Weniger ist mehr auf dem Weg nach Europa

Weniger ist mehr auf dem Weg nach Europa

Immer wieder stellt man fest, dass die Bürger Europas sich noch lange nicht als „Europäer“ fühlen. Doch damit das politische Bauwerk der Europäischen Union stabil ist und bleibt, bedarf es eines soliden emotionalen Fundaments. William von Ockham und Otto von Bismarck helfen uns zu unterscheiden, was lediglich „förderlich“ und was wirklich „notwendig“ ist.

1. Die Notwendigkeit von emotionaler Integration in Europa

„Entia non sunt multiplicanda sine necessitate“ ist eine gängige Formulierung des berühmten Rasiermessers von Wilhelm von Ockham und heißt zu Deutsch „Entitäten dürfen nicht ohne Notwendigkeit vermehrt werden“. Dieses Prinzip täte vielen aufgeblasenen Bürokratien wie auch der Brüssel‘schen gut, da es möglichste Einfachheit verlangt. Was nicht evident notwendig ist, ist nicht notwendig. Es mag banal klingen, aber für den europäischen Weg ist es dennoch eine Stütze, auf die man zu oft und zu sehr auf allen Niveaus der Politik verzichtet. Die emotionale Integration Europas ist offensichtlich notwendig, weil es schlussendlich doch die Völker Europas sind, die über Gedeih und Verderb entscheiden. Und wenn sie sich nicht mit der Europäischen Union identifizieren können, werden sie sie bei unangenehmen Entwicklungen fallen lassen. Um zusammenzuwachsen aber benötigt man Solidarität: mit den Mitmenschen, aber auch mit dem System, in dem man lebt. Daher muss dem Vorhaben, die Menschen zur Identifikation mit Europa zu bewegen, höchste Priorität eingeräumt werden, wenn man eine langfristige Strategie verfolgen will.

2. Bismarcks Konzept: Kultur, Armee und Steuer

Was ist nun das Notwendige, um die emotionale Integration zielführend auf den Weg zu bringen? Im Januar traf ich auf dem deutsch-französischen Jugendforum anlässlich der 50-Jahrfeier des Elysée-Vertrags in Berlin eine junge Französin, die in perfektem Deutsch sagte: „Bismarck hat gezeigt, dass man für eine Nation eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Armee und eine gemeinsame Steuer braucht.“ Dies ist die konsequente Umsetzung von Ockhams Devise, aus der man in der Tat eine simple Entscheidungsregel ziehen kann: Man möge sich ansehen, welche Maßnahmen vorgeschlagen werden und verwerfe alle, die nicht absolut nötig sind für die Identifikation mit Europa – ja mithin für das europäische Nationbuilding. Zur Prüfung muss man auch nicht immer das Rad neu erfinden, sondern kann sich einfach auf der politischen Landkarte umschauen: Beispielsweise haben alle Staaten dieser Welt eine einheitliche Währung, also liegt sehr nah, dass eine einheitliche Währung notwendig für die emotionale Integration ist.

Von einer europäischen Kultur ist das Europa der Nationalstaaten – so sagen Optimisten – soweit weg, wie es die Fürstentümer im Deutschen Reich von der deutschen Kultur waren. Es ist nur eine Frage der Perspektive, ob man den Fokus auf die einenden Punkte oder auf die Unterschiede legt. Dass die europäischen Subkulturen jedenfalls eine signifikante Schnittmenge haben, zeigt sich schon alleine an der generellen bisherigen Umsetzung des europäischen Einigungsprozesses.

3. Europäisches Finanzamt und Streitkräfte Europas?

Eine (direkte) europäische Steuer ist hingegen ein Gedanke, der bereits hie und da mal aufflackert. Würden die Menschen direkt von Europa an ihrem Allerheiligsten, dem Geld, getroffen, man würde sich weit mehr interessieren und partizipieren (wie in jedem föderalen System müssen nicht alle Steuern auf Europa übertragen werden, auch Bund, Länder und Kommunen können die Ihren als praktisches, subsidiäres Identifikationselement behalten). Weiterhin glaube ich, dass über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme in den pro-europäischen Eliten Einigkeit herrscht. Finanztransaktionssteuern treffen nicht das Gros der Bevölkerung, sondern werden eher als permanentes Bußgeld wahrgenommen denn als notwendige Maßnahme des Gemeinwohls.

Die zeitgenössische Auffassung für die gemeinsame Armee ist wohl darüber hinaus eine gemeinsame Außenpolitik. Allgemeine europäische Streitkräfte zu realisieren wäre hingegen schwierig in Punkten wie der Kommandosprache, allerdings wäre es in hohem Maße solidarisierend. Denn nichtsdestotrotz gibt es keinen Staat, keine Nation und keine Konföderation, welche sich dauerhaft separate und voneinander unabhängige Armeen leisten, die auch noch in verschiedene Richtung marschieren können. Ziel ist nicht, dass man europäische Gefallene in aller Welt zu beweinen hat. Ziel ist aber, dass – wenn man sie zu beweinen hat – dies deutsche, französische, polnische und irische Mütter gemeinsam tun. Eine gemeinsame Armee zeigt, dass man auch in der Realität und nicht nur in virtuellem Interbankenverkehr zusammensteht. Und das kommt emotional bei den Menschen an, wenn es denn präsent ist. Mit Eurokorps und multinationalen Brigaden ist ein erster Schritt getan.

4. Was förderlich ist, ist noch lange nicht notwendig 

Wir sollten also alle Maßnahmen in notwendig und förderlich einteilen. Während die einen existenziell notwendig für die Identifikation mit Europa und implizit für den Fortbestand der europäischen Union sind, sind die anderen allerhöchstens flankierend. In diese zweite Kategorie fällt zum Beispiel ein eigenes Staatsoberhaupt wie ein europäischer Präsident (als Beweis der Nicht-Notwendigkeit taugen viele Commonwealth-Staaten) oder eine einheitliche Sprache, denn auch hier gibt es genug Staaten wie Indien, der Schweiz oder Kanada, die darauf verzichten. Oder um es mit Umberto Eco zu sagen: „Europa hat das Potenzial, sowohl linguistisch als auch geistig polyglott zu sein.“ Die förderlichen Maßnahmen sind per se nicht schlecht, aber weniger einschneidend und insofern populärer, doch ihre Effekte verpuffen sehr schnell. Sie sollten daher keine Priorität haben, denn jeder einzelne Schritt, den man auf dem empfindlichen Glatteis der Staatenbildung – zu welcher die Konstruktion Europas in der Tat gehört – begeht, birgt die Gefahr nach hinten los zu gehen und die Stimmung gegen sich aufzuheizen. Weshalb daher unnötiges Risiko für nicht benötigte Gimmicks wie ein denkbares einheitliches Tempolimit auf Autobahnen oder viele andere Regulierungen eingehen?

5. Über den Rohbau noch nicht hinaus

Gesetzt nun, dass wir zu der Überzeugung gelangt sind, dass wir mehr Europa wollen – diese ist durchaus noch en vogue und wird wie ein Mantra in großen Teilen der europäischen Politik wiederholt – , so müssen wir fragen, wie das zu erreichen ist. Und die Politik muss sich fragen, wie man das Volk auf diesem Weg mitnehmen kann. Denn die Europäer (der Einfachheit halber reduziere ich den Begriff in der Tat auf die Bürger der Europäischen Union) mögen zwar das Fundament darstellen, aber können sich nur schwerlich selbst formen. Sie sind eine träge Masse, die mal hierhin mal dorthin tendiert, aber nicht von alleine durch die Speismaschine der Geschichte schleudert, um ein politisches Luftschloss zu bauen. Die Crux liegt darin, dass wir zwar den Willen, Europäer zu werden, artikulieren können (ich setze an dieser Stelle voraus, dass wir es wollen), aber ihn nicht selbstständig verwirklichen können. So groß die europäische Sagenwelt doch ist, zum Baron von Münchhausen werden wir nicht und können uns daher nicht selbst aus dem Sumpf ziehen. Es ist die Aufgabe der europäischen Politik, welche dafür gewaltige Instrumente besitzt, uns zu stimulieren, wirklich Europäer zu werden. Emotionale und politische Integration dürfen nicht weiter auseinanderklaffen.

Momentan drohen wir das Zeitfenster zu verpassen, in dem maßgebliche Schritte möglich sind, um die emotionale Integration zu erreichen und in dem die europäische Öffentlichkeit sich weitestgehend bereitwillig zum Europäerwerden begeistern lässt. Mit jedem Tag aber, an dem man sich an die Vorteile gewöhnt und dadurch nur noch die negativen Aspekte wahrnimmt, verblassen die mächtigen meinungsbildenden und pro-europäischen Instrumentarien. Deswegen darf keine Zeit mehr mit überflüssigen Ausschmückungen und Schnörkeleien verschwendet werden. Das Fundament des europäischen Hauses steht, das Richtfest ist gefeiert – aber Fenster und Türen setzen sich nicht von alleine ein, nur weil man gemütlich den Kamin angemacht, ein Klavier hineingetragen hat und immer wieder fröhlich Beethovens Neunte klimpert.

Elmar Stracke

Elmar studiert „Philosophy & Economics“ an der Universität Bayreuth.