Die Wirtschaft nach dem arabischen Frühling

Die Wirtschaft nach dem arabischen Frühling

Viele Länder in der arabischen Welt haben für ihr Streben nach Freiheit einen hohen wirtschaftlichen Preis gezahlt. Besonders hart betroffen sind die Länder, die nicht über Öl und andere Bodenschätze für den Export verfügen. In den fünf Jahren vor Ausbruch des Arabischen Frühlings wuchs das Bruttosozialprodukt in diesen Ländern im Durchschnitt um mehr als 5 %. Seither waren es nur noch 2 bis 3 %. Dieser Wert entspricht in etwa dem Bevölkerungswachstum, folglich stagniert das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung.

Aber das Durchschnittseinkommen ist ein rein statisches Konstrukt. Extreme Unterschiede in Einkommen und Wohlstand haben zu den Unruhen in der arabischen Welt beigetragen. Diese Unterschiede sind seither nicht kleiner geworden. In der Vergangenheit haben die Regierungen der Region versucht, solchen Ungleichheiten durch Schaffung von öffentlichen Arbeitsplätzen gegenzusteuern, sowie durch die großzügige Subventionierung von Brennstoffen und anderen Gütern des Grundbedarfs. Und genauso haben sie auch auf die Ereignisse des Arabischen Frühling reagiert. Das Resultat war eine Ausweitung der Haushaltsdefizite und Staatsschulden, die sich auf Dauer nicht durchhalten lässt.

In Zukunft wird nicht mehr die öffentliche Hand, sondern der Privatsektor in dieser Region Wachstum und Arbeitsplätze schaffen müssen. Das ist im Moment nicht der Fall. Die offizielle Arbeitslosigkeit ist in Tunesien auf 17 % und in Ägypten auf über 13 % gestiegen. Noch viel schlimmer ist die Jugendarbeitslosigkeit: Mit 25 % für die gesamte Region ist sie die höchste der Welt. Obgleich der überdurchschnittlich hohe Anteil an Jugendlichen (youth bulge) schon seit fast 20 Jahre zurückgeht, drängen jedes Jahr Millionen auf die rigiden und schlecht funktionierenden Arbeitsmärkte der Region. Um diese Neuzugänge sowie die älteren Arbeitslosen unterzubringen, müssten die nicht-ölexportierenden Länder der Region in der nächsten Dekade über 18 Mio. Vollzeitjobs schaffen (IWF-Schätzung 2012).

Der Einfluss Deutschlands und der Europäischen Union ist begrenzt

Wie können wir helfen? Die Europäische Union hat zeitgleich mit dem Arabischen Frühling ihre Nachbarschaftspolitik neu ausgerichtet. Die Idee war, den Staaten, die sich wirtschaftlich und politisch öffnen, umfangreichere Entwicklungshilfe, Zugang zum europäischen Binnenmarkt und mehr Arbeits- und Studentenvisa anzubieten (“more for more”).

Wenn das Ziel dieser Politik die Unterstützung einer friedlichen Demokratisierung und ausgeglichenen Wirtschaftswachstums war, dann müssen wir sie wohl als gescheitert erklären. Vielleicht waren aber auch unsere ursprünglichen Erwartungen zu hoch. Die Mitgliedsländer der EU sind seit langem uneins über den richtigen Umgang mit ihren südlichen Nachbarn; die EU hat zu wenig Ressourcen, um auf eine so große Anzahl so heterogener Länder Einfluss zu nehmen; und in Folge der Eurokrise ist die EU geschwächt, zu sehr mit sich selbst beschäftigt und auch weniger großzügig ihren Nachbarn gegenüber.

Noch größere Hindernisse bestehen auf der anderen Seite des Mittelmeers. Die Menschen in Tunesien und Ägypten sind nicht – anders als in der Ukraine – mit EU-Flaggen auf die Straße gegangen. Neue, selbstbewusste arabische Regierungen sehen die Bedingungen, die die EU an ihre Unterstützung knüpft, oft als unwillkommene Einmischung in innere Angelegenheiten.

Und sie haben Alternativen. Saudi-Arabien, die Vereinten Arabischen Emirate und Kuwait haben Ägypten mit fast 14 Mrd. Dollar unter die Arme gegriffen. Das hat Kairo in die Lage versetzt, das Geld des Westens und die damit verbundenen Bedingungen abzulehnen. Auch Jordanien, Marokko und Tunesien haben Unterstützung von ihren Öl-exportierenden Nachbarn erhalten. Algerien und Libyen, selbst Öl- und Gasexportländer, haben ihre eigenen öffentlichen Ausgaben massiv ausgeweitet. In diesem Umfeld kann die EU mit ihren beschränkten Ressourcen keine Veränderungen erkaufen.

Es ist und bleibt eine gute Idee, den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas verbesserten Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu geben. Allerdings genießen sie in den meisten Sektoren bereits zollfreien Zugang. Das gilt sogar für 80 % der landwirtschaftlichen Güter. Doch der bilaterale Handel ist asymmetrisch. Für viele Länder der Region ist die EU ein wichtiger Handelspartner, für uns dagegen ist die Region (noch) kein wichtiger Markt.

Erfolgversprechender ist vielleicht das direkte Engagement deutscher Firmen in der Region. In Ägypten beschäftigen mehr als 80 deutsche Unternehmen etwa 24.000 Menschen. Rund 250 deutsche Firmen sind in Tunesien aktiv, vorwiegend Mittelständler. Und – im Unterschied zu vielen französischen und italienischen Firmen in der Region – blieben sie auch während der jüngsten politischen Unruhen vor Ort. Diese Firmen können vielleicht zum Aufbau einer  dynamischeren Privatwirtschaft beitragen, womit ich zu meinem letzten Punkt komme.

Kleine Unternehmen schaffen Arbeitsplätze

Das arabische Modell, Arbeitsplätze durch öffentliche Ausgaben zu schaffen, ist nicht mehr tragbar. Nur die Privatwirtschaft kann die Krise auf dem Arbeitsmarkt überwinden. Zwar mangelt es der Region nicht an Firmenneugründungen, doch den allermeisten Firmen gelingt es nicht, zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen.

Das Geschäftsumfeld ist ein Grund dafür. In Libyen dauert eine Firmengründung zwei Monate, und ein Anschluss an die Stromversorgung kostet das Dreifache eines Jahreseinkommens. In Ägypten kann man zwar innerhalb von ein oder zwei Wochen eine Firma gründen; doch dann verbringt ein Unternehmer im Durchschnitt fast 400 Stunden pro Jahr mit Steuerabrechnungen und über 1.000 Stunden mit der Durchsetzung seiner Lieferanten- und anderer Verträge (Weltbank-Datenbank “Doing Business” 2014).

Regierungshandlungen sind oft eher wachstumsschädlich als wachstumsfreundlich. Die Korruption ist ein Riesenproblem für kleinere Firmen. Tunesien gilt als das am wenigsten korrupte Land der Region, doch selbst Tunesien steht auf dem Index von Transparency International an 77. Stelle, weit hinter Kuba oder Saudi-Arabien. Marokko und Algerien folgen auf Platz 91 bzw. 94, und Ägypten sogar erst auf Platz 114.

Darüber hinaus haben alle Regierungen auf die Unruhen von 2011 mit höheren öffentlichen Ausgaben reagiert. Die öffentliche Kreditaufnahme verdrängt aber die Gewährung von Privatdarlehen. In der Region gehen nur 8 % der Bankkredite an kleinere Firmen (Umfrage der Weltbank / Union of Arab Banks, 2011). Es ist daher ermutigend, dass die Europäische Union durch ihren eigenen Haushalt und die European Investment Bank bis zu 800 Mio. Euro an Krediten für kleinere Unternehmen in der Region bereitstellen will.

Diese Unternehmen brauchen einen soliden Finanzsektor, der ihnen helfen kann, zu investieren und zu expandieren. Sie brauchen flexiblere Arbeitsmärkte, korruptionsfreie und verlässliche öffentliche Dienstleistungen und effiziente Steuersysteme. Auf diesen Gebieten können die EU und Deutschland mehr Hilfe leisten – durch fachliche Beratung, den Aufbau von Institutionen und die Stärkung des Finanzsektors.

Auch die nachbarschaftliche Hilfe in der Region könnte von Regierungen auf die Privatwirtschaft umgelenkt werden. So forderte z.B. Majid Jafar, der CEO von Crescent Petroleum, dass die reichen Golfsstaaten einen Marshall-Plan für die arabische Welt auflegen. Die Gelder sollen durch Privatunternehmen oder Public-Private Partnerships in Infrastrukturprojekte investiert werden.

Schlussfolgerung: Wachstum, nicht Ideologien!

In den letzten Jahren lag unser Augenmerk vor allem auf politischer Instabilität und religiösem Extremismus. Es ist nun an der Zeit, uns wieder mehr der sozio-ökonomischen Untermauerung eines erfolgreichen politischen Wandels zuzuwenden.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass Tunesien – das Land, das schon vor 2011 die besten Wirtschaftsdaten aufzuweisen hatte – auch in der politischen Umgestaltung bisher am erfolgreichsten war. Der Weg zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung wird lang und beschwerlich sein. Die Erwartungen sind hoch. Die Regierungen stehen unter extremem Druck, schnelle Ergebnisse zu liefern. Und natürlich sind Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze keine hinreichenden, wohl aber notwendige Bedingungen für eine erfolgreiche politische Umgestaltung. Das Gegenteil von Mut ist die Entmutigung. Das darf uns nicht passieren.

Veranstaltungen wie diese, bei denen Staatsmänner wie Mohamed el-Baradei ihre Visionen für Frieden und Prosperität teilen, sind dafür unentbehrlich. Ich hoffe, dass diese Reihe von Reden hier in der Frauenkirche – einem Symbol für den “Wiederaufbau des Friedens” aus der Asche von Krieg und Konflikten – im Laufe der Zeit so etwas wie Lindau für die Nobelpreisträger wird.

von Wolfgang Ischinger

Botschafter Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und Generalbevollmächtigter für Regierungsbeziehungen bei der Allianz SE. Eine englische Version dieses Textes basiert auf einer Rede, die Wolfgang Ischinger am 18. März 2014 anlässlich einer Ehrung von Friedensnobelpreisträger Mohamed el-Baradei in Dresden hielt; eine deutsche Version des Beitrags erschien auch als Monthly Mind August auf den Seiten der Munich Security Conference.

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