In Deutschland kann das Fernsehen kein Russisch

In Deutschland kann das Fernsehen kein Russisch

Was wollen wir wissen über Sotschi, Kasan und Wolgograd? Was steht für uns an vorderster Stelle wenn wir uns mit RussInnen unterhalten und was ist eine Diktatur? Eine Diskurskritik von Alena Zelenskaja.

Es ist der erste Tag des neuen Jahres. Der im Fernseher eingebaute Wecker schaltet den Bildschirm an, und zwischen Wachen und Träumen höre ich die Wettervorhersage. Es scheint so, als ob BBC World sendet. Seitdem ich in Deutschland studiere, kann der Fernseher kein Russisch mehr. Die Moderatorin beschreibt detailliert das Wetter in Europa, dann in Afrika. Ich öffne meine Augen, um zu erfahren, wie das Wetter in Russland ist. In meiner Heimatstadt oder zumindest in Sankt Petersburg. Aber: Pech gehabt! Die Frau dreht den improvisierten Globus heftig um, an Russland vorbei, und erzählt jetzt über sonnige und regnerische Tage in Asien. Einverstanden! – denke ich mir. – Moskau reicht. Alle wissen sowieso, dass es in Russland immer kalt ist. Der klirrende russische Frost ist ein sehr standhafter Stereotyp. In Russland denkt man über Europa auch schablonenhaft, aber die Schablonen sind meistens positiv. Am Mittag desselben Tages berichtet die Deutsche Welle über Sportveranstaltungen des kommenden Jahres. In drei Worten, als müsste Sendezeit gespart werden, berichtet man von der Olympiade in Sotschi. Die Mitteilung, die in einen Satz verpackt wird, kennen eigentlich schon alle: „Die Winterolympiade findet vom-bis in Russland statt“. Damit es den Zuschauern nicht vor den Augen flimmert, wird die Nachricht von einem einzigen Bild, dem eines Schiläufers, begleitet. Die Fußballweltmeisterschaft scheint dem Sender wichtiger: ein Video und Kommentare von Experten und Organisatoren werden gezeigt.

Im Laufe des Tages werde ich dafür umso häufiger andere Kunde aus Russland hören und sehen – über den Terroranschlag in Wolgograd. Schon länger habe ich eine Gesetzmäßigkeit festgestellt: je schlimmer es Russland geht, desto länger sind die Sujets darüber. Meine deutschen Bekannten fragen nicht: „Wie wird es gelingen, die Winterolympiade im subtropischen Klima von Sotschi durchzuführen?“, sondern: „Wie viele Menschen sind beim Flugzeugabsturz bei Kasan tödlich verunglückt? Warum gibt es noch keine genaue Zahl?“. In diesen Momenten will ich mir einen bitteren Scherz erlauben und sagen, dass es in Russland nicht nur kalt ist, sondern dass die Russen auch nicht zählen können. Ich fürchte aber, dass man meinen Scherz für bare Münze nehmen würde. Dann fällt es mir schwer, ihre Sorge von ihrer Schadenfreude zu unterscheiden. Obwohl ich nach dem Kalten Krieg geboren wurde, begreife ich in diesen kleinen Momenten deutlich, dass ich noch in der Nachkriegskälte lebe.

Die Nachrichten in den Medien sind offenbar nur das Brennholz für ein Feuer, das seit Jahren brennt. Das ist das Feuer der unangenehmen Erinnerungen an die Sowjetunion, deren Nachfolger Russland geworden ist. Jedes Gespräch zwischen einem Russen und einem Europäer streift zwangsläufig den Namen Stalin, vergewaltigende Rotarmisten, Polen, das Baltikum und andere Verbrechen der Sowjetunion. Europäer erinnern sich absichtlich nur an diese Ereignisse und bedienen sich ihrer, um Parallelen zum gegenwärtigen Russland zu ziehen. Aufgrund des historischen Erbes der Sowjetunion wird Russland das Verfolgen nationaler Interessen – der Inbegriff der Außenpolitik jedes Staates – untersagt. Dabei sind solche Anspielungen auf Erinnerungen gefährlich. Auf diese Weise hatte die sowjetische Regierung die Legitimation, ohne Rücksicht auf die soziale Lage der Bürger immer weiter zu rüsten. Die Sowjetbürger wurden ständig daran erinnert, was der Überfall Hitlerdeutschlands angerichtet hat. Auch als die Welt sich nach dem Krieg schnell verändert hatte, haben die Sowjets dennoch weiterhin mit der Erinnerung an Angst und Schrecken leben müssen. Und jetzt, wo die Sowjetunion selbst nur noch eine Erinnerung ist, pflegen Menschen neue Ängste, aber jetzt schon in Europa. Und wer weiß, ob das alles ein Ende finden wird oder ob nicht bereits ein Teufelskreis entstanden ist?

In der Zwischenzeit gießen die Medien weiterhin Öl ins Feuer. Nun lese ich in angesehenen deutschen Printmedien von der russischen Diktatur und vom Staatsterror, der angeblich in meinem Land herrscht. In meinem Reisepass befindet sich aber ein Studenten- und kein Flüchtlingsvisum. Mein Leben in Berlin unterscheidet sich nicht wirklich von dem in Russland. Dabei ist der Begriff Diktatur für mich wirklich kein Fremdwort – das Dritte Reich, Stalins Sowjetunion und letztendlich auch die DDR fallen allesamt in diese Kategorie. Aber das heutige Russland kann man doch wirklich nicht in einem Atemzug mit diesen Regimen nennen… Soll es etwa einmal soweit kommen, dass man über die „Diktatur“ Russland kein gutes Wort mehr verlieren darf und als Extremist gilt, wenn man seine Sympathie zu diesem Land ausdrückt? Dürfte ich dann mein geliebtes Kopftuch aus Pavlo Posad nicht mehr tragen, weil es ein Symbol der russischen Diktatur wäre – wie es das FDJ-Hemd noch heute ist? Auf einer solchen Basis lässt sich keine Vertrauensbeziehung zwischen Europäern und Russen aufbauen.

Wenn man auf dieser Welle mitreitet, unterscheidet man nicht mehr, wo berechtige Kritik an der russischen Regierung aufhört und Russlandverachtung anfängt. Die Grenzen sind so fließend wie die zwischen der Kritik an Israels Politik und dem Antisemitismus. In manchen Ländern sind sogar ganze Identitäten und das gesamte Staatswesen auf Xenophobie gegen Russen ausgelegt. Und in so einer Atmosphäre sollen wir Jüngeren – die wir nach den Kriegen der Alten geboren wurden – uns kennenlernen und die alten Wunden der Eltern heilen?

Alena Zelenskaia
Alena Zelenskaia studierte Journalismus und Internationale Beziehungen und promoviert seit 2011 zum Thema “Gorbatschows Innen- und Außenpolitik” an der Sankt Petersburger Staatlichen Universität.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Beitragswettbewerbs zur Analyse der europäisch-russischen Beziehungskrise. Zu den >> [anderen Beiträgen im Regionalbereich].

Was wollen wir wissen über Sotschi, Kasan und Wolgograd? Was steht für uns an vorderster Stelle wenn wir uns mit RussInnen unterhalten und was ist eine Diktatur? Eine Diskurskritik von Alena Zelenskaja.

Es ist der erste Tag des neuen Jahres. Der im Fernseher eingebaute Wecker schaltet den Bildschirm an, und zwischen Wachen und Träumen höre ich die Wettervorhersage. Es scheint so, als ob BBC World sendet. Seitdem ich in Deutschland studiere, kann der Fernseher kein Russisch mehr. Die Moderatorin beschreibt detailliert das Wetter in Europa, dann in Afrika. Ich öffne meine Augen, um zu erfahren, wie das Wetter in Russland ist. In meiner Heimatstadt oder zumindest in Sankt Petersburg. Aber: Pech gehabt! Die Frau dreht den improvisierten Globus heftig um, an Russland vorbei, und erzählt jetzt über sonnige und regnerische Tage in Asien. Einverstanden! – denke ich mir. – Moskau reicht. Alle wissen sowieso, dass es in Russland immer kalt ist. Der klirrende russische Frost ist ein sehr standhafter Stereotyp. In Russland denkt man über Europa auch schablonenhaft, aber die Schablonen sind meistens positiv. Am Mittag desselben Tages berichtet die Deutsche Welle über Sportveranstaltungen des kommenden Jahres. In drei Worten, als müsste Sendezeit gespart werden, berichtet man von der Olympiade in Sotschi. Die Mitteilung, die in einen Satz verpackt wird, kennen eigentlich schon alle: „Die Winterolympiade findet vom-bis in Russland statt“. Damit es den Zuschauern nicht vor den Augen flimmert, wird die Nachricht von einem einzigen Bild, dem eines Schiläufers, begleitet. Die Fußballweltmeisterschaft scheint dem Sender wichtiger: ein Video und Kommentare von Experten und Organisatoren werden gezeigt.

Im Laufe des Tages werde ich dafür umso häufiger andere Kunde aus Russland hören und sehen – über den Terroranschlag in Wolgograd. Schon länger habe ich eine Gesetzmäßigkeit festgestellt: je schlimmer es Russland geht, desto länger sind die Sujets darüber. Meine deutschen Bekannten fragen nicht: „Wie wird es gelingen, die Winterolympiade im subtropischen Klima von Sotschi durchzuführen?“, sondern: „Wie viele Menschen sind beim Flugzeugabsturz bei Kasan tödlich verunglückt? Warum gibt es noch keine genaue Zahl?“. In diesen Momenten will ich mir einen bitteren Scherz erlauben und sagen, dass es in Russland nicht nur kalt ist, sondern dass die Russen auch nicht zählen können. Ich fürchte aber, dass man meinen Scherz für bare Münze nehmen würde. Dann fällt es mir schwer, ihre Sorge von ihrer Schadenfreude zu unterscheiden. Obwohl ich nach dem Kalten Krieg geboren wurde, begreife ich in diesen kleinen Momenten deutlich, dass ich noch in der Nachkriegskälte lebe.

Die Nachrichten in den Medien sind offenbar nur das Brennholz für ein Feuer, das seit Jahren brennt. Das ist das Feuer der unangenehmen Erinnerungen an die Sowjetunion, deren Nachfolger Russland geworden ist. Jedes Gespräch zwischen einem Russen und einem Europäer streift zwangsläufig den Namen Stalin, vergewaltigende Rotarmisten, Polen, das Baltikum und andere Verbrechen der Sowjetunion. Europäer erinnern sich absichtlich nur an diese Ereignisse und bedienen sich ihrer, um Parallelen zum gegenwärtigen Russland zu ziehen. Aufgrund des historischen Erbes der Sowjetunion wird Russland das Verfolgen nationaler Interessen – der Inbegriff der Außenpolitik jedes Staates – untersagt. Dabei sind solche Anspielungen auf Erinnerungen gefährlich. Auf diese Weise hatte die sowjetische Regierung die Legitimation, ohne Rücksicht auf die soziale Lage der Bürger immer weiter zu rüsten. Die Sowjetbürger wurden ständig daran erinnert, was der Überfall Hitlerdeutschlands angerichtet hat. Auch als die Welt sich nach dem Krieg schnell verändert hatte, haben die Sowjets dennoch weiterhin mit der Erinnerung an Angst und Schrecken leben müssen. Und jetzt, wo die Sowjetunion selbst nur noch eine Erinnerung ist, pflegen Menschen neue Ängste, aber jetzt schon in Europa. Und wer weiß, ob das alles ein Ende finden wird oder ob nicht bereits ein Teufelskreis entstanden ist?

In der Zwischenzeit gießen die Medien weiterhin Öl ins Feuer. Nun lese ich in angesehenen deutschen Printmedien von der russischen Diktatur und vom Staatsterror, der angeblich in meinem Land herrscht. In meinem Reisepass befindet sich aber ein Studenten- und kein Flüchtlingsvisum. Mein Leben in Berlin unterscheidet sich nicht wirklich von dem in Russland. Dabei ist der Begriff Diktatur für mich wirklich kein Fremdwort – das Dritte Reich, Stalins Sowjetunion und letztendlich auch die DDR fallen allesamt in diese Kategorie. Aber das heutige Russland kann man doch wirklich nicht in einem Atemzug mit diesen Regimen nennen… Soll es etwa einmal soweit kommen, dass man über die „Diktatur“ Russland kein gutes Wort mehr verlieren darf und als Extremist gilt, wenn man seine Sympathie zu diesem Land ausdrückt? Dürfte ich dann mein geliebtes Kopftuch aus Pavlo Posad nicht mehr tragen, weil es ein Symbol der russischen Diktatur wäre – wie es das FDJ-Hemd noch heute ist? Auf einer solchen Basis lässt sich keine Vertrauensbeziehung zwischen Europäern und Russen aufbauen.

Wenn man auf dieser Welle mitreitet, unterscheidet man nicht mehr, wo berechtige Kritik an der russischen Regierung aufhört und Russlandverachtung anfängt. Die Grenzen sind so fließend wie die zwischen der Kritik an Israels Politik und dem Antisemitismus. In manchen Ländern sind sogar ganze Identitäten und das gesamte Staatswesen auf Xenophobie gegen Russen ausgelegt. Und in so einer Atmosphäre sollen wir Jüngeren – die wir nach den Kriegen der Alten geboren wurden – uns kennenlernen und die alten Wunden der Eltern heilen?

Alena Zelenskaia
Alena Zelenskaia studierte Journalismus und Internationale Beziehungen und promoviert seit 2011 zum Thema “Gorbatschows Innen- und Außenpolitik” an der Sankt Petersburger Staatlichen Universität.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Beitragswettbewerbs zur Analyse der europäisch-russischen Beziehungskrise. Zu den >> [anderen Beiträgen im Regionalbereich].