Feindbild Islam? Eine Antwort in 10 Thesen

Feindbild Islam? Eine Antwort in 10 Thesen

Feindbild Islam? Jürgen Todenhöfer meint: Viele der Fehlentscheidungen des Westens gegenüber der muslimischen Welt hängen mit der Unkenntnis einfachster Fakten zusammen. In zehn provokativen Thesen stellt er dieser Unkenntnis 50 Jahre Erfahrungenin der Arbeit und Reise in der islamischen Welt entgegen. IFAIR veröffentlicht diese hier in einem Sonderbeitrag in voller Länge.

These 1: Der Westen ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt

Arabische Familien wurden in der Kolonialzeit wie „Hyänen, Schakale und räudige Füchse“ gejagt. Die Strategie, mit der die Kolonialherren im 19. Jahrhundert den Widerstand gegen ihre „Zivilisierungsmission“ brachen, hieß: „ruinieren, jagen, terrorisieren“ (Olivier Le Cour Grandmaison).

In Algerien wurden mehrfach ganze Stämme, die sich in Höhlen geflüchtet hatten, „ausgeräuchert“ („Enfumades“). Der französische Oberst Lucien-François de Montagnac schrieb 1842 in einem Brief aus Algerien: „Wir töten, wir erwürgen. Die Schreie der Verzweifelten, der Sterbenden mischen sich mit dem Lärm des brüllenden, blökenden Viehs. Ihr fragt mich, was wir mit den Frauen machen. Nun, wir behalten einige als Geiseln, andere tauschen wir gegen Pferde, der Rest wird wie Vieh versteigert.“ Um seine dunklen, depressiven Gedanken zu vertreiben, lasse er manchmal einfach „Köpfe abschneiden. Keine Artischockenköpfe, Menschenköpfe.“

Louis de Baudicour, französischer Schriftsteller und Kolonist in Algerien, schilderte eine der vielen Schlächtereien: „Hier schnitt ein Soldat aus Spaß einer Frau die Brust ab, dort nahm ein anderer ein Kind an den Beinen und zerschmetterte seinen Schädel an einer Mauer.“ Victor Hugo berichtete von Soldaten, die sich gegenseitig Kinder zuwarfen, um sie mit der Spitze ihrer Bajonette aufzufangen. Für in Salz eingelegte Ohren gab es 100 Sous. Abgeschnittene Köpfe wurden noch höher prämiert. Arabische Gebeine wurden zeitweise zu Tierkohle verarbeitet.

Napoleon III. aber sah die Hand Gottes am Werk: „Frankreich ist die Herrin Algeriens, weil Gott dies gewollt hat.“ Auch vonseiten des FLN, des algerischen Front de Libération Nationale, gab es grauenvolle Akte des Terrors. Albert Camus hat zu Recht darauf hingewiesen. Aber zahlenmäßig stehen sie in keinem Verhältnis zu den Gewalttaten der Kolonialisten.

Insgesamt töteten diese während ihrer 130 Jahre dauernden, angeblich christlichen „Zivilisierungsmission“ nach algerischen Angaben weit über zwei Millionen Algerier. Selbst französische Schätzungen gehen von über einer Million getöteten Algeriern und hunderttausend getöteten Franzosen aus.

Den von Großbritannien kolonialisierten Irakern erging es nicht wesentlich besser. Winston Churchill warf ihnen 1920 wegen ihres Aufstands gegen die britische Unterdrückung „Undankbarkeit“ vor. Er setzte chemische Waffen ein – „mit ausgezeichneter moralischer Wirkung“, wie er anmerkte. „Bomber Harris“, der geistige Vater des „moral bombing“, der damit im Zweiten Weltkrieg Weltruhm erlangte, erklärte nach einem Luftangriff stolz: „Die Araber und Kurden wissen jetzt, was eine richtige Bombardierung ist. In 45 Minuten fegen wir ein ganzes Dorf weg.“

In Libyen warfen die damaligen italienischen Kolonialisten Fässer mit Phosgen und Senfgas auf Aufständische und Zivilbevölkerung. Stammesführer wurden in Flugzeuge gepackt und aus schwindelnder Höhe abgeworfen. Über hunderttausend Zivilisten wurden in Wüstenlager deportiert, die Hälfte ging kläglich zugrunde. Libysche Mädchen wurden für die Kolonialtruppen als Sexsklavinnen gehalten. Die Spanier setzten während der Kabylenaufstände in Marokko ebenfalls chemische Waffen ein. Die Folgen waren auch hier grauenvoll.

Als Vorbild für die Behandlung der Araber galt die erfolgreiche Ausrottungsstrategie der Europäer gegenüber den Indianern Amerikas.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Westen die Araber oft als Untermenschen „auf der Stufe eines höheren Affen“ behandelt (Jean-Paul Sartre). Dies gilt für die Entkolonialisierungskriege, für die häufigen Interventionen zur Sicherung der Rohstofftransportwege, für die Palästinafrage genauso wie für die von den USA und Großbritannien erzwungenen Iraksanktionen. Allein durch diese laut Vatikan „perversen“ Strafmaßnahmen starben nach UNICEF-Angaben schon vor dem letzten Irakkrieg über 1,5 Millionen irakische Zivilisten, darunter rund 500 000 Kinder. Laut Madeleine Albright, der damaligen UN-Botschafterin der USA, war die Eindämmung Saddam Husseins den Tod einer halben Million Kinder wert
Auch der 2003 vom Zaun gebrochene Irakkrieg zeigte eine atemberaubende Missachtung der muslimischen Welt. Schon beim Einmarsch der US-geführten Truppen wurden Tausende Zivilisten getötet. Unzählige wurden – zum Teil durch uranverseuchte Munition – zu Krüppeln gebombt.
Eine in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ veröffentlichte Studie unabhängiger amerikanischer und irakischer Ärzte zu dem Ergebnis kommt, dass allein bis Juni 2006 über 600 000 Iraker auf gewaltsame Weise im Kriegschaos ihr Leben verloren haben. Über die Gesamtzahl der Toten herrscht bis heute Streit. „Ärzte gegen den Atomkrieg“ gehen von ca. 1,5 Mio. irakischen Todesopfern aus.

Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren hat ein muslimisches Land den Westen angegriffen. Die europäischen Großmächte und die USA waren immer Angreifer, nie Angegriffene. Seit Beginn der Kolonialisierung wurden Millionen arabische Zivilisten getötet. Der Westen führt in der traurigen Bilanz des Tötens mit weit über 10 : 1.

Die aktuelle Diskussion über die angebliche Gewalttätigkeit von Muslimen stellt die historischen Fakten völlig auf den Kopf. Der Westen war und ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt

Zu Beginn der Kolonialisierung Algeriens im Jahr 1830 betrug dessen Alphabetisierungsquote 40 Prozent. Sie war damit mindestens so hoch wie die Frankreichs. 1962, beim Abzug der französischen Besatzungstruppen, lag die Alphabetisierungsquote Algeriens unter 20 Prozent.

Der Kolonialismus hat der arabischen Welt – in einer weltwirtschaftlich entscheidenden Zeit – weit über hundert Jahre Entwicklung gestohlen. Resigniert stellte Tocqueville 17 Jahre nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich fest: „Die Lichter sind erloschen. Wir haben die muslimische Gesellschaft ärmer, unwissender und unmenschlicher gemacht.“

These 2: Nichts fördert den Terrorismus mehr als die “Antiterror-Kriege” des Westens

Wer den Terrorismus muslimischer Extremisten verstehen will, muss versuchen, die Welt einmal aus der Sicht eines Muslims zu betrachten. Ein junger Muslim, der regelmäßig Fernsehnachrichten verfolgt, sieht Tag für Tag, Jahr für Jahr, in Afghanistan, in Pakistan, in Palästina und anderswo muslimische Frauen, Kinder und Männer durch westliche Waffen, westliche Verbündete und westliche Soldaten sterben.

Terrorismus ist immer unentschuldbar. Aber objektiv betrachtet ist der „muslimische Terrorismus“ die gewalttätige Antwort einer winzigen extremistischen Minderheit auf die gewalttätige Politik westlicher Mehrheiten.

Der extremistische Islamismus war zu Beginn des Jahres 2001 weltweit am Ende. Der Angriff von Al-Qaida auf New York nicht nur ein Racheakt, sondern auch der Versuch eines Befreiungsschlags: Er sollte durch diabolische Kühnheit und geniale mediale Inszenierung den Extremisten die Sympathien der Massen zurückgewinnen. Er sollte sie aus ihrer Außenseiterrolle wieder ins Zentrum der Diskussion rücken. Er sollte die USA zu einer Überreaktion provozieren, die dem muslimischen Extremismus wieder Rückenwind geben würde.

Dass die Falken der US-Regierung auf eine solche Gelegenheit geradezu sehnsüchtig gewartet hatten, macht alles nur noch absurder. Al-Qaida wollte provozieren, und die Bush-Administration wollte provoziert werden.

Zumindest die Provokations-Rechnung von Al-Qaida ist voll aufgegangen. Al-Qaida bombte sich auf die Titelseiten der Medien, und der folgende Raketenhagel der USA sorgte dafür, dass Al-Qaida dort blieb.

Die Afghanen verstehen diesen Krieg bis heute nicht. Genauso wenig die Iraker. Keiner der Terroristen, die das World Trade Center angegriffen hatten, stammte aus Afghanistan oder dem Irak. Sie kamen aus Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten – und aus Deutschland.

Um ihr ideologisches Oberhaupt, den Saudi-Araber Bin Laden, auszuschalten, hätte es effektivere und intelligentere Methoden gegeben als die Bombardierung Kabuls. Der Kommandoeinsatz von Abbottabad am 2. Mai 2011 hat das trotz aller rechtlichen Probleme und Unzulänglichkeiten unter Beweis gestellt. Eine ähnliche Kommandoaktion wäre schon im Winter 2001 in Tora Bora möglich gewesen. Der Erfolg von Abbottabad hat den gesamten Afghanistankrieg ad absurdum geführt.

Die radikalen Kräfte im Westen und in der muslimischen Welt haben sich gegenseitig hochgeschaukelt. Letztlich war Bin Laden der beste Stichwortgeber George W. Bushs und umgekehrt. Wir müssen dieses tödliche Schaukelspiel zwischen Terroristen und Antiterroristen so schnell wie möglich beenden.

Wir sind nicht legitimiert, überall auf der Welt mit Kriegen gegen extremistische Bewegungen vorzugehen. Genauso wenig wie wir berechtigt sind, weltweit diktatorische Regime militärisch zu bekämpfen. Wir haben nicht das Recht, die Welt in ein blutig-chaotisches Schlachtfeld zu verwandeln, um unsere politischen Vorstellungen durchzusetzen. Westliche Bomber, Drohnen und Kampftruppen haben im Irak, in Afghanistan, in Pakistan, im Jemen, in Libyen und auch in Syrien nichts verloren.

Die muslimischen Länder müssen ihre innenpolitischen Probleme in erster Linie selbst ausfechten und ihre Revolutionen selbst zum Erfolg führen.

Der Kampf gegen den Terrorismus, der bei Weitem nicht das wichtigste Thema unserer Zeit ist, wird weder am Hindukusch noch in Bagdad militärisch entschieden. Die Entscheidung fällt in den Herzen der 1,5 Milliarden Muslime, die in Ost und West, Nord und Süd die Politik des Westens genau beobachten. Mit jedem durch westliche Bomben getöteten muslimischen Kind stärken wir weltweit die terroristischen Minderheiten, versinken wir tiefer in den Widersprüchen unserer eigenen Politik.

Alle Muslime aber bitte ich: Wehrt Euch gegen Gewalt nicht wie George W. Bush – sondern wie Mahatma Gandhi. Mit gewaltlosem Widerstand kann man viel mehr erreichen als mit terroristischer Gewalt.

These 3: Terrorismus ist kein typisch muslimisches, sondern ein weltweites Problem

Einer der Lieblingssätze der aktuellen Terrorismusdiskussion lautet: „Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Muslime.“ Er ist – wie so vieles in der Diskussion über die muslimische Welt – schlicht falsch.

Terrorismus gab es zu allen Zeiten und unter allen Vorzeichen. Neben christlichen Terroristen wie George Habash, die jüdische Siedler brutal ermordeten, gab es auch „zionistische Terrororganisationen“ – wie die „Irgun“ Menachem Begins sowie die sich selbst terroristisch nennenden „Kämpfer für die Freiheit Israels“ Jitzchak Schamirs. Sie kämpften mit Terror gegen Briten und Araber für ein freies Israel – auch gegen Zivilisten.

14 der 25 von der EU offiziell als terroristisch eingestuften Organisationen haben mit dem Islam nichts zu tun. Diese „marxistischen“, „antiimperialistischen“, „antikapitalistischen“, „hinduistischen“ oder „Sikh“-Terrororganisationen haben weltweit unzählige Zivilpersonen auf dem Gewissen. In Uganda mordete jahrzehntelang die christliche „Lord’s Resistance Army“. Ihr Anführer Joseph Kony wollte auf der Basis der Zehn Gebote einen christlichen Gottesstaat errichten. Im öffentlichen Bewusstsein des Westens spielen all diese nicht-muslimischen Terrororganisationen keine große Rolle.

Nach Angaben der europäischen Polizeibehörde „Europol“ gab es 2012 in den Ländern der Europäischen Union 212 Terroranschläge. Davon gingen lediglich sechs auf „islamistische“ Attentäter zurück. Nicht 200, nicht 240 – sechs! Die meisten Anschläge wurden von militanten Unabhängigkeitsbewegungen verübt – wie zum Beispiel der baskischen Untergrundorganisation ETA.

All das hindert führende westliche Politiker nicht daran, weiter ihren terroristischen Lieblingssatz hinauszuposaunen, alle Terroristen seien Muslime. Der Westen braucht derartige Übertreibungen und Verzerrungen zur Begründung seiner aggressiven Politik im Mittleren Osten – nachdem Colin Powell in den 90er-Jahren beunruhigt festgestellt hatte, den USA gingen langsam „die Monster“ aus.

Terroristen sind für die muslimische Welt nicht repräsentativ. So wie die RAF und linke oder rechte Autonome für Deutschland nie typisch waren oder sind. Die politische Bedeutung des „muslimischen Terrorismus“ liegt darin, dass er bequeme Vorwände für die Angriffskriege des Westens liefert. Deshalb wird er systematisch und kontinuierlich zu einem titanenhaften Feind des Weltfriedens aufgeblasen. Von Europol-Fakten lassen sich anti-islamische Propagandisten ihr Feindbild Islam nicht zerstören.

Trotz Ablehnung der US-Außenpolitik bewundern viele Muslime den Westen. Junge Muslime tragen selbst in Afghanistan, in Pakistan und im Irak mit Vorliebe (imitierte) westliche Turnschuhe, Jeans und T-Shirts. Sie wären unter Beibehaltung ihres Glaubens in vielen Dingen gerne wie wir – frei, modern und auf ihre Weise demokratisch. Für diese Freiheit und Würde kämpfen sie in ihren Revolutionen. Wie gerne würden sie Amerika lieben, wenn es dieses Amerika, einst der Hoffnungsträger der Unterdrückten der Welt, ohne seine blutige Außenpolitik gäbe.

These 4: Islamisch getarnte Terroristen sind Mörder, christlich getarnte Anführer völkerrechtswiedriger Angriffskriege auch

Die von „muslimischen Terroristen“ seit Mitte der 90er-Jahre verübten Anschläge gegen westliche Einrichtungen kosteten in den USA und in Westeuropa – einschließlich der Anschläge auf das World Trade Center – 3500 Zivilisten das Leben. Sie sind moralisch völlig inakzeptabel. Der Zweck heiligt nie die Mittel.

Die Anschläge auf das World Trade Center wurden daher von allen muslimischen Regierungen, von Syrien, dem Iran, ja sogar von Hisbollah und Hamas und auch von Afghanistan verurteilt. In vielen muslimischen Ländern legten Menschen erschüttert Blumen vor der US-Botschaft nieder. Terroristen, die Unschuldige töten, sind keine Freiheitskämpfer, keine Widerstandskämpfer, keine heiligen Krieger und keine Märtyrer. Sie verraten ihre Religion. Sie sind Mörder.

Aber sind nicht auch die Hintermänner völkerrechtswidriger Angriffskriege Terroristen und Mörder – auch ihrer eigenen Soldaten? Muss man, wenn man über die 3500 von Al-Qaida im Westen ermordeten Menschen spricht, nicht auch über die Hunderttausende irakischen Zivilisten sprechen, die durch George W. Bushs völkerrechtswidrigen Krieg getötet wurden? Gelten die rechtlichen Maßstäbe, die wir an Saddam Hussein, Slobodan Milošević, Radovan Karadzić, Ratko Mladić und Co. anlegen, nicht auch für westliche Regierungschefs?

Warum wagen die westlichen Eliten nicht einmal die Frage zu stellen, ob George W. Bush und Tony Blair wegen ihres auf Lügen gebauten Irakkriegs nicht auch vor ein internationales Strafgericht gestellt werden müssten? Gilt das Völkerrecht nur für Nichtwestler?

In der Urteilsbegründung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals heißt es: „Die Entfesselung eines Angriffskriegs ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft.“ Der amerikanische Chefankläger Robert Jackson formulierte damals: „Nach dem gleichen Maß, mit dem wir heute die Angeklagten messen, werden wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“

Angriffskriege sind „der Terrorismus der Reichen“, sagt Peter Ustinov. Für ein irakisches Kind macht es keinen Unterschied, ob es von einem „islamischen“ Selbstmordattentäter oder von einer „christlichen“ Bombe zerfetzt wird. Für dieses Kind sind George W. Bush und Tony Blair genauso Terroristen wie Bin Laden für uns.

Wie komplex die Terrorismusproblematik ist, zeigen die jahrzehntelangen vergeblichen Versuche der UNO, eine von allen akzeptierte Definition des Phänomens Terrorismus zu finden. Edward Peck, unter Ronald Reagan stellvertretender Vorsitzender der Terrorismus-Arbeitsgruppe des Weißen Hauses, schilderte die Schwierigkeiten mit den sarkastischen Worten: „Wir haben sechs Terrorismus-Definitionen vorgelegt. Sie wurden alle abgeschmettert. Bei sorgfältigem Lesen stellte sich jedes Mal heraus, dass die USA selbst in derartige Aktivitäten verwickelt waren.“

Bombenabwürfe aus sicheren Pilotenkanzeln sind die feigste Form des Terrorismus der Mächtigen. „Das prickelt einem ordentlich, das ist ein feines Gefühl“, beschrieben deutsche Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg ihre Empfindungen.

Die Legende vom anständigen Krieg ist die größte Lüge der Menschheit. Man sollte alle Politiker, die für den Krieg stimmen, vier Wochen lang zu Patrouillefahrten an die Front schicken – ersatzweise auch ihre Söhne oder Töchter. Die Zahl der Kriege würde sehr schnell zurückgehen.

These 5: Muslime waren und sind mindestens so tolerant wie Juden und Christen

Es waren keine Muslime, die den „heiligen Krieg“ erfanden und auf Kreuzzügen unter dem Motto „Deus lo vult – Gott will es“ über vier Millionen Muslime und Juden niedermetzelten. Es waren keine Muslime, die in Jerusalem „bis zu den Knöcheln im Blut“ wateten, bevor sie „glücklich und vor Freude weinend“ zum Grab des Erlösers gingen, wie ein Zeitzeuge berichtet.

Der Islam kennt das Wort „heilig“ im Zusammenhang mit Krieg überhaupt nicht. Jihad heißt „Anstrengung, sich abmühen auf dem Weg zu Gott“ (Hans Küng), eine Anstrengung, die wie in allen Kulturen bis zum Verteidigungskrieg führen kann. Nirgendwo im Koran heißt Jihad „heiliger Krieg“. Kriege sind nie „heilig“, heilig ist nur der gerechte Frieden.

Es waren auch keine Muslime, die im Namen der Kolonialisierung Afrikas und Asiens 50 Millionen Menschen massakrierten. Es waren keine Muslime, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg mit fast 70 Millionen Toten anzettelten. Und es waren keine Muslime, sondern wir Deutsche, die in einem industriemäßig organisierten Zivilisationsbruch sechs Millionen Juden – Mitbürger, Freunde und Nachbarn – schändlich ermordeten.

Keine andere Kultur war in den vergangenen Jahrhunderten gewalttätiger und blutiger als die abendländische. Wann haben sogenannte „christliche“ Politiker dem Christentum, dieser wunderbaren Religion der Liebe, jemals Ehre gemacht? Wann haben wir unsere Vater- und Bruderreligionen Judentum und Islam respektvoll behandelt?

Niemand wird bestreiten, dass die territoriale Expansion der muslimischen Dynastien zwischen dem 7. und dem 17. Jahrhundert – wie die der europäischen Mächte jener Zeit – auch mit dem Schwert geführt wurde. Auch von muslimischer Seite gab es unentschuldbare Grausamkeiten. Muslimische Eroberer haben in der Regel jedoch nicht versucht, Christen und Juden den Islam aufzuzwingen, sie zu vertreiben oder auszurotten. Als Saladin 1187 nach hartem Kampf Jerusalem zurückeroberte, verzichtete er demonstrativ auf Rache und schenkte der christlichen Bevölkerung gegen ein Kopfgeld die Freiheit. Armen Christen erließ er das Kopfgeld.

Toleranz gegenüber Christen und Juden war Gesetz und Stolz der muslimischen Zivilisation. Unter muslimischer Herrschaft blieben ganze Völker christlich oder jüdisch.

Als der muslimische Feldherr Tariq ibn-Ziyad 711 auf der Iberischen Halbinsel landete, begannen in Andalusien über siebenhundert Jahre kultureller und wissenschaftlicher Blüte, von deren Ausstrahlung die westliche Zivilisation bis heute profitiert. Im damals modernsten Staat Europas entwickelte sich ein beispiellos erfolgreiches Miteinander von Muslimen, Juden und Christen.

Muslime überlieferten uns im aufgeklärten andalusischen Zeitalter nicht nur die versunkenen Schätze griechisch-römischer Kultur. Sie schufen auch neue Wissenschaften. Ihnen sind die Anfänge der experimentellen Optik, der Kompass, die Kenntnis der Planetenlaufbahnen und wesentliche Teile der modernen Medizin und Pharmazie zu verdanken. Sie haben die westliche Zivilisation um Quantensprünge nach vorne gebracht.

Auch wenn viele unserer Politiker und Publizisten es nicht wahrhaben wollen: Wir leben heute in einer christlich, jüdisch, islamisch geprägten Kultur.

These 6: Nicht nur in der Bibel, auch im Koran sind die Liebe zu Gott und Nächstenliebe die zentralen Gebote

Beim Vergleich der Texte erweist sich der Koran als mindestens so tolerant wie das Alte und das Neue Testament. Allerdings drücken sich Gott und seine Propheten in allen drei Schriften teilweise sehr kriegerisch aus.

So heißt es im Alten Testament im Buch Numeri 31,7.15.17: „Sie zogen gegen Midian zu Feld, wie der Herr es Mose befohlen hatte, und brachten alle männlichen Personen um. Mose sagte zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen am Leben gelassen? Bringt endlich auch die männlichen Kinder um und alle Frauen, die schon mit einem Mann geschlafen haben.

Im Neuen Testament wird Jesus bei Matthäus 10,34 mit den Worten zitiert: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ In seinen Tischreden erklärte der wortgewaltige Protestant Martin Luther: „Mit Ketzern braucht man kein langes Federlesen zu machen. Während sie auf dem Scheiterhaufen zugrunde gehen, sollte der Gläubige das Übel an der Wurzel ausrotten und seine Hände im Blute der Bischöfe und des Papstes baden.“

Nicht weniger kriegerisch heißt es im Koran in Sure 4,89: „Sie wünschen, dass ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind. Nehmt keinen von ihnen zum Freund, ehe sie sich nicht auf Allahs Weg begeben. Und wenn sie den Rücken kehren, ergreift und tötet sie, wo immer ihr sie findet.“

Extremisten und Hassprediger in Ost und West vernachlässigen fast immer den historischen Kontext dieser Passagen. Moses, Jesus und Mohammed wurden nicht in ein geschichtliches Vakuum hineingeboren, sondern in eine kriegerische Welt. Bei oberflächlicher Betrachtung wäre das großartige Alte Testament in seinen historischen Ausführungen bei Weitem das blutigste der drei heiligen Bücher – viel blutiger als der Koran.

Jeder Kenner des Alten Testaments weiß jedoch, dass dessen zentrales Gebot – nach dem Gebot der Gottesliebe und der Gerechtigkeit – lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ (Levitikus 19,18). Auch für Christen sind Nächstenliebe und Gerechtigkeit nach der Liebe zu Gott die wichtigsten Gebote (Matthäus 5,6.10).

Für Muslime stellt der Koran fest: „Seid gut zu dem Nachbarn, sei er einheimisch oder aus der Fremde“ (Sure 4,36). Auch im Islam gelten die „Zehn Gebote“ einschließlich des Tötungsverbots – mit Ausnahme des Sabbat-Gebotes, da Gott nach islamischer Auffassung nach der Erschaffung der Welt keinen Ruhetag benötigte. Der Koran plädiert für „mehr Menschlichkeit und mehr Gerechtigkeit“ (Hans Küng).

Das Hauptproblem der westlichen Korandebatte besteht darin, dass jeder über ihn redet, aber kaum einer ihn gelesen hat. Die kriegerischen Passagen des Korans beziehen sich „erkennbar auf die damaligen Glaubenskriege zwischen Mekka und Medina und damit ausschließlich auf bestimmte Kampfszenen zwischen den Mekkanern und Medinesen jener Zeit“,

Terrorismus ist nie religiös: Es gibt in Wirklichkeit keinen „islamischen“ Terrorismus, so wie der Terrorismus der nordirischen IRA oder des Norwegers Anders Behring Breivik nie „christlich“ war.

Die Begriffe „Islamischer Terrorismus“, „christlicher Terrorismus“ oder „jüdischer Terrorismus“ sind bei genauer Betrachtung eine sprachliche Irreführung. Wer sich als Terrorist teuflischer Methoden bedient, kann sich nicht auf Gott berufen. Es gibt lediglich islamisch, christlich oder jüdisch getarnte Terrorideologien, und die führen wie „humanitär“ getarnte Angriffskriege nicht ins Paradies, sondern in die Hölle.

Die Behauptung, Gewalt sei vor allem ein religiöses Problem, ist eine atheistische Legende. Die Menschen mordeten, bevor es Religionen gab, und danach. Die Massenmorde der deutschen Nationalsozialisten wie auch der sowjetischen und chinesischen Kommunisten sind der traurige Beweis dafür, dass der Mensch das grausamste aller Geschöpfe ist – mit und ohne Religion.

Die Anziehungskraft des heutigen Selbstmordterrorismus auf eine kleine, meist junge muslimische Minderheit lebt von zwei Schamlosigkeiten: Von der Schamlosigkeit einiger westlicher Politiker, die noch immer im 10 :1-Rhythmus muslimisches Blut vergießen. Und von der Schamlosigkeit, mit der die Hintermänner des Terrorismus ihre mörderischen Privatideologien jungen Menschen als Islam verkaufen und ihnen vorgaukeln, sie müssten sich nur als Selbstmordattentäter in die Luft sprengen, um ins Paradies zu gelangen.

Der Islam ist eine Religion der Liebe und Barmherzigkeit. An keiner Stelle rechtfertigt er die Tötung unschuldiger Zivilisten. Im Gegenteil. Einer seiner bedeutendsten Sätze lautet: „Wer einen Menschen rettet, für den soll es sein, als habe er die ganze Welt gerettet.“ (Koran, Sure 5, Vers 32)

These 7: Die westliche Politik gegenüber der muslimischen Welt leidet unter einer erschreckenden Ignoranz einfachster Fakten

Einer der Lieblingssätze westlicher Stammtischstrategen lautet: „Wer den Ruf des Muezzins in unseren Städten verlangt, sollte auch in Teheran das Glockenläuten zulassen.“ Die Realität jedoch ist: In Teheran gibt es mehrere christliche Kirchen, von denen einige laut und kräftig läuten. Christliche Kinder haben sogar ihren eigenen Religionsunterricht.

Im Iran gibt es 100 Synagogen, 18 sind in Teheran aktiv. Rund 1500 jüdische Kinder besuchen jüdische Schulen. Allein vier befinden sich in Teheran. Den ca. 20 000 Juden steht verfassungsrechtlich ein Parlamentssitz zu, ähnlich wie den Christen. Ayatollah Khomeini verfasste 1979 kurz nach der Revolution sogar eine „Fatwa“ zum Schutz der Juden. An vielen iranischen Synagogen stehen noch heute seine Worte: „Wir achten die religiösen Minderheiten, die Teil unseres Volkes sind. Der Islam erlaubt nicht, sie zu unterdrücken.“

Es gab in der Tat jene antizionistischen, antiisraelischen Äußerungen Ahmadinedschads, die im Westen auch noch falsch übersetzt wurden. In der iranischen Bevölkerung hat diese aggressive Position, die reich an politischer Torheit und arm an geschichtlicher Einsicht ist, kaum Rückhalt. Selbst die geistliche Führung des Iran hat Ahmadinedschad mehrfach dafür gerügt. Doch dieser politische Antizionismus ist nicht gleichbedeutend mit Judenhass und Antisemitismus. Auch orthodoxe Juden, wie die chassidischen Satmar, lehnen einen israelischen Staat „vor Ankunft des Messias“ ab und nehmen insoweit eine „antizionistische“ Position ein.

Widerlichen Antisemitismus und staatliche Judenverfolgung wie in Europa hat es im Iran und in anderen muslimischen Staaten nie gegeben. Der Iran hat sich in den entscheidenden Augenblicken des 20. Jahrhunderts gegenüber den Juden unendlich großzügiger verhalten als wir Europäer. Der jüdische Parlamentsabgeordnete und Direktor des jüdischen Krankenhauses in Teheran, Ciamak Moresadegh, brachte es auf eine für Europa peinliche Formel: „Antisemitismus ist kein islamisches, sondern ein europäisches Phänomen.“
Die westliche Ignoranz gegenüber der muslimischen Welt zeigt sich auch in viel banaleren Fragen als dem Irankonflikt – zum Beispiel in der vor allem in Europa verbreiteten Einstufung des muslimischen Kopftuchs als „Kampftuch“ oder als „Symbol für die Unterdrückung der Frau“. Die USA sind in dieser Frage viel toleranter. Das US-Justizministerium nennt die Intoleranz, die sich im Kopftuchverbot zeige, „unamerikanisch und moralisch verwerflich“.

„Wer fünf muslimische Frauen mit Kopftuch befragt“, amüsiert sich die Wochenzeitung „Die Zeit“ über den Kreuzzug für ein kopftuchfreies Europa, „wird fünf verschiedene Botschaften finden. Die eine trägt ihr Kopftuch für Gott, die andere, weil es so gut zu ihren H&M-Klamotten passt. Die dritte Kopftuchträgerin wird sich als vehemente Feministin entpuppen, die vierte verweist auf die dörfliche Sitte, der fünften schließlich hat es ihre ultrasäkulare Mutter verboten, also trägt sie es erst recht.“

Natürlich ist der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, nicht hinnehmbar. Aber gilt das Gleiche nicht auch für den Zwang, das Kopftuch abzunehmen? In Vietnam maskieren sich im Sommer alle Frauen vom Scheitel bis zur Sohle. Kein Stück Haut soll erkennbar sein. Aber nicht aus religiösen Gründen, sondern weil sie nicht braun werden wollen. Weiß gilt dort als schön. Wie gut für Vietnams Frauen, dass ihr Land keine französische Kolonie mehr ist und Sarkozy nicht ihr Präsident.

Auch die Diskussion über die Zwangsehe, die Beschneidung der Frau oder den Ehrenmord wird auf einem erschreckend niedrigen Kenntnisniveau geführt. Über diese völlig inakzeptablen frauenfeindlichen Praktiken steht nichts im Koran. Sie stammen aus vorislamischer, patriarchalisch-heidnischer Zeit.

Teilweise sind sie mehrere tausend Jahre alt – wie etwa die grauenvolle „pharaonische“ Beschneidung der Frauen. Diese brutale Verstümmelung findet nicht nur in einigen muslimischen Ländern wie Ägypten und Sudan statt, sondern auch in überwiegend christlichen Staaten wie Äthiopien und Kenia. Ihre Opfer sind Musliminnen, Christinnen, jüdische Falashas und Angehörige anderer Religionen.

Sogenannte Ehrenmorde gibt es leider auch unter Christen, etwa in den christlichen Ländern Brasilien, Argentinien oder Venezuela. Die meisten muslimischen und christlichen Regierungen gehen zu Recht gesetzlich gegen diese Unsitten und Verbrechen vor, die nichts mit dem Islam oder dem Christentum zu tun haben.

In manchen muslimischen Ländern ist die „Frauenförderung“ in Teilbereichen weiter fortgeschritten als im Westen. In Ägypten sind 30 Prozent aller Professoren weiblich, in Deutschland nur rund 20 Prozent. Im Iran sind weit über 60 Prozent aller Studierenden weiblich, sodass eine Männerquote von 30 Prozent beschlossen wurde. In den Vereinigten Arabischen Emiraten waren schon im Jahr 2007 77 Prozent aller Studierenden weiblich. Auch Regierungschefinnen haben in muslimischen Ländern eine längere Tradition als im Westen.

Wir sollten überhaupt mehr vor unserer eigenen Tür kehren: Bis 1957 konnte ein deutscher Mann kraft seines gesetzlich garantierten „Direktionsrechts“ entscheiden, ob seine Ehefrau einen Beruf ausüben durfte. Die Schweizer Männer lehnten das Wahlrecht der Frauen bis 1970 ab – schließlich fordern das Alte wie das Neue Testament die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes.

Im Alten Testament (Genesis 3,16) spricht Gott zur Frau: „Du hast Verlangen nach deinem Mann. Er aber wird über dich herrschen.“ Und der große Apostel Paulus schreibt im ersten Korintherbrief 14,34: „Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde. Sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.“

Wer Hass und Intoleranz überwinden will, sollte vor allem die eigene Ignoranz besiegen. Jeder hat ein Recht auf eigene Meinung, aber keiner auf eigene Fakten.

These 8: Der Westen muss die muslimische Welt genauso fair und großzügig behandeln, wie er Israel behandelt

In einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit, Ignoranz und Hass halten viele Menschen im Westen – die den Koran nie gelesen und die muslimische Welt nur selten bereist haben – den Islam für eine blutrünstige Religion. Muslime gelten ihnen als potenzielle Terroristen, als demokratie-, frauen-, juden- und christenfeindlich.

Der Freund und geistliche Berater des amerikanischen Ex-Präsidenten George W. Bush, Frank Graham, nennt den Islam „eine richtig bösartige und verlogene Religion“. Bill O’Reilly, Fernsehidol der amerikanischen Konservativen, erklärt: „Wir können nicht immer wieder in der muslimischen Welt intervenieren. Was wir tun können, ist, sie in Grund und Boden zu bomben.“

Und die amerikanische Fernsehkommentatorin Ann Coulter meint: „ Wir sollten in ihre Länder einmarschieren, ihre Führer totschlagen und die Bevölkerung zum Christentum bekehren.“ Oder: „Wir sollten unseren nationalen Arschkriecherwettbewerb beenden, Syrien ins Steinzeitalter zurückbomben und danach den Iran dauerhaft entwaffnen.“

Auch in Europa ist es wieder gut bezahlte Mode geworden, Hass gegen fremde Religionen zu predigen. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders nennt den Islam eine „faschistische Ideologie“, während der deutsche Publizist Thilo Sarrazin in der Zuwanderung von Muslimen die Selbstabschaffung Deutschlands sieht.

Als Gegenstrategie schlägt Sarrazin staatliche Prämien von 50.000 Euro für Kinder vor, die von deutschen „Frauen mit hohem Bildungsstand“ vor Vollendung des 30. Lebensjahres geboren werden. „Die Prämie dürfte allerdings nur selektiv für jene Gruppen eingesetzt werden, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur erwünscht ist. Staunend habe ich mich durch Sarrazins Buch gekämpft.

Man stelle sich nur eine Sekunde vor, Graham, O’Reilly, Coulter, Wilders oder Sarrazin hätten anstelle von „Islam“ die Worte „Judentum“ oder „Christentum“ und anstelle von „Muslimen“ die Worte „Christen“ oder „Juden“ verwendet. Hätte sich nicht zu Recht ein Orkan der Entrüstung erhoben? Warum darf man über Muslime und ihre Religion rassistische Dinge sagen, die in Bezug auf Juden und Christen zu Recht geächtet sind? Wir müssen diese Dämonisierung des Islam und der Muslime beenden.

Sarrazin beruft sich auf Meinungsfreiheit. Meinungs- und Pressefreiheit sind in der Tat überragend hohe Güter. Wir sollten sie immer verteidigen. Demokratie und Rechtsstaat sind ohne sie nicht möglich. Aber hat nicht auch Friedrich der Große recht, wenn er gleichzeitig Respekt fordert? Der preußische Reformer und Aufklärer hatte sofort nach Beginn seiner Regierungszeit nicht nur die Folter abgeschafft, sondern auch die Religions-, Presse- und Gedankenfreiheit eingeführt.

Und dennoch schrieb der Philosoph auf dem Königsthron an seinen Freund Voltaire: „Die Toleranz muss jedem Bürger die Freiheit lassen zu glauben, was er will. Aber sie darf nicht so weit gehen, dass sie die Frechheit und Zügellosigkeit von Hitzköpfen gutheißt, die etwas vom Volk Verehrtes dreist beschimpfen.“

Der Preußenkönig war in Fragen des Respekts gegenüber Andersgläubigen viel souveräner als die Kleingeister unserer Zeit. Friedrich der Große stellte seinen bosnisch-muslimischen Lanzenreitern einen Imam zur Seite, der fünfmal täglich zum Gebet rief. Den Türken versprach er sogar Moscheen, wenn sie nach Preußen kämen. Er war wirklich ein Großer.

So wie bisher können wir nicht weitermachen. Wir sollten die muslimische Welt genauso fair und großzügig behandeln, wie wir zu Recht Israel behandeln. Wir sollten dem „muslimischen Terrorismus“ endlich die Argumente entziehen.

These 9: Die Muslime müssen sich wie ihr Prophet Mohammed für einen Islam des Forschritts und der Toleranz einsetzen

Nicht nur der Westen, auch die muslimische Welt muss ihr Verhalten ändern. Gerade gemäßigte Muslime müssen – unter Wahrung ihrer religiösen Identität – mutig für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten. Für eine Staats- und Wirtschaftsordnung, die die Talente der Menschen entfesselt, statt sie zu lähmen. Für die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für wirkliche Religionsfreiheit auch für Juden und Christen – für einen Islam der Toleranz und des Fortschritts.

Die gemäßigte Mehrheit der Muslime muss die faszinierende Botschaft ihres Propheten Mohammed in die Neuzeit übersetzen und die gesellschaftlichen Reformen fortführen, die dieser unter Einsatz seines Lebens begonnen hatte. Sie muss den vorislamischen Ballast abwerfen, der die Renaissance der muslimischen Zivilisation behindert. Sie muss eine Bildungselite schaffen, die die muslimische Welt erfolgreich ins dritte Jahrtausend führt. Mohammed, Marktwirtschaft und Moderne passen sehr wohl zusammen.

Anders als manche muslimische Politiker unserer Tage war Mohammed kein Reaktionär. Er war ein kühner, nach vorne blickender egalitärer Revolutionär, der den Mut hatte, die Fesseln der Tradition zu sprengen. Sein Islam war keine Religion des Stillstands oder des Rückschritts, sondern der Erneuerung und des Aufbruchs. Wenigstens etwas von der Dynamik dieses großen Reformators würde der oft in Fatalismus und Selbstmitleid versunkenen muslimischen Welt gut tun.

Mohammed kämpfte mit Leidenschaft für soziale Veränderungen. Er trat für die Armen und Schwachen ein und – zum Ärger vieler seiner männlichen Anhänger – für eine massive Stärkung der Rechte der Frauen, die in vorislamischer Zeit in fast allen Kulturen nahezu rechtlos waren. Frauenunterdrücker können sich weder auf Mohammed noch auf den Koran berufen.

Mohammed war – wie unsere jüdischen Urväter Abraham, Moses und vor allem König Salomo, der laut Bibel tausend Haupt- und Nebenfrauen hatte – mit mehreren Frauen verheiratet, darunter eine Jüdin und eine Christin. Er mahnte seine Anhänger: „Wer einem Juden oder Christen unrecht tut, dem werde ich am Tage des Jüngsten Gerichts entgegentreten.“ Es wäre gut, wenn sich einige muslimische Extremisten an diese weisen Worte des Propheten erinnern würden.

Mohammed war kein Fanatiker und kein Extremist. Er wollte den damals polytheistischen Arabern den Gott der Juden und Christen nahebringen – in unverfälschter, reiner Form. Der Koran ist streckenweise eine grandiose poetische Nacherzählung der zentralen Botschaften der Bibel, „ein Buch, das das Buch Moses in arabischer Sprache bestätigt“ (Sure 46,12). Aus muslimischer Sicht ist der Koran das „Neueste Testament“.

Der heutige von einer winzigen Minderheit von Muslimen praktizierte Terrorismus ist eine absurde iVerfälschung der Lehren Mohammeds. Er ist ein Verbrechen gegenüber dem Islam, eine Beleidigung Allahs. Islam heißt Gottergebenheit und Frieden.
Die muslimische Welt darf nicht zulassen, dass ihre große, stolze Religion mit ihrem Ethos der Humanität und Gerechtigkeit durch eine Minderheit verblendeter, krimineller Ideologen in den Schmutz gezogen wird. Niemand hat dem Ansehen des Islam in seiner fast tausendvierhundertjährigen Geschichte mehr Schaden zugefügt als die islamisch maskierte Ideologie des Terrorismus.

Die muslimische Welt muss dieser Terrorideologie die religiöse Maske vom Gesicht reißen. Sie muss den Götzen Terrorismus genauso zerbrechen, wie Mohammed die Götzen der vorislamischen Zeit zerbrach.

These 10: Das Gebot der Stunde heißt Staatskunst, nicht Kriegskunst

Die jahrelange, fast kindliche Weigerung westlicher Politiker, mit missliebigen Politikern wie Arafat, Assad, Saddam Hussein oder Ahmadinedschad persönlich zu sprechen, und die Entscheidung, stattdessen Strategien zu entwickeln, wie man diese aus dem Amt bomben könnte, zählen zu den größten Fehlentscheidungen unserer Zeit. „Wer als Staatsmann dem Frieden dienen will, muss mit dem Staatsmann auf der Gegenseite reden“ (Helmut Schmidt). Auch der Ost-West-Konflikt der Nachkriegsjahre konnte nur gelöst werden, weil sich Ronald Reagan nie zu schade war, die Herrscher des damaligen „Reichs des Bösen“ persönlich zu treffen.

Es stimmt einfach nicht, dass es z.B. im Irankonflikt außer der Strategie immer härterer Sanktionen nur noch die „katastrophale Alternative” „iranische Bombe oder Bombardierung Irans“ gibt (Nicolas Sarkozy). Die entscheidende Alternative zur Ausgrenzung und Dämonisierung großer Kulturnationen wie des Iran ist ihre Wiedereingliederung in den Kreis gleichberechtigter Nationen – mit allen Rechten, allerdings auch mit allen Pflichten.

Der Iran ist für den Westen vor allem deshalb ein Problem, weil er ihn zur Strafe für die Vertreibung des prowestlichen Schah-Regimes geächtet und dadurch jeden Einfluss auf seine Politik verloren hat. Diese Entwicklung ist nicht unumkehrbar. „Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, umarme ihn“, sagt ein weises Sprichwort. Die Mehrheit der Iraner ist prowestlich eingestellt. Sie wartet und hofft auf den Westen. Aber nicht auf seine Bomben, die wie immer vor allem Unschuldige töten würden. Und auch nicht auf die Invasion seiner Soldaten, sondern auf die „Invasion“ seiner Geschäftsleute, Techniker und Touristen.

Die komplexen Probleme des Mittleren Ostens lassen sich nur politisch lösen – multilateral am besten durch eine KSZE-ähnliche Sicherheits-, Gewaltverzichts- und Menschenrechtskonferenz für die gesamte Region. An ihr müssen neben dem UN-Sicherheitsrat alle wichtigen Akteure der Region beteiligt werden – einschließlich Syriens, des Iran und der demokratisch gewählten Repräsentanten Palästinas. Auch bilateral werden die USA mit Iran und Syrien verhandeln müssen, genauso wie mit dem afghanischen und dem irakischen Widerstand.

Die Alternative zu verantwortungslosen Kriegen besteht wie im Ost-West-Konflikt der 70er- und 80er-Jahre in harter, aber fairer Diplomatie. Sie wird wie der damalige KSZE-Prozess letztlich nur Sieger kennen. Der KSZE-Prozess und die zahlreichen parallel geführten bilateralen Verhandlungen brachten Osteuropa Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und wachsenden Wohlstand. Gesamteuropa schenkte er stabilen Frieden und Abrüstung. „Aus Todfeinden wurden Freunde – ohne dass ein einziger Schuss fiel“ (Hans-Dietrich Genscher).

Vielleicht entsteht auch im Mittleren Osten eines Tages ein gemeinsamer Wirtschaftsraum oder sogar noch mehr. Wer hätte vor sechzig Jahren ein Vereintes Europa für möglich gehalten? Politik braucht Visionen, auch im Mittleren Osten.

Die Hauptgefahr unserer Zeit besteht nicht im Appeasement. Sie besteht darin, dass abendländisch-patriotische Sofa-Strategen, die sich ihren klammheimlichen antimuslimischen Rassismus von niemandem nehmen lassen wollen, die Welt in einen ähnlich törichten Automatismus von Gewalt und Gegengewalt hineinschlittern lassen wie jenen, der zum Ersten Weltkrieg führte.

Staatskunst statt Kriegskunst, wachsames, geduldiges und zähes Verhandeln – das ist wie im Ost-West-Konflikt die richtige Strategie gegenüber der muslimischen Welt. Nur in einer gerechten Weltordnung finden Terroristen aller Richtungen keinen Nährboden. Nur in einer gerechten Weltordnung kann auch der Westen dauerhaft in Frieden leben.

Im Kampf gegen den angeblich muslimischen Terrorismus muss daher unser Motto lauten: Härte und Gerechtigkeit – Härte gegenüber den Terroristen, Gerechtigkeit gegenüber der muslimischen Welt.

Ziel muss eine Welt sein, in der wir anderen Staaten nur das zumuten, was wir selbst auch akzeptieren würden. Eine Welt, in der Schluss ist mit der Diskriminierung von Muslimen im Westen und Schluss mit der Diskriminierung von Juden und Christen in der muslimischen Welt. Eine Welt, in der die USA und Europa bewunderte Symbole des Friedens und der Freiheit und nicht mehr des Krieges und der Unterdrückung sind. Eine Welt, in der jeder den Balken im eigenen Auge sieht und nicht nur den Splitter im Auge des anderen.

Jürgen Todenhöfer

Jürgen Todenhöfer war 18 Jahre lang Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Unionsparteien für Entwicklungshilfe und Rüstungskontrolle. Die hier dargestellten Thesen sind in voller Länge als Buch mit dem Titel “Feinbild Islam: Zehn Thesen gegen den Hass” >> [kaufen] erhältlich und werden den Lesern von IFAIR an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Todenhöfer zur Verfügung gestellt.