Scheinriese Russland: Modernisierung als Weg hin zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit der EU.

Scheinriese Russland: Modernisierung als Weg hin zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit der EU.

Russland konnte bislang nicht in ein beständiges strategisches Verhältnis mit der EU einbezogen werden. Für eine Partnerschaft auf ‚Augenhöhe‘ mit der EU ist die Föderation in der Tat zu schwach. Die Energieträger des Landes stellen kein solides Fundament „russischer Größe“ dar. Stattdessen geht die Rohstoffabhängigkeit eine gefährliche Ehe mit sozialen Problemen sowie der einseitigen Einbettung Russlands in den europäischen Handel ein. Russland könnte in seiner Rolle als ‚Tankstelle‘ des Westens verharren und den Anschluss in Sachen high tech verpassen. Je schwächer Russland indes wird, desto größer werden auch die Gefahren für Europa.

1. Die These vom „russischen Riesen“ und deren reale Grundlage

Seit Goldman Sachs Russland im Jahr 2003 in eine Reihe mit Brasilien, Indien und China (BRIC) stellte, begannen die Narrative um die vermeintliche Größe des „russischen Riesen“ in großer Zahl zu gedeihen. Die reale Wachstumsrate von 7% ließ westliche Beobachter staunen. Mithilfe der drittgrößten Außenhandelsreserven der Welt konnte Russland, so der hessische Ministerpräsident Roland Koch, „den ganzen Dax kaufen“ (Sueddeutsche 2007). Ob dieser scheinbaren Größe forderten manche Experten gar, die EU solle gegenüber Russland eine Strategie der „selektiven Opposition“ (Edwards 2006, S.29-34) im Gewande transatlantischer Bündnispolitik einschlagen. Ist Russland also wirklich ein wirtschaftlicher Riese dem man mit harter Hand begegnen soll?

a) Russlands Rohstoffe und die Wirtschaftskrise

Da Russlands Rohstoffe den gesamten Wirtschaftszyklus bestimmen, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Exporten, Staatseinnahmen und Binnennachfrage. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung des Ölpreises sowie des russischen Außenhandels und der Energieexporte. Zwischen 2002 und 2008 ist der Ölpreis auf über $80/bbl gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben die Exporte sich verdreifacht und der Anteil von Öl und Gas an den Exporten ist auf ganze 67% im Jahr 2008 gestiegen.

Abbildung 1: Russlands Außenhandel und der Ölpreis

Letzteres ist wohlgemerkt größtenteils auf gestiegene Preise denn auf ein quantitatives Wachstum zurückzuführen – Russlands Exporte würden halbiert, bliebe der Ölpreis ein Jahr lang bei rund $50/bbl (Hanson 2009, S. 2). Der russische Staat schöpft die Hälfte seiner Einnahmen aus Steuern und Ausfuhrzöllen auf Energieträger. Mit dem steigenden Ölpreis kletterten auch die Staatseinnahmen von etwa €75 Mrd. im Jahr 2000 auf über €400 Mrd. im Jahr 2008, was in etwa den Einnahmen Spaniens entsprach. Das BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten (KKP) verdoppelte sich, der Konsum wurde angekurbelt und russische Firmen genossen eine märchenhafte Kaufkraft. Diese sicherte ihre umfangreichen Auslandsdarlehen ab.[1]

Im Herbst 2008 verkehrte die Wirtschaftskrise diese Wachstumsmaschine ins Gegenteil. Der Ölpreis fiel auf $34/bbl und zog die Mittel der öffentlichen Hand, die Unternehmensprofite und die Haushaltseinkommen in einer regelrechten Abwärtsspirale mit nach unten. Der Preisverfall verminderte die Kaufkraft russischer Unternehmen auf drastische Weise. Der damit einhergehende Vertrauensverlust westlicher Gläubiger sorgte für eine massive Kapitalflucht und schnitt Unternehmen und Banken de facto von den Kapitalmärkten ab. Die Kapitalflucht wertete den Rubel ab und erhöhte so wiederum automatisch die Schuldenlast des privaten Sektors. Um diesen Effekt abzufangen, verbrauchte die Zentralbank allein zwischen September 2008 und Januar 2009 rund ein Viertel ihrer Reserven. Der staatliche Reservefonds schmolz bis Januar 2011 auf einen kleinen Bruchteil der ursprünglichen Summe. Insgesamt musste das Land Maßnahmen ergreifen, die 13% des BIP entsprachen (OECD 2009, S.36). Von einem Aufkauf des Dax kann also keine Rede sein – ganz abgesehen davon, dass die Reserven hierfür nie vorgesehen waren.

Der grundlegende Mechanismus kann sich also mit folgender Formel zusammenfassen lassen: Steigt der Ölpreis, dann steigen Staatseinnahmen und Binnennachfrage und kurbeln die Wirtschaft an. Fällt er allerdings unter ein kritisches Maß, so kann alleine dieser Preiseffekt die gesamte Wirtschaft in eine Abwärtsspirale stürzen. Dies ist der Hauptgrund für die Schwere der russischen Rezession und ihre Folgen. Solange Russland in solcher Weise am Öltropf[2] hängt, bleibt es enorm verwundbar, da es die Weltmarktpreise nicht beeinflussen kann. Hinzu kommt, dass es kaum absehbar ist ob Russland nur annähernd zu den starken Wachstumsraten der Vorkrisenjahre zurückkehren kann.

b) Die Rolle des Staates in der Wirtschaft

Da Staatshaushalt und private Wirtschaft am Öltropf hängen, sind die Rohstoffeinnahmen auch der Schlüssel zu politischer Stabilität. Denn sie verschaffen der staatlichen Bürokratie die wesentlichen Gestaltungsmöglichkeiten, zu denen es aufgrund der Wirtschaftsstruktur kaum Alternativen gibt. Ein Verständnis dieser „Herrschaftslogik“ (Schneider-Deters 2008, S.118) ist also unabdingbar für eine realistische Einschätzung der von Putin und Medwedew gewählten politischen Strategien und deren Folgen.

Über die halbstaatliche Gazprom kontrolliert der russische Staat die Gaspreise auf dem Inlandsmarkt sowie den Export und betreibt so eine dezidierte Sozial- und Wirtschaftspolitik. Der durchschnittliche Inlandspreis von Gazprom betrug im Jahr 2010 nur ein Drittel des Exportpreises für Westeuropa. Die aus der Preispolitik und den sowjetischen Strukturen resultierende Ineffizienz führt dazu, dass zwei Drittel des geförderten Gases auf dem Inlandsmarkt verbraucht werden.

Die Abhängigkeit des Staates von Ressourcenprofiten scheint die Kontrolle strategischer Bereiche durch die Politik zur Voraussetzung für deren Handlungsfähigkeit zu machen. Der Energiesektor avanciert also durch seine große Relevanz zur Stütze des Regimes. Die andere Seite dieser Medaille ist, dass dies die Aussichten auf Innovation und Diversifizierung der Wirtschaft dämpft.

c) Soziale und demographische Krise

Russlands soziale Probleme tragen weiterhin zur Verringerung der Wachstumsaussichten bei. Die Spanne zwischen Arm und Reich ist innerhalb der russischen Regionen sowie zwischen diesen enorm groß. Die zehn wirtschaftsstärksten der 85 russischen Republiken, Gebiete und Regionen erwirtschaften knapp 60% des BRP (Zubarevich 2008, S.2). Dies könnte man durchaus als ‚Geographie der Gewinner und Verlierer‘ bezeichnen.
Gemäß der Soziologin Natalja Tichonova (2011) sind bis zu 50% der russischen Bevölkerung zeitweise oder chronisch arm[3]. Das oberste Fünftel der russischen Bevölkerung bezieht mittlerweile beinahe die Hälfte des Gesamteinkommens während der Anteil des untersten Fünftels am Gesamteinkommen sich gar halbiert hat und nun bei nur noch 5% liegt. Eine kaufkräftige wie politisch aktive und verlässliche Mittelschicht kann aus diesen Bedingungen nicht erwachsen.

Diese Probleme werden noch von einer demographischen Krise überlagert. Rosstat[4] schätzt, dass die arbeitsfähige Bevölkerung bis 2025 um bis zu 14 Millionen schrumpfen wird (UNDP 2008, S.20). Da die Gesellschaft gleichzeitig altert, wird dieser Teil der Bevölkerung enorm belastet werden. Dabei besteht keine realistische Möglichkeit, den Bevölkerungsrückgang durch Migration zu kompensieren. Ein jährlicher Zufluss von 500 000 Menschen würde die russische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe stellen und schon heute ist Xenophobie ein existenzielles Problem. Armut und massive soziale wie regionale Disparitäten destabilisieren das Land und verlangen föderale Transfers. Das könnte die Tendenz des Staates, die Rohstoffe zur Sozialpolitik einzusetzen, verstärken. Allein die ambivalente Wirtschaftsstruktur Russlands muss also Zweifel an der These vom russischen Riesen aufkommen lassen.

2. Die Handelsbeziehungen zwischen Russland und der EU 27

a) Eine asymmetrische Beziehung

Russland setzt beinahe 56% seiner Exporte in der EU ab und bezieht knapp 44% seiner Importe aus der Union. Dabei hat sich der Anteil der EU an Russlands Güterimporten seit 1995 mehr als verdoppelt (Havlik/Stöllinger 2010, S.21). Aus russischer Sicht sind damit die EU-Staaten die wichtigsten Handelspartner. Umgekehrt ist Russland aber relativ unbedeutend für die EU – nur 8% der Extra-EU-Exporte fließen nach Russland und gut 11% der Extra-EU-Importe stammen von dort. Zudem ist die Handelsstruktur der EU diversifizierter als jene Russlands: es müssen die neun wichtigsten Exportpartner der EU berücksichtigt werden um auf einen Anteil von 56% an den Exporten zu kommen (Kommission 2010a). Das quantitative Verhältnis im Handel zwischen Russland und EU ist somit ausgesprochen asymmetrisch.

Abbildung 2: Russlands Exporte in die EU

Knapp 89% der EU-Exporte nach Russland bestehen aus Maschinen, technischen Geräten und chemischen Produkten. (Abbildung 2). Die Exporte der EU zeugen also von einer starken verarbeitenden Industrie. Russland ist spiegelbildlich in die internationale Arbeitsteilung eingebettet. Energieausfuhren dominieren die Exporte zu zwei Dritteln. Der Anteil primärer Stoffe an den russischen Exporten (Metalle sowie Kohle-und Bauholz einbezogen) liegt gar bei über 80%. Bis zu 65 % der gesamten Energieexporte Russlands werden in der EU abgesetzt (Beutin 2007, S.33). Es fließt also zwei Drittel des Stoffes, der die Hälfte des russischen Budgets generiert, nach Europa. Bedenkt man, dass allein der Ölsektor für 25% des russischen Wachstums verantwortlich ist, so ist Russlands Wachstum an den europäischen Energiekonsum gekoppelt. Die relative Importabhängigkeit der EU in Sachen Energie ist also nur eine Seite der Medaille – die signifikante Abhängigkeit Russlands vom Absatzmarkt Europa die andere. Auch aus qualitativer Perspektive ist das Verhältnis somit asymmetrisch, da Russland eher als Rohstofflieferant denn als Partner im Intra- Industriehandel auftritt. Die Spielräume der EU sind in der Handelspolitik daher eindeutig größer als jene Russlands.

b) Partnerschaft auf Augenhöhe? – Die Implikationen des ungleichen Verhältnisses

Eine Partnerschaft auf Augenhöhe würde voraussetzen, dass Russland über ähnlich große Handlungsspielräume verfügt wie die EU. Medwedews Russland zählt aber nicht ganz ein Drittel der Einwohner Europas und die arbeitsfähige Bevölkerung wird sich dramatisch verringern. Das BIP(KKP), welches Russlands Wohlstand sehr großzügig bewertet, liegt in der Größenordnung Frankreichs (Tabelle 1). Im Bereich der Energieträger ist Russlands Ressourcenpotenzial enorm. Die EU verfügt hier über keinerlei nennenswerte Vorkommen. Mindestens mittelfristig bleiben hier Spielräume für Russland erhalten. Die Konzentration der Export- und Importmärkte schränkt Russlands Handlungsspielräume gegenüber der EU aber ein. Dies lässt in Verbindung mit Russlands sozioökonomischen Problemen den Schluss zu, dass die Föderation über wesentlich geringere wirtschaftspolitische Handlungsspielräume als die EU verfügt. Von einer Partnerschaft auf Augenhöhe kann daher auf Basis ökonomischer Zusammenhänge nicht gesprochen werden.

Abbildung 3: Handlungsspielräume Russlands und der EU

Indes wäre genau ein solches Verhältnis auf Augenhöhe für die EU wünschenswert. Erstens ist zu erwarten, dass der Staat seine Rolle im Energiesektor beibehält, um weiterhin Mittel für Subventionen abschöpfen zu können. Die russischen Energiepreise werden also mittelfristig weit unter dem europäischen Niveau bleiben und für eine ineffiziente Energienutzung sorgen. Da Europas Erdgasnachfrage steigt, müsste Russland seine Exporte merklich steigern, was aber angesichts der Preispolitik wie mangelnder Investitionen unrealistisch erscheint. Bleibt die Rolle des Staates beibehalten, so werden auch keine Anreize für sichere Investitionen geschaffen, die dringend nötig wären. In Schocksituationen fliehen europäische Investoren und können das Land dadurch erheblich destabilisieren. Die gegenüber Russland so oft geforderte ökonomische wie politische Verlässlichkeit kann aus einem solchen Verhältnis nicht erwachsen. Zweitens scheinen auf dieser strukturellen Grundlage die Versuche, russische Märkte weiter zu öffnen und den Handel zu liberalisieren zum Scheitern verurteilt. Russlands Eintritt in eine Zollunion mit Kasachstan, der Ukraine und Weißrussland im Januar 2010 ist in diesem Sinne auch eine Reaktion auf dessen verminderte internationale Wettbewerbsfähigkeit.[5] Drittens würde ein sich verstetigendes Wohlstandsgefälle zwischen Russland und Europa die Abwanderung verschärfen und damit den „Migrationsdruck“ (Kieserling 2009) erhöhen. Schließlich kann die fragile Lage im Nordkaukasus leicht auf den Süden übergreifen. Und in diesem Fall wird die EU – wie der Georgienkrieg gezeigt hat – mit existenziellen Kämpfen in ihrer Nachbarschaft konfrontiert.

Fassen die EU und Russland jedoch ernstlich das Ziel ins Auge, auf ein prosperierendes Russland hinzuarbeiten, so wird Russland als Partner auch verlässlicher. Denn der scheinbar so komplementäre Austausch von Ressourcen gegen Technik hat für nicht wenige Russen auch einen neokolonialen Beigeschmack (Peróvic 2003: 6). Wie Susan Stewart (2011, S. 18) herausstellt, ist die russische Elite außerdem versucht, ihre internen Schwächen außenpolitisch zu kompensieren. Gerade in der gemeinsamen Nachbarschaft dürften solche Tendenzen sich sehr negativ auf die Partnerschaft EU-Russland auswirken.

Es ist richtig, dass Modernisierung nicht automatisch zu Demokratie führt. Wer aber nicht darüber reden will, was passiert wenn eine Modernisierung Russlands ausbleibt, sollte auch von der vermeintlich einzigen Möglichkeit einer härteren Linie gegenüber der Föderation schweigen.

Malvin Oppold

Malvin Oppold ist regelmäßiger Autor bei IFAIR. Er hat seinen Bachelorabschluss
im Fach European Studies mit Schwerpunkt Osteuropa an der Otto-von Guericke
Universität Magdeburg abgeschlossen. Die  Russland-EU Beziehungen sowie die
politische Ökonomie Russlands bilden die Interessenschwerpunkte des Autors.


Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: eigene Darstellung; Havlik 2010, S.8
Abbildung 2: eigene Darstellung; Eurostat 2008, S.46f.
Abbildung 3: eigene Darstellung

Literaturempfehlung

Zur Finanzmarktproblematik in Russland:

Connolly, R., 2009. Financial Vulnerabilities in Russia, Russlandanalysen, [online] Verfügbar unter: http://www.laender-analysen.de/russland/rad/pdf/Russian_Analytical_Digest_65.pdf [ Zugriff am 12 November 2011].

Kritische Auseinandersetzung mit der russischen Wirtschaftsentwicklung:

Hanson, P., 2007. The Russian Economic Puzzle: going forwards, backwards or sidewards? International Affairs 83 (5), S. 869-889.

Fundierte Einführung in die Russland-EU Beziehungen und ihre problematischen Aspekte:

Schneider-Deters, W., Schulze, P. W., Timmermann H., 2008. Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.

Alternativ hierzu:

Schulze, Peter W., 2011. Russland und die Europäische Union. Eine mühevolle Interdependenz zwischen Geopolitik und Modernisierung [online] Verfügbar unter: http://www.bpb.de/themen/H0SFPD,0,Russland_und_die_Europ%E4ische_Union.html


Bibliographie

Die ausführliche Bibliographie zum Artikel findest du hier.



[1] Insgesamt betrugen die Auslandsdarlehen russischer Firmen Ende 2008 gut 25% des BIP. Die Banken schöpften zusätzlich Kredite in Höhe von 15% des BIP im Ausland (Connolly, 2009, S. 4).

[2] Dimitri Medwedew hat sein Land in diesem Zusammenhang im Interview mit dem SPIEGEL als abhängig von der „Droge Öl“ (Neef, 2009).

[3]Das ist auf die großen Einkommensunterschiede sowie das geringe monatliche Durchschnittseinkommen von etwa €500 zurückzuführen. Arm ist nach der Definition von Rosstat, wer über weniger als die Hälfte des staatlich definierten Subsistenzminimums von derzeit €146 verfügt.

[4] Bezeichnung für das nationale Statistikamt.

[5] Russland wird dennoch Ende des Jahres 2011 der WTO beitreten. Dies heißt aber nicht automatisch mehr Freihandel. Russland muss vorerst keinerlei Einfuhrzölle abbauen und kann sich vielfältiger, innerhalb der WTO erlaubter, Schutzmaßnahmen bedienen (Obolenskij, 2011, S. 2f.).