Zur völkerrechtlichen Beurteilung grenznaher Kernkraftanlagen

Zur völkerrechtlichen Beurteilung grenznaher Kernkraftanlagen

1. Einleitung

In Folge des Erdbebens in Japan hat die politische Debatte über einen möglichst raschen Atomausstieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder erheblich an Brisanz gewonnen. Am 30. Mai entschied die Bundesregierung auf Grundlage der Empfehlung einer dafür eingeschalteten Ethikkommission, den Vorschlag eines Atomausstiegs bis 2022 in den Bundestag einzubringen.

Dabei bleibt ein anderes Thema unberücksichtigt: Die Rede ist von der kontrovers diskutierten Frage nach den rechtlichen, insbesondere den völkerrechtlichen Konsequenzen grenznaher Kernkraftwerke. Beispielsweise befindet sich im elsässischen Fessenheim das älteste Kernkraftwerk auf französischem Staatsgebiet, dessen Sicherheit, auch aufgrund seiner geographischen Lage im erdbebengefährdeten Oberrheingraben, häufig angezweifelt wird. Auch in anderen grenznahen Regionen befinden sich Atomkraftwerke, deren Havarie aufgrund der geographischen Nähe zur Bundesrepublik im bundesdeutschen Staatsgebiet verheerende Folgen für Menschen und Umwelt haben könnte (eine Übersicht bildet der Gefährundsatlas Deutschland der Deutschen Umwelstiftung).

Diskutiert wurde  bereits nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, ob Nachbarstaaten unter Umständen ein Mitentscheidungs- oder sogar ein Vetorecht gegen den Bau und Betrieb von grenznahen Atomkraftwerken besitzen sollten. Im Folgenden soll daher ein kurzer Überblick über die Antworten gegeben werden, die das Völkerrecht auf diese Frage gibt. Im Zentrum sollen zunächst Grund und Grenzen eines bilateralen Unversehrtheits- und Mitentscheidungsanspruchs von Nachbarstaaten stehen; im Anschluss sollen Inhalt und Durchsetzbarkeit eines solchen Anspruchs untersucht werden.

2. Rechtliche Grundlagen eines Mitentscheidungsanspruchs

Da ein Mitentscheidungsrecht bei Errichtung und Betriebs von Kernkraftanlagen nicht völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, kommen allgemeine Prinzipien des Völkerrechts zum Tragen.

Zu nennen ist zunächst der Grundsatz der territorialen Integrität; er resultiert aus dem Souveränitätsprinzip. Scheint der Rückgriff auf die Souveränität zunächst den Schutz des Staates zu bewirken, der eine grenznahe Anlage errichtet, so erweist sich diese Annahme schnell als Trugschluss: Die potentielle Beeinträchtigung durch grenznahe Kernkraftanlagen stellt nämlich einen massiven Eingriff in die Souveränitätsrechte des Nachbarstaates dar. Verdeutlicht wird dies gut am eingangs genannten Beispiel der Bundesrepublik: Zwar ist man sich einig, aufgrund der potentiellen Risiken der Atomkraft den Betrieb sämtlicher Anlagen im Bundesgebiet einzustellen; da unweit der Grenze allerdings auch nach 2022 Kernkraftwerke in Betrieb sein werden, besteht das Risiko der radioaktiven Kontamination in Folge einer Havarie und die Gefahr der ständigen Umweltbelastung durch Emissionen trotzdem fort. Dass der widerstreitende Grundsatz der territorialen Souveränität im Verhältnis zum Nachbarstaat und dessen territorialer Integrität nicht grenzenlos ist, sondern der Rücksicht auf den Nachbarn endet, befand erstmals die Trail Smelter Arbitration (1935 und 1941); ihr Präzedenzcharakter im Bereich des Emissionsschutzes ist ungebrochen. Das Schiedsgericht befand: „No State has the right to use or to permit the use of its territory in such a manner as to cause injury (…) in or to the territory of another or the properties or persons therein(…)“[1]. Dieser Grundsatz, das sog. Trail Smelter- Prinzip ist heute auch in Prinzip Nr. 21 der Deklarationen von Stockholm und Rio kodifiziert und wurde vom Internationalen Gerichshof mehrmals bestätigt (Erwähnung verdienen die Fälle Gabcicovo Nagimaros und der im April 2010 entschiedene Bleimühlenfall). Ser Grundsatz staatlicher Souveränität steht der Forderung nach einem Unversehrtheitsanspruch also nicht entgegen, sondern bestärkt ihn.

Allerdings setzt eine solche Präventionspflicht eine sehr hohe Schädigungsschwelle sowie eine klare Beweislage voraus: Der Trail Smelter Arbitration zufolge besteht eine Unterlassungspflicht nur dann, wenn „(…) the case is of serious consequence and the injury is established by clear and convincing evidence.“[2] Dass das Trail Smelter Prinzip nur vor übermäßgen und evidenten Belastungen schützt, ist völkergewohnheitsrechtlich anerkannt und wurde vom Internationalen Gerichshof in den oben erwähnten Fällen bestätigt. Das Prinzip Nr. 21 der Erklärungen von Stockholm und Rio sieht zwar keine solche Anwendungsschwelle vor, besitzt aber im Gegensatz zum Trail Smelter Prinzip keine rechtliche Verbindlichkeit, sondern hat den Charakter von Soft Law.

Bedeutet das für die Frage nach einem Anspruch auf Mitentscheidung beim Bau und der Wartung von grenznahen Kernkraftanlagen, dass ein Anspruch der Nachbarstaaten erst dann entsteht, wenn bereits Schäden aufgrund eines Kraftwerkunfalls eingetreten sind?

Um eine Antwort zu geben, müssen andere Grundsätze des Völkerrechts in Augenschein genommen werden, insbesondere das umwelt(völker)rechtliche Vorsorgeprinzip. Es zielt darauf ab, durch frühzeitiges und vorausschauendes Handeln mögliche Umweltbelastungen und -gefahren von vornherein auszuschließen oder zu minimieren. Daraus folgt, dass ein umweltschädigendes Verhalten zu unterlassen ist, wenn es denkbar oder wahrscheinlich ist, dass in Zukunft Schäden an der Umwelt entstehen.Wendet man das Vorsorgeprinzip auf den vorliegenden Fall an, muss in der Tat keine tatsächliche Schädigung eingetreten sein, damit ein Anspruch auf Unversehrtheit geltend gemacht werden kann.

Trotzdem ist aber ein spezifisches und grenzüberschreitendes Gefahrenmoment erforderlich, damit ein aus dem Trail Smelter- Prinzip resultierender Anspruch überhaupt begründet ist. Das resultiert bereits aus Gründen der Verfahrensökonomie, denn nicht jeder theoretisch gefährdete Staat kann gegen den Anlagestaat einen individuellen Anspruch auf Unversehrtheit haben.

Unproblematisch lässt sich ein solches Gefahrenmoment feststellen, wenn es beim Normalbetrieb eines Kernkraftwerks tatsächlich zur grenzüberschreitenden Emission radioaktiver Stoffe kommt; schwieriger gestaltet sich dagegen die Beurteilung des Stör- bzw. Unfallrisikos: Hier gilt, dass entweder das Risiko der Schädigung durch die Anlage erwiesenermaßen sehr hoch oder aber, bei geringem Schädigungsrisiko, die im unwahrscheinlichen Fall einer Havarie befürchtete Schädigung sehr schwer sein muss.

Zwar ist das Risiko einer Havarie von Kernkraftanlagen sehr gering, aber nicht ganz ausgeschlossen; der im Falle der Havarie zu erwartende Schaden ist indes immens, wie die jüngeren Ereignisse zeigen. Man kann also davon ausgehen, dass der Betrieb einer grenznahen Kernkraftanlage grundsätzlich auch einen aus dem Vorsorge- und Trail Smelter- Prinzip ableitbaren Anspruch des Nachbarstaates mit sich bringt. Letzterer steht allerdings unter der Voraussetzung der tatsächlichen Grenznähe des Kernkraftwerks, da sonst das vorgenannte, anspruchsbegründende Risiko nicht ausreichend hoch wäre. Was unter dem Begriff der Grenznähe zu verstehen ist, ist nicht ganz klar. Denkbar wäre es aber, sich an den in den vergangenen Kernkraftwerkunfällen eingerichtetetn Evakuierungszonen zu orientieren: Danach dürften Kraftwerke in einem Radius von bis zu 30 km zur Staatsgrenze dem hier vorgestellten Unversehrtheitsanspruch des Nachbarstaates unterfallen. Dabei hat der Grad der Entfernung auch Auswirkungen auf die Ausgestaltung des Unversehrtheitsanspruchs: je weiter das Kraftwerk von der Grenze entfernt ist, desto beschränkter sollten die Mitbestimmungsrechte des belasteten Staates sein.

Nachdem die Grundlagen eines (umwelt)völkerrechtlichen Anspruchs auf Unversehrtheit kurz dargestellt wurden, stellt sich nun die Frage nach seiner konkreten Ausgestaltung:

3. Inhalt und Durchsetzung des Mitentscheidungs- und Unversehrtheitsanspruchs

Zunächst soll auf die materiellrechtliche Ausgestaltung des Unversehrtheitsanspruchs eingegangen werden. Beinhalten dürfte dieser jedenfalls einen Anspruch auf Betriebssicherheit und Umweltverträglichkeit der Anlage, insbesondere auf die diskriminierungsfreie, das heisst unterschiedslose Anwendung emissionsrechtlicher Standards. Es ist nämlich nicht ersichtlich, warum für grenznahe Atomkraftwerke andere Standards gelten sollten als für solche, die im Kernland gelegen sind und so – im Zweifel- mehr Schaden anrichten können.

Auch dürfte im Unversehrtheitsanspruch ein positives Recht auf grenzüberschreitende Vorsorgemaßnahmen, also auf die Errichtung eines Informationssystems, im Sinne eines Warn- und Kommunikationsnetzs, enthalten sein, damit der Anlegerstaat im Störfall seiner Warnpflicht entsprechend nachkommen kann. Sollte Letzerer eintreten, dann hat der Nachbarstaat das Recht auf die übermittlung schadensbegrenzender Daten. Beides legt auch das Principle Nr. 5 der draft principles on the allocation of loss in the case of transboundary harm arising out of hazardous activities der International Law Commission (ILC) nahe. Neben einer Benachrichtigungspflicht (lit. a) sowie der Pflicht der Weitergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse und Daten zur Schadensbegrenzung (lit. b) fordert er ausserdem eine Kooperationspflicht (lit. c), die Pflicht zur weitesgehenden Schadensbegrenzung (lit. d) und die Pflicht zur Einschaltung internationaler Organisationen und anderer Staaten (lit. e) .

Welche Konsequenzen hat der Mitentscheidungs- und Unversehrtheitsanspruch aber, wenn es nicht oder noch nicht zu einem Störfall gekommen ist? Bejahen kann man jedenfalls eine allgemeine Informationspflicht des Anlegerstaates in bezug auf den Bau, den Betrieb und die Entsorgung kerntechnischer Anlagen. Damit korrespondiert ein Konsultationsanspruch des gefährdeten Staates gegen den Anlagestaat.

Auch ist der Eingriff in die territoriale Integrität des belasteten Staates so empfindlich, dass diesem keine allgemeine Duldungspflicht zugerechnet werden kann, er also aktiv tätig werden müsste, um den Betrieb grenznaher Anlagen zu verhindern. Der Bau und Betrieb von grenznahen Kernkraftwerken scheint daher nur dann völkerrechtlich zumutbar, wenn der Nachbarstaat sein Einverständnis gegeben hat.

Ein pauschales Vetorecht, in Zukunft grenznahe Atomkraftwerke zu betreiben, ist trotzdem abzulehnen. Dies resultiert bereits aus dem Grundsatz der einvernehmlichen Lösung von Souveränitätskonflikten, den der Internationale Gerichtshof und internationale Schiedsgerichte bestätigt haben (z.B. im Nordsee- Festlandsockelfall, dem Fisheries Jurisdiction- Fall sowie dem Lac Lanoux- Schiedsspruch). Befürwortet wird aber ein suspensives Vetorecht des gefährdeten Staates bei einer besonders hohen Gefährdungslage. Die Frage, wann diese vorliegen soll, ist allerdings nicht ganz klar und dürfte wohl von Fall zu Fall unterschiedlich beantwortet werden.

4.  Entschädigungspflichten des Anlegerstaates im Falle nuklearer Havarie

Was die Entschädigung des Nachbarstaates im Falle einer Havarie mit grenzüberschreitendem Ausmass angeht, so ist relativ unumstritten, dass im Bereich der umweltvölkerrechtlichen Risikovermeidung andere Parameter für die Staatenverantwortlichkeit gelten müssen, als für andere Bereiche des Völkerrechts. Davon zeugen auch die oben angesprochenen Richtlinien der ILC, die ausdrücklich die Staatenverantwortlichkeit für solche Fälle festlegen, in denen ein Staat zwar nicht völkerrechtswidrig handelt, aber sein Tun oder Unterlassen trotzdem grenzüberschreitende Beeinträchtigungen hervorruft. Auch in vielen nationalen Rechtsordnungen-vgl. mit Einschränkungen die §§ 25, 29 und 31 AtG- wird eine abstrakte Gefährdungshaftung der Betreiber von Kernkraftanlagen vorgesehen. Also gilt bereits die Inbetriebnahme eines Atomkraftwerks aufgrund seines hohen Gefährdungspotentials als haftungsbegründend. Bei einer tatsächlichen Umweltschädigung muss daher kein vorwerfbares Verhalten, also Vorsatz oder Fahrlässigkeit nachgewiesen werden. Sollte also der „worst case“ einer nuklearen Katastrophe in einem grenznahen Kraftwerk eintreten, so kann sich die Bundesrepublik jedenfalls eines völkerrechtlichen Entschädigungsanspruchs gegen den verursachenden Staat sicher sein, und zwar ohne Rücksicht auf die Tatsache, ob das betroffene Atomkraftwerk öffentlich oder privat betrieben wird – dennoch ein schwacher Trost.

Von Bettina Rentsch

Bibliographie

Bruno Simma/ Günter Handl Grenzüberschreitende Auswirkungen von Kernkraftanlagen und Völkerrecht; Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 39 (1988), S. 1-8


[1] Trail Smelter Case (United States of America v. Canada), 2. Entscheidung (1941), 3 RIAA, S. 1905 ff. (1965).

[2] Ibid.