Die Versöhnung von Hamas und Fatah – Chance oder Risiko?

Die Versöhnung von Hamas und Fatah – Chance oder Risiko?

Dass Aussöhnung nicht unbedingt ein Anlass zur Freude sein muss, wurde eindrucksvoll durch die weltweiten Reaktionen auf den Verhandlungserfolg von Fatah und Hamas bewiesen. Die Beilegung des Bruderkrieges war Anlass für gemischte Gefühle auf allen Seiten, die von Entsetzung auf Seiten der Israelis („Sieg für den Terror“, Netanjahu) reicht, über tendenzielle Ablehnung und verhaltene Hoffnung in Europa und den USA bis hin zu überschwänglicher Freude unter den Palästinensern, insbesondere im Gazastreifen. Was bedeutet die Versöhnung für die weiteren Entwicklungen im Nahen Osten und vor allem für den Friedensprozess? Und wie soll man in Zukunft mit der Hamas umgehen?  

Vorgeschichte: von der Muslimbruderschaft bis zum Bruderkrieg

Nach fünf Jahren der Trennung des palästinensischen Volkes kam die Unterzeichnung des Versöhnungsabkommens für viele überraschend. Als die Hamas aus den palästinensischen Wahlen 2006 als demokratischer Sieger hervorging, erkannten weder die Fatah noch die internationale Gemeinschaft das Ergebnis an. Es folgte der Versuch einer Einheitsregierung, deren Scheitern in einem blutigen innerpalästinensischen Machtkampf mündete. Die Hamas setzte sich im Gazastreifen durch und übernahm dort die Regierungsgewalt, während die Fatah das Westjordanland unter ihrer Herrschaft hatte.

Sowohl Fatah als auch Hamas finden ihre Wurzeln in der ägyptischen Muslimbruderschaft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Hasan al-Banna gegründet worden. Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 teilte sich der palästinensische Zweig der Muslimbrüder: Während die Mitglieder in der Westbank unter der jordanischen Besetzung nach dem Unabhängigkeitskrieg zunehmend apolitisch wurden, entwickelte sich die Bewegung in Gaza zunehmend in Richtung Widerstandskampf. In den ersten Jahren scheuten die Muslimbrüder dort den bewaffneten und militärischen Widerstand und konzentrierten sich auf soziale und Bildungseinrichtungen. Sie stießen damit in eine Lücke vor, die normalerweise unter staatliche Fürsorge fällt: sie bauten Schulen, Krankenhäuser und Moscheen und kümmerten sich um die Belange der Zivilbevölkerung. Nach der israelischen Besetzung des Gazastreifens 1957 kristallisierten sich zwei Strategien heraus, mit der Situation umzugehen: Einige Muslimbrüder bildeten eine militärische Zelle und sprachen sich für den bewaffneten Widerstand aus. Die Führung der Muslimbruderschaft lehnte dies ab: Die Geburtsstunde der Fatah um Yassir Arafat war gekommen, die als dominante Fraktion innerhalb der Palestinian Liberation Organisation (PLO) vom Libanon aus operierte. Mit den Jahren jedoch zeigten sich Arafat und seine Leute zusehends kompromissbereiter, was nicht bei allen Palästinensern gern gesehen war. Die Unzufriedenheit fand mit der Iranischen Revolution 1979 ihren Höhepunkt. Die Palästinenser gingen auf die Straße und demonstrierten im Geiste der Revolution gegen die PLO, gegen die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit und für ein Islamisches Gesellschaftsmodell.

Aus diesem Protest formierte sich eine neue politische Elite: Teile der Muslimbruderschaft verstanden die Zeichen der Zeit und begannen, mit ihren Einrichtungen immer mehr Leute für sich zu aktivieren. Allerdings setzte die alte Führung nach wie vor auf soziale Arbeit. Der Unmut innerhalb der Muslimbruderschaft wuchs: Die Israelis hatten die Besatzung verschärft und einigen erschienen die verhaltenen Reaktionen der Brüder nicht mehr angemessen. So kam es, dass ein Teil der Muslimbrüder den Islamischen Jihad gründete. Doch auch innerhalb der Bruderschaft wurde unter Sheikh Ahmad Yasin ein neuer Kurs eingeschlagen:  In den 80ern begann die Organisation den bewaffneten Widerstand. Mit der Ersten Intifada 1987 teilte sich die Hamas als eigenständige Organisation von den Muslimbrüdern  und setzte auf den militanten Widerstand gegen die Besatzung. Die Sympathie mit der neuen Bewegung wuchs zusehends, insbesondere mit dem einsetzenden Oslo-Prozess seit 1993, der bei den Palästinensern auf wenig Zustimmung stieß. Denn die Lage für die Zivilbevölkerung hatte sich eher verschlechtert als verbessert: Die Siedlungspolitik der Israelis wurde aggressiver und die Versprechen des Abkommens kaum umgesetzt. Zudem zeichnete sich die neu gegründete Palästinensische Autonomiebehörde (PA) durch ein hohes Maß an Korruption und Vetternwirtschaft aus. Das Oslo-Abkommen als Produkt der Geheimverhandlungen von Fatah und Yassir Arafat mit Israel hatte eigentlich ein erster Schritt in Richtung eines eigenständigen palästinensischen Staates sein sollen. Doch spätestens mit dem Ausbrechen der Zweiten sog. Al-Aqsa-Intifada war das Projekt Oslo gescheitert.

In diesem Lichte erscheint die Unterstützung der Hamas durch eine wachsende Anzahl an Palästinensern weniger durch die Zustimmung zu einer islamistischen Gesinnung motiviert. Schwerer wog die Enttäuschung über die Erfolglosigkeit der Fatah in der Aushandlung eines als fair angesehenen Interimsabkommens, auf das sich ein dauerhafter Friede hätte gründen können. Hinzu gesellte sich die schwierige Lage unter israelischer Besatzung, in der die Hamas sich der Bevölkerung als volksnaher und sozialer Akteur darstellte und sich um die einfachen Belange besser kümmerte als die weitgehend durch die PA. So kam es denn zu dem unliebsamen Wahlergebnis und der geographischen, aber auch  politischen Spaltung der Palästinenser. All diese Hintergründe sind wichtig, um zu verstehen, dass die Hamas auch aber nicht nur eine islamistische und gewalttätige Gruppierung ist. Sie hat das Potential, Teil des palästinensischen politischen Systems zu werden.

Hamas – Terrororganisation oder potenzieller Teil des politischen Systems?

Heute blicken wir auf Jahre des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen und der ständigen Unsicherheit für Israelis in Grenznähe zurück, auf der einen Seite jedoch auf eine unerträgliche humanitäre Lage im Gazastreifen. Die Gazablockade und der Gazakrieg 2008  taten ihr Übriges dazu. In diesem Lichte erscheint das Aussöhnungsabkommen als Chance: als eine Chance für die Wiedervereinigung der Palästinenser, als Chance für mehr Sicherheit für die Israelis, vor allem aber auch als notwendige Voraussetzung für den Frieden. Die Möglichkeit ist eröffnet, überhaupt erst über die Koexistenz zweier unabhängiger Staaten zu sprechen – und zwar unter Beteiligung aller Palästinenser. Denn ein Friede und eine Zweistaatenlösung, die die Bewohner des Gazastreifens außen vor ließen, wären weder von Dauer noch für eine der Seiten wünschenswert. Gleichzeitig wird es wohl kaum möglich sein, allein mit der Fatah über die Zukunft des Gazastreifens zu verhandeln. Die Hamas ist wieder Teil des Spiels geworden, ob man sie dort wollte oder nicht.

Die Option, einfach nicht weiter zu verhandeln und den Status quo beizubehalten, gefährdet die Aussicht, langfristig überhaupt zu einer Lösung zu kommen. Diese Strategie würde nicht nur die radikaleren Kräfte in der Hamas stärken und gleichzeitig Mahmud Abbas und seine Fatah weiter schwächen. Es würde auch ernsthafte Zweifel am Willen der Israelis zu einer Veränderung in der Region wecken und zwar nicht nur bei den Palästinensern.

Jedoch wird eine der Hamas in die Verhandlungen sicherlich nicht einfach werden, weder für den Westen noch für Israel. Sie bleibt ein Risiko. Was, wenn die radikalen Kräfte den Friedensprozess blockieren und Forderungen stellen, die nicht erfüllt werden können? Wenn die Hamas ihre islamistische Ideologie durchsetzt und aus der Vision eines demokratischen Staates Palästina ein zweiter Iran wird? Oder wenn die Hamas der Gewalt nicht abschwört? Was, wenn der Pragmatismus weicht und sie alles daran setzt, den Staat Israel zu zerstören? All diese Szenarien sind nicht ausgeschlossen.

Dennoch gibt es Ansätze, die Verhandlungen mit der Hamas weniger aussichtslos erscheinen lassen. Für die USA und die EU galten bisher stets zwei Vorbedingungen, um sich mit der Hamas an einen Verhandlungstisch zu setzen: die unbedingte Anerkennung des Existenzrechts Israel und das Abschwören von Gewalt. Während letzterer Punkt von der Führung der Hamas in den eigenen Reihen schlichtweg strikt durchgesetzt werden müsste, kann man im Hinblick auf den ersten Punkt bei den Aussagen von Hamas-Führer Khaled Mesh’al ansetzen:

 „We in Hamas, like most of the Palestinian factions, have accepted the idea of a state with the borders of June 1967. However, we have said that we will not recogniseIsrael. Why? It is because the Palestinian people are convinced that the land which Israel occupies is their land. So, while they accept a state with the borders of 1967, they do not want to give legitimacy to those who occupied their lands 60 or 70 years ago. So, the formula is simply this: if through politics we can come to agree a Palestinian state with the borders of 1967, why should we be forced to renounce our beliefs and feelings too, by recoginising Israel?“ (zitiert nach Crooke 2009, S. 211)

Was in diesem Zitat anklingt, ist zwar nicht die Anerkennung des Staates Israels als legitimes Gebilde. Aber immerhin ist es die Akzeptanz der Idee eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967. Wenn man die Khaled Mesh’al beim Wort nimmt, so böte dies zumindest einen Ausgangspunkt für Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel.

Es ist wahrscheinlich, dass in manchen Köpfen der langfristige Wunsch einer Zerstörung Israels haften bleibt. Und es ist unbestritten, dass in der Hamas radikale und militante Kräfte vorhanden sind, deren Ideologie nicht leicht zu verändern sein wird. Wesentlicher ist jedoch, dass es auch in der Hamas die gemäßigten Pragmatiker gibt. Und eben dieser Teil der Hamas sollte gestärkt werden. Die Einbindung eines schwierigen Akteurs in das politische System und den Verhandlungsprozess verspricht nicht nur mehr Legitimation durch die Palästinenser. Sie kann auch zu einer dauerhaften Mäßigung der Hamas führen und so zum Pluralismus des palästinensischen Gesellschaftssystems beitragen – eine wesentliche Grundlage für einen zukünftigen palästinensischen Staat, der sich demokratischen Prinzipien verschreiben soll.

Wenn auch die Devise „keine Verhandlungen mit Terroristen“ in Zeiten von Selbstmordattentaten und unberechenbarem Raketenbeschuss als angemessen erschien, so sollten doch alle Seiten eine Neubewertung der Situation vornehmen. Das window of opportunity für die Herstellung einer fairen Verhandlungssituation wird nicht lange offen stehen. Zu einer vielversprechenden Ausgangssituation gehört, dass mit der Forderung nach Anerkennung des Existenzrechts Israels das Angebot einhergeht, sich auch das palästinensische Narrativ von 1948 anzuhören. Dies ist ebenso Teil einer Verhandlung auf Augenhöhe wie die Beteiligung aller relevanten Akteure. Langfristig bleiben Verhandlungen mit der Hamas alternativlos.

Hanna Pfeifer

Literatur:

Asseburg, Muriel, Die palästinensische Hamas zwischen Widerstandsbewegung, Partei und Regierung, in: Asseburg, Muriel (Hrsg.) Moderate Islamisten als Reformakteure?, Bonn 2008, S. 81-97

Asseburg, Muriel Fatah-Hamas-Abkommen: Ein wichtiger Schritt zu einer Zwei-Staaten-Regelung, in: Kurz gesagt, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2011, http://www.swp-berlin.org/de/kurz-gesagt/fatah-hamas-abkommenzwei-staaten-regelung-in-nahost.html

Crooke, Alastair, Resistance. The Essence of the Islamist Revolution, London 2009, S. 192-215

Goerzig, Carolin, Mediating Identity Conflicts – Potential and Challenges of Engaging with Hamas, in: Berghof Occasional Paper 30, Berlin 2010, S. 1-23

Johannsen, Margret, From resistance to state-building: Dealing with the ambiguities of the Hamas experiment in Gaza, in: Beiträge aus Sicherheitspolitik und Friedensforschung 27: 3, Hamburg 2009, S. 180-185

Sayigh, Yezid Hamas Rule in Gaza: Three Years On, in: Middle East Brief 41, Waltham 2010, S. 1-8

Al-Sabeel Newspaper (05.09.2010): Khaled Mesh’al lays out new Hamas policy direction – Interview with Khaled Mesh’al, http://www.middleeastmonitor.org.uk/articles/middle-east/1491-khaled-meshal-lays-out-new-hamas-policy-direction