Kooperation der nationalen Parlamente etablieren, eine subsidiaritätssensible Rechtsprechung des EuGH entwickeln und die gegebenen Kontrollinstrumente vom stumpfen zum scharfen Schwert wandeln würden.

Jelena Hawellek

Jelena Hawellek studiert Rechtswissenschaften in Hamburg.

Bildquellen: Eigene Darstellung (c) Jelena Hawellek

Bibliografie

Calliess, Christian, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon: ein Überblick über die Reformen unter Berücksichtigung ihrer Implikationen für das deutsche Recht, Tübingen 2010.

Mellein, Christine, Subsidiaritätskontrolle durch nationale Parlamente – Eine Untersuchung zur Rolle der mitgliedstaatlichen Parlamente in der Architektur Europas, Baden-Baden 2007.

Molsberger, Philipp, Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung, Berlin 2009.


[1] Ein ähnliches System gibt es in Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Schweden, Slowakei, Slowenien und Ungarn.

[2] Ähnlich ist das Verfahren in der italienischen Camera dei Deputati, wo nur in Ausnahmefällen eine Annahme durch das Plenum vorgesehen ist; http://www.camera.it/593?conoscerelacamera=236.

[3] Siehe Art. 151-1, Réglement de l’Assemblée Nationale, einzusehen unter: http://www.assnat.qc.ca/fr/abc-assemblee/fondements-procedure-parlementaire/reglement-assemblee.html.

[4] Dies wäre in Deutschland aufgrund des neu erlassenen Art. 45 S. 2 GG möglich.