Der ökonomische Richtungswechsel zwischen Lateinamerika und Europa

Der ökonomische Richtungswechsel zwischen Lateinamerika und Europa

Ein Treffen auf Augenhöhe sollte es werden und nach Ansicht vieler Teilnehmer einen Paradigmenwechsel in den inter-regionalen Beziehungen einleiten. Die Erwartungen an den im Januar 2013 in Santiago de Chile ausgerichteten 7. EU-Lateinamerikagipfel waren groß, da er auf Entwicklungen folgte, die die gegenseitige wirtschaftsstrategische Wahrnehmung der beiden Kontinente in den letzten Jahren stark verändert hat. Das Ergebnis: Eine Abkehr vom etablierten Fokus auf Entwicklungszusammenarbeit, hin zu Fragestellungen der Investitionssicherheit und offenen Märkte.

Lateinamerika erlebt spätestens seit der Explosion der weltweiten Rohstoffpreise in den frühen Jahren des letzten Jahrzehnts ein rasantes Wirtschaftswachstum (im Durchschnitt jährlich mehr als 4%), das auch durch die weltweite Finanz- und Schuldenkrise der Jahre 2007-2009 kaum gebremst wurde. Die zusätzlichen Einnahmen trugen überdies mehr als in vorhergehenden Dekaden zur Stärkung der Mittelschicht und sozialer Aufwärtsmobilität bei. Der Anteil der Armen an der Bevölkerung reduzierte sich von 44% im Jahr 2002 auf 29% im Jahr 2012.

Die hierdurch geförderte Kaufkraft der Bevölkerungen in der Region hat nicht nur europäische Investoren vermehrt angezogen. Zwar liegen Firmen aus EU-Mitgliedstaaten mit einem Gesamtvolumen an Auslandsdirektinvestitionen von 600 Milliarden US-Dollar an der Spitze, neben den USA hat sich aber besonders China als neuer Konkurrent etabliert. Das Land steigerte nach Angaben der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung seine Direktinvestitionen in der Region von gerade einmal 621 Millionen USD im Jahr 2001 auf knapp 44 Milliarden USD in 2010. Als sicher gilt, dass China die EU als zweitwichtigsten Handelspartner Lateinamerikas bereits innerhalb der nächsten zwei Jahre ablösen wird.

Dass die EU gerade zuletzt so deutlich auf diese strategischen Wandlungsprozesse reagiert, ist jedoch vor allem vor dem Hintergrund der Eurokrise zu verstehen. Mit dem Verweis auf die neuen Realitäten in den bi-regionalen Beziehungen und vermeintliche Einsparungszwänge auf europäischer Ebene wurden bereits 15 Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) aus den sozialen Förderprogrammen der EU gestrichen. Frei nach dem Motto „Europa muss sparen und Lateinamerika hat es offensichtlich nicht mehr nötig, um finanzielle Hilfen zu betteln.“

Freihandelsabkommen anstatt gezielter Entwicklungszusammenarbeit? So legitim dieser von Regierungen auf beiden Seiten des Atlantiks propagierte Ansatz zunächst erscheint, so sehr ignoriert er die tatsächlichen inneramerikanischen Entwicklungsdynamiken. Entgegen weitläufiger Annahmen wächst die Reichtumskluft zwischen Lateinamerika und Europa weiterhin. Viele lateinamerikanische Staaten haben noch immer keine nachhaltigen Politiken zur Reduktion von Armut, Ressourcenabhängigkeit sowie Einkommens- und Bildungsungleichheit entwickelt. Die wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten Chiles, Mexikos und Brasiliens verdecken die grundlegenden Probleme, denen sich der Großteil des Kontinents noch immer gegenübersieht.

In diesem Kontext sollte der EU daran gelegen sein, Investitions- und Freihandelsabkommen komplementär zu einer gezielten Entwicklungszusammenarbeit auszugestalten. Nur durch langfristige Kooperationen in Fragen des öffentlichen Verwaltungsaufbaus, Bildung und Forschung, sowie des Umweltschutzes und der Unterstützung von Kleinproduzenten können die Vorteile einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“ auf beiden Seiten des Atlantiks tatsächlich Geltung finden.

Lukas Keller

Regionalleiter Lateinamerika und Karibik bei IFAIR