Die Welt ohne Kernwaffen – eine Utopie?

Die Welt ohne Kernwaffen – eine Utopie?

Mit dem Aufbau enormer Atomwaffenbestände haben sich Russland und die USA im 20. Jahrhundert zu militärischen Großmächten entwickelt. Doch die globale Gewichtung hat sich verändert. Mittlerweile gibt es neun offizielle und inoffizielle Atomstaaten, die Kernwaffen und geeignete Trägersysteme wie Interkontinentalraketen und U-Boote besitzen. Der Weg zu einer Welt ohne Nuklearwaffen scheint angesichts immer  neuer Aufrüstungsbestrebungen steiniger denn je.

Mit rund 20.500 Sprengköpfen hat sich die weltweite Stückzahl an Atomwaffen seit dem Zweiten Weltkrieg um mehr als die Hälfte reduziert. Gleichzeitig hat sich aber die Zahl jener Staaten, die diese Massenvernichtungswaffen herstellen, nahezu verdoppelt. Neben den fünf großen Atommächten Russland, USA, China, Frankreich und Großbritannien betreiben auch Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea   militärische Nuklearprogramme. „Das US-Verteidigungsministerium sieht mit Blick auf diese Aufrüstungsbestrebungen drei Problemregionen“, erklärt Michael Paul, Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Zum einen werfen die undurchschaubaren Vorgänge in Nordkorea viele Fragen auf, und zum anderen spitzt sich der indisch-pakistanische Konflikt immer wieder zu. Aktuell sehen wir sehr deutlich, wie sich das angespannte Verhältnis zwischen Iran und Israel weiter verschärft.“ 2002 hatte die Internationale Atomenergie-Organisation (IA EO) ein geheimes Programm im Iran sowie umfangreiche Beschaffungsaktivitäten aufgedeckt. Ein Untersuchungsbericht der IAEO vom Mai 2012 belegt, dass der Iran rund 6.250 Kilogramm angereichertes Uran besitzt. Um Uran anzureichern, müssen die Isotope des reinen Elements im Zentrifugalverfahren mittels ihrer Atommasse getrennt werden. Der Anreicherungsgrad richtet sich dann nach dem Anteil an Isotopen des Typs 235. Für den Bau einer Kernwaffe würde der Iran 1.700 Gramm Uran mit einem Anreicherungsgrad von 90 Prozent benötigen. Derzeit produziert das Land um bis zu 20 Prozent angereichertes Uran.

„Sollte der Iran in den kommenden Jahren ein eigenes Arsenal an Kernwaffen aufbauen, könnte dies vorhandene Hemmungen reduzieren, die eine Weiterverbreitung von Nuklearwaffen im Nahen und Mittleren Osten bislang verhindert haben. Es könnte ein Wettrüsten in der Region entstehen. So könnte sich Ägypten und Saudi Arabien Kernwaffen beschaffen“, so Paul. „Darüber hinaus würde der Bombenbau dem internationalen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) einen schweren Schlag versetzen.“ Anders als Indien, Pakistan und Israel ist der Iran einer von über 190 Staaten, die den NVV unterschrieben und ratifiziert haben. Damit verzichten die Regierungen auf atomare Rüstung und verpflichten sich der Abrüstung unter regelmäßiger Kontrolle durch die IAEO. Die USA und Russland haben zusätzlich verschiedene bilaterale Vereinbarungen getroffen. Zuletzt legten die beiden Länder im April 2010 eine Obergrenze an Sprengköpfen fest. Im Rahmen dieses New START Abkommens verpflichten sich beide Nationen ihren Bestand bis 2018 auf 1.550 Sprengköpfe und 800 Trägersysteme zu reduzieren. Während die USA nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Mengen schrittweise auf heute offiziell 8.500 Sprengköpfe eingrenzten, wovon rund 2.100 einsatzbereit sind, verfügt Russland aktuell über offiziell 10.000 Stück, darunter etwa 1.800 aktive. Die inaktiven Waffen dienen als Reserve oder sind zur Abrüstung vorgesehen.

Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri weist in seinem „Jahrbuch zur Rüstung und Abrüstung 2012“ darauf hin, dass die Stückzahlen der Staaten zwar abnehmen, aber die vom Nichtverbreitungsvertrag und vielen weltweiten Initiativen angestrebte Null-Lösung eher rhetorischer Wille sei. Vor allem die bereits initiierten oder geplanten, langfristigen Modernisierungsprogramme zeigen, dass nukleare Waffen immer noch eine harte Währung für internationalen Status und Macht seien. Das US-Energieministerium beispielsweise hat 2010 Gelder für die Modernisierung Hunderter frei fallender Fliegerbomben des Typs B61 beantragt. Nach Schätzungen unabhängiger Fachleute sind die Kosten dafür in den vergangenen Jahren auf sechs Milliarden US-Dollar gestiegen. Unter dem Begriff „Life Extension Program“ werden alternde Komponenten ausgetauscht, neue Sicherheitsvorrichtungen und Zünder eingebaut. Zwischen 160 und 200 Stück dieses Waffentyps haben die Vereinigten Staaten in Europa stationiert, darunter 20 am rheinland-pfälzischen Fliegerhorst Büchel.

Auch China, Großbritannien, Russland und Frankreich erneuern ihre Depots und versuchen Bewegung in veraltete Strukturen zu bringen, stoßen dabei aber oft auf personelle und materielle Probleme. So berichtete die britische Tageszeitung „The Telegraph“ Mitte August unter Berufung auf das britische Verteidigungsministerium, dass die britische Marine nicht genügend qualifizierte Kommandanten für die Besetzung seiner mit Trident-Raketen bestückten Angriffs- und Vanguard-Boote habe. Ein Grund dafür sei, dass die erfahrenen Offiziere immer häufiger vom zivilen Kernenergiesektor abgeworben werden.

Über die Aufrüstungsprojekte jener Länder, die nicht den NVV unterzeichnet haben, kann lediglich spekuliert werden. Rückschlüsse über die Größe ihrer Depots können oftmals nur mithilfe von Geheimdienstberichten oder aufgrund öffentlicher Aussagen von Verantwortlichen gezogen werden. Obwohl Israel bisher weder einen Kernwaffenbesitz bestätigt noch dementiert hat, soll der Nahost-Staat rund 80 Gefechtsköpfe besitzen. In Indien sind es 80 bis 100 und in Pakistan 90 bis 110. Das atomare Material Nordkoreas genügt für den Bau von acht Bomben. „Nordkorea hat nach südkoreanischen Schätzungen 2010 etwa 700 Millionen Dollar für Atom- und Raketentests ausgegeben“, so Paul. „Sorgen bereitet nicht nur die fortschreitende Nuklearisierung des Landes, sondern auch das Risiko, dass das Regime versuchen könnte, Rüstungsmaterial und Technologie an andere Regierungen oder sogar an terroristische Organisationen zu verkaufen.“ Auf dem zweiten Weltgipfel zur nuklearen Sicherheit in Südkorea im März 2012 resümierten daher die anwesenden 53 Staatsvertreter, dass der Nuklearterrorismus einer der schwierigsten Bedrohungen der internationalen Gemeinschaft sei. US-Präsident Barack Obama warnte damals, das Terroristen und kriminelle Banden überall auf der Welt Zugriff zu unzureichend geschütztem bombenfähigen Material hätten. Dies untermauert auch ein Bericht der internationalen Atomenergiebehörde (IA EA), der besagt, dass es zwischen 1993 und 2011 über 2.000 Berichte über Atomdiebstähle und illegalen Handel gab. Etwa 60 Prozent des Urans und Plutoniums wurde nicht mehr aufgespürt.

„Angesichts der wachsenden Zahl an Ländern, die Kernwaffen herstellen können, scheint für viele Staaten eine Führungsmacht USA an der Spitze erstrebenswerter als eine multipolare Weltordnung, in der China, Indien und Russland neue Machtpole bilden,“ resümiert Paul. „Bei den aktuellen Machtverhältnissen ist es unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft zu einer weltweiten atomaren Abrüstung kommt.“  Für den Projektleiter der Stiftung Wissenschaft und Politik lässt sich kein post-nuklearer Unschuldszustand herbeiführen. Schließlich bliebe auch bei vollständiger Vernichtung aller Arsenale das Wissen um die Beschaffenheit, die Konstruktion und die Wirkungsweise von Kernwaffen weiterhin bestehen.

Manuela Fuchs

Der Beirag erscheint ebenfalls in der Novemberausgabe unseres Kooperationspartners “Diplomatisches Magazin”.