Die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Energieaußenpolitik: Eine Betrachtung anhand des Erdgassektors

Die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Energieaußenpolitik: Eine Betrachtung anhand des Erdgassektors

Warum braucht die Europäische Union eine gemeinsame Energieaußenpolitik (EAP)? Welche sind die größten Hindernisse bei ihrer Entwicklung? Was müsste eine gemeinsame EAP leisten und gibt es bereits erste Ansatzpunkte? Ein Überblick:

1. Warum die EU eine gemeinsame EAP braucht

Die EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten, annähernd 500 Millionen Bürgern und  dem gemeinsamen Binnenmarkt stellt heute den größten und vielleicht dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt dar – um diese Stellung aufrecht zu erhalten bedarf es großer Mengen an Energie, die zu einem großen Teil aus fossilen Energieträgern gewonnen wird. Neben Erdöl und Kohle ist dies Erdgas, welches zu 24% zum Primärenergieverbrauch beiträgt und aufgrund der ehrgeizigen Klimaschutzbemühungen der EU zunehmend an Bedeutung gewinnt. Jedoch sind die Erdgasvorkommen in der EU begrenzt und die Fördermengen gehen seit Jahren zurück. Schon heute müssen 60% des Erdgases importiert werden, was besonders schwer ins Gewicht fällt, da sich der Erdgasmarkt vor allem für die Abnehmer durch ungünstige Abhängigkeitsstrukturen auszeichnet. So wird Erdgas bislang stark regional gehandelt, was hauptsächlich der statischen Pipelinestruktur geschuldet ist – über 80% des in die EU importierten Erdgases stammt aus nur drei Ländern: Russland, Algerien und Norwegen. Hinzu kommt, dass die Erdgasspeicherung kostspielig und kompliziert ist und eine rechtliche Verpflichtung zur Bevorratung nicht existiert, weshalb Lieferausfälle innereuropäisch nur schwer ausgeglichen werden können. Schließlich kann Erdgas im privaten Wärmesektor schlecht substituiert werden, was während des russisch-ukrainischen Gasstreits im Winter 2009 verheerende Auswirkungen in Teilen Osteuropas hatte

Als einzelne Akteure können sich die EU-Mitgliedstaaten diesen schwerwiegenden Dependenzen nur schlecht entziehen. Durch eine gemeinsame EAP und das „Sprechen mit einer Stimme“ würde sich jedoch das politische Verhandlungsgewicht der Mitgliedsstaaten in ihrer Summe bedeutend vergrößern. Eine verbesserte Versorgungssicherheit und die Reduzierung der Abhängigkeitsstrukturen wären nur zwei der möglichen positiven Folgen. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass die EU lediglich in der politischen Sphäre tätig werden und sich für eine günstige rechtliche Rahmensetzung einsetzen kann – die wirtschaftlichen und vertraglichen Akteure sind nach wie vor die europäischen Energieunternehmen.

2.  Haupthindernisse auf dem Weg zu einer europäischen EAP

Die massiven innereuropäischen Unterschiede in der Zusammensetzung des Energiemixes, also des Anteils der Primärenergieträger, sind eines der Haupthindernisse auf dem Weg zu einer europäischen EAP. Die daraus resultierenden Abhängigkeitsstrukturen und divergierenden Interessenlagen sind im Erdgassektor am gravierendsten.

Die folgenden Graphiken zeigen den prozentualen Anteil des Erdgases am Energiemix der jeweiligen EU-Abnehmerstaaten sowie den Anteil des importierten Erdgases aus den drei wichtigsten Produzentenländern Norwegen, Algerien und Russland am Gesamtimport (grün: 30% – 49%; gelb: 50% – 69%; orange: 70% – 89%; rot: 90% – 100%). Die Abhängigkeit eines Abnehmerstaates erhöht sich mit steigendem Erdgasanteil an seinem Energiemix sowie mit steigendem Anteil der Erdgaseinfuhren an den Gesamteinfuhren durch den jeweiligen Produzenten.

Neben diesen faktischen Unterschieden im Energiemix der EU-Staaten und den daraus resultierenden Abhängigkeiten spielt auch die öffentliche Wahrnehmung der Lieferländer eine erhebliche Rolle. Während weder Algerien noch Norwegen mit der Möglichkeit von politisch motivierten Lieferstopps von Erdgas assoziiert werden, wird Russland oft als unberechenbarer „Wackelkandidat“ mit harten politischen Ambitionen wahrgenommen – und das obwohl sich Russland in den letzten Jahrzehnten als solider Energiepartner gezeigt hat. Die Angst vor der „politischen Waffe“ Erdgas ist vor allem in Osteuropa ausgeprägt, da dort die noch aus Sowjetzeiten stammende Pipelineinfrastruktur sehr stark auf Russland ausgerichtet ist. Die unterschiedlichen Ausgangslagen der EU-Staaten werden somit zu einem nicht zu verachtenden Stolperstein auf dem Weg zu einer gemeinsamen EAP.

Erschwerend kommt hinzu, dass die EU primärrechtlich keine genuinen Gemeinschaftskompetenzen im Bereich einer gemeinsamen EAP besitzt. Das liegt daran, dass diese europarechtlich nicht der Energiepolitik zugeordnet würde, sondern ein untergeordnetes Feld der Außenpolitik wäre. Die EAP ist also dem supranationalen, sondern dem intergouvernementalen Modus zuzurechnen und wäre somit ein Politikfeld, in dem Einstimmigkeit der EU-Mitgliedsstaaten die Voraussetzung für gemeinsame Aktionen und Standpunkte wäre.

Ein weiteres gravierendes Hindernis stellt der unvollendete Energiebinnenmarkt dar, dessen Vollendung die Voraussetzung für eine wirksame Energieaußenpolitik ist. Auf Unionsebene tritt hier vor allem die Kommission als Befürworter auf. Ein vollendeter Binnenmarkt würde den freien Handel von Erdgas als normales Gut über nationale Grenzen hinweg ermöglichen. Energieunternehmen wären so in der Lage ihre Produkte auf einem gesamteuropäischen Markt mit harmonisiertem Rechtsrahmen anzubieten, was zu einer „Europäisierung“ ihres marktwirtschaftlichen Handelns führen würde. Ein Ergebnis dieses Prozesses wäre wohl, dass die EU gegenüber den Produzenten als Gesamtmarkt und nicht mehr als 27 fragmentierte Einzelmärkte auftreten könnte, was das politische Gewicht erhöhen würde.

Darüber hinaus müsste jedoch ein integrierter Energiebinnenmarkt durch zwei weitere, entscheidende Elemente ergänzt werden: durch eine ausreichende Risikovorsorge sowie einen solidarischen Krisenreaktionsmechanismus. Ausreichende Risikovorsorge meint dabei eine besser koordinierte Erdgasspeicherung, die temporäre Lieferausfälle ausgleichen kann. Der „Solidarische Krisenreaktionsmechanismus“ bezeichnet eine rechtliche Verpflichtung zur gegenseitigen Versorgung mit Erdgas bei Lieferausfällen – was bislang jedoch an der schlechten Interkonnektivität der Gasnetze scheitert. Wäre also das Ziel eines „solidarischen Energiebinnenmarktes“ erreicht, hätte dies deutlich positive Auswirkungen auf eine EAP. Durch die Angleichung der Interessen und des Rechtsrahmens wäre das häufig geforderte „Sprechen mit einer Stimme“ endlich möglich. Außerdem wäre im Krisenfall kein Mitgliedsstaat auf sich alleingestellt, da entweder die profitorientierten europäischen Energieunternehmen Ersatzlieferungen mobilisieren oder der Solidaritätsmechanismus greifen würde – dies würde einen politisch motivierten Lieferstopp für den Produzenten sehr unattraktiv machen. Darüber hinaus käme es zu wichtigen Diversifizierungseffekten, da durch den Wegfall der Handelsgrenzen Erdgas beispielsweise aus Afrika nach Estland und Erdgas aus Russland nach Portugal gelangen könnte.

3. Strategien und Ziele in der Energiepolitik

Das wohl zentralste Element einer europäischen EAP wäre die Gewährleistung der europäischen Versorgungssicherheit. Der „Instrumentemix“, der zur Erreichung der Versorgungssicherheit zur Verfügung steht, umfasst drei Elemente: erstens, die Absicherung von ausreichenden Liefermengen, zweitens, die Diversifizierung der Importe – beide gehen jedoch meist miteinander einher – sowie drittens, Verhandlungen im politisch-rechtlichen Rahmen und der Export von europäischen Governance-Strukturen. Es ist anzumerken, dass die ersten beiden Aspekte die Grundlinien jeder ‚staatlichen Energieaußenpolitik‘ sind – also auch die der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Im Fall einer wirksamen und konsistenten gemeinsamen Energieaußenpolitik müssten diese „Einzelstrategien“ jedoch zu Gunsten einer gemeinsamen Verhandlungsposition der Europäischen Union zusammengeführt werden. Gemeinsame Positionen sind – zumindest in Ansätzen – im dritten Feld, dem politisch-rechtlichen Rahmen, vorzufinden.

a & b) Absicherung und Diversifizierung der Importe

Zur Minderung der Abhängigkeit von den erdgasproduzierenden Staaten durch eine Absicherung ausreichender Liefermengen und durch Diversifizierung der Importe stehen wiederum drei wesentliche Möglichkeiten zur Verfügung. Zum ersten besteht die Möglichkeit der Diversifizierung der Herkunftsländer durch den Bau neuer Pipelines, die Gas aus bisher nicht verfügbaren Quellen liefern – diese befinden sich schwerpunktmäßig in Afrika und Zentralasien. Durch diese Art der Diversifizierung wird die Lieferkapazität und die Anzahl der Produktionsländern erhöht. Die Nabucco-Pipeline, als europäisches Prestigeprojekt mit hohem Symbolwert, stellt hierfür das wohl prominenteste Beispiel dar – sie ist derzeit das einzige Projekt, das explizit und öffentlich durch die Union unterstützt wird. Über eine neue Pipeline soll Gas vom Kaspischen Meer, z.B. aus Aserbaidschan, Irak, Iran, und Turkmenistan, über die Türkei und weitere Transitstaaten (Bulgarien, Rumänien, Ungarn) nach Österreich geliefert werden – die bewusste Umgehung Russlands ist dabei mehr als deutlich. Das Projekt leidet jedoch an gravierenden Startschwierigkeiten, da nach wie vor keine ausreichende Erdgaseinspeisung vertraglich gesichert werden konnte, was sich auch durch das starke Interesse Russlands für dieselben Reserven erklären lässt.

Zweitens besteht die Möglichkeit der Diversifizierung der Transportwege mithilfe von alternativen Routen für zusätzliches Gas aus Staaten mit denen bereits Lieferverträge bestehen. Das erhöht zwar die Lieferkapazität, die Anzahl der Produzenten bleibt aber konstant. Unter Umständen werden jedoch „unsichere“ Transitstaaten oder preissteigernde Transitgebühren umgangen. Dies ist vor allem bei dem russisch-deutschen Pipelineprojekt Nord Stream der Fall. Die bereits im Bau befindliche Pipeline verläuft vom russischen Vyborg unter der Ostsee nach Lubmin in Deutschland und umgeht dabei das Baltikum, die Ukraine und Polen und stößt dort aus diesem Grunde auf heftige Kritik. Ein weiteres prominentes Beispiel ist das South Stream-Projekt. Dabei handelt es sich um eine geplante Pipeline, bei der Erdgas aus Russland über den Grund des Schwarzen Meeres über Bulgarien nach Österreich und Italien geliefert werden soll. South Stream wird häufig als „russisches Gegenprojekt“ zu Nabucco bezeichnet. Dabei wird jedoch übersehen, dass das Projekt in Zusammenarbeit mit mehreren EU-Staaten realisiert wird. Aus russischer Perspektive ist vor allem die Umgehung der „unsicheren“ Ukraine und Weißrusslands ein Anreiz für den Bau der Pipeline.

Die dritte Möglichkeit ist der Ausbau der LNG-Infrastruktur (Liquid Natural Gas), bei dem zusätzliche Mengen gesichert, aber unter Umständen auch die Produzenten diversifiziert werden. Lange galt der LNG-Handel als unrentabel, da die temporäre Umwandlung von Erdgas in Flüssiggas lange als sehr kostspielig galt. Die stetig steigende globale Nachfrage nach LNG scheint jedoch zu belegen, dass die Vorteile mittlerweile überwiegen. Die hohe Flexibilität von LNG hat zur Folge dass keine fixe Pipelinestruktur benötigt wird, dass es somit von jedem beliebigen Produzenten bezogen und gespeichert werden kann und etwaige Transitstaaten wegfallen. Dennoch entfallen zurzeit lediglich 15% der europäischen Erdgaseinfuhr auf LNG. Bis 2030 gilt eine Vervierfachung des LNG-Anteils an den Einfuhren aber als möglich. Dies würde die europäischen Karten im „Spiel ums Gas“ völlig neu mischen.

c) Verhandlungen im politischen Bereich und Export von Governance-Strukturen

Obwohl die EU noch lange nicht ihr gesamtes Potential im Hinblick auf ihr politisches Gewicht ausgeschöpft hat, gibt es durchaus Erfolg versprechende Ansätze:

Ein prominentes Beispiel ist die Energiecharta, die 1991 zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den ehemaligen Sowjetrepubliken ausgehandelt wurde. Kernbereiche der Charta sind der Schutz von Auslandsinvestitionen und des Handels mit Energieprodukten, die Gewährleistung des Transits sowie die Lösung  von Streitigkeiten. Dass Russland die Energiecharta nach wie vor nicht ratifiziert hat, ist das entscheidende Defizit. Ein weiteres Beispiel für die energiepolitischen Aktivitäten der EU ist die Energiegemeinschaft, die 2006 zwischen den südosteuropäischen und den Staaten der EU gegründet wurde. Hierbei erkennen die Nicht-EU-Vertragsstaaten die energierelevanten Teile des acquis communautaire als rechtlich bindend an. Zurzeit laufen mit Norwegen, der Ukraine, der Türkei und Moldawien Beitrittsverhandlungen zur Energiegemeinschaft. Im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) strebt die EU eine verstärkte Zusammenarbeit mit den ENP-Partnern im Energiebereich an – wobei „Zusammenarbeit“ hier durchaus als „Übernahme“ der Rechtsstrukturen der EU verstanden werden kann. Ein weiteres wichtiges politisches Werkzeug sind die sogenannten Energiedialoge, die die EU mit den Lieferstaaten, aber auch mit Organisationen wie der OPEC führt. Ein erklärtes Ziel der EAP ist die Neuaufnahme solcher Energiedialoge mit China, Indien, USA und Brasilien. Der wohl bedeutendste dieser Energiedialoge findet zwischen der EU und Russland statt. Doch noch entscheidender als dieser, ist die  Neuaushandlung des 2007 ausgelaufenen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland. Dieses könnte unter anderem die Energiebeziehungen auf eine neue, rechtliche Basis stellen und damit den Energiehandel mit Russland noch sicherer machen und den oft irrationalen Ängste in den europäisch-russischen Beziehungen entgegenwirken.

David Schlutz

Bildquellen: eigene Grafiken (c) David Schlutz
Bibliographische Angaben:

Brummer, Klaus; Weiss, Stefani (2007): Europa im Wettlauf um Öl und Gas. Leitlinien einer europäischen Energieaußenpolitik. Gütersloh.

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Geden, Oliver; Fischer, Severin (2008): Die Energie – und Klimapolitik in der Europäischen Union. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Baden-Baden, S. 79 – 87.

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