Die erschreckende Alltäglichkeit der Folter – eine Bestandsaufnahme

Die erschreckende Alltäglichkeit der Folter – eine Bestandsaufnahme

Als Sonderberichterstatter über Folter der Vereinten Nationen untersuchte Menschenrechtsexperte Manfred Nowak Gefängnisse, Polizeizellen, psychiatrische Anstalten und sonstige geschlossene Einrichtungen weltweit. Er kam zu dem erschreckendem Ergebnis: In mehr als 90 Prozent aller Staaten findet Folter statt. Im Interview mit dem Diplomatischen Magazin, Partner von IFAIR e.V., gibt der Professor für internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien einen aufrüttelnden Einblick in den aktuellen Ist-Zustandes. 

Professor Nowak, Sie haben innerhalb von sechs Jahren in 18 Staaten der Welt die Folter und Folterinstrumente untersucht. Was verstehen Sie unter Folter?

Folter ist die vorsätzliche Zufügung schwerer physischer oder psychischer Schmerzen oder Leiden gegenüber einer wehrlosen, in der Regel inhaftierten Person zu einem bestimmten Zweck, wie der Erzwingung eines Geständnisses oder der Herausgabe von Informationen, aber auch zur Einschüchterung oder Bestrafung des Opfers. Physische Formen der Folter sind neben Schlägen und Fußtritten auch Verbrennungen, Elektroschocks, Aufhängen usw.

Psychische Formen bezwecken vor allem die Brechung des Willens der Opfer durch die Desorientierung der Sinne, indem den Opfern eine Kapuze übergestülpt wird, die Augen verbunden werden, sie starkem Lärm, großer Hitze oder Kälte ausgesetzt werden, sie lange in Isolationshaft festgehalten werden, durch Schlafentzug oder Todesdrohungen. Wenn Folter, wie in vielen Staaten, weit verbreitet oder gar systematisch praktiziert wird, so stellt dies natürlich eine Form struktureller Gewalt dar.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Lage in den verschiedenen Ländern beurteilt? Gab es ein Raster?

Von den 18 untersuchten Staaten habe ich nur in Dänemark (einschließlich Grönland) keinen einzigen Fall von Folter gefunden. In anderen Staaten kommt Folter nur vereinzelt vor, beispielsweise auch in Österreich und anderen EU-Staaten. In der Mehrheit der Staaten dieser Welt geht die Folter aber leider über Einzelfälle hinaus, ist also weit verbreitet, Routine oder gar systematische Praxis. Systematische Folter im Sinne einer von höchsten Stellen angeordneten oder zumindest tolerierten Praxis habe ich in Äquatorial-Guinea und in Nepal festgestellt. Aber gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel Aufständischen in Sri Lanka oder des Terrorismus’ verdächtigen Personen in Jordanien, war sie auch dort systematisch.

In welchen Ländern wird am schlimmsten gefoltert? In welchen Ländern gibt es wenig Folter?

Natürlich ist die Folter, wie andere Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen, weiter verbreitet als in funktionierenden Demokratien und Rechtsstaaten. Aber das ist nur ein Kriterium. In Staaten mit einem Vergeltungsstrafrecht, wie in den USA, China, der Russischen Föderation und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sind viel mehr Menschen im Gefängnis und die Haftbedingungen viel schlechter als in Staaten, deren Strafrechtssystem an modernen Theorien der Resozialisierung und Rehabilitierung von Straftätern orientiert ist, wie in den meisten Staaten Westeuropas, insbesondere aber in Nordeuropa. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die USA, trotz ihrer unbestreitbaren demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften, weiterhin an der Todesstrafe festhalten und unter der Bush- Regierung auch zu einem Folterstaat wurden. Berüchtigt für ihre Foltermethoden waren zum Beispiel die von den USA unterstützten Militärdiktaturen der 1970er Jahre in Lateinamerika, die griechische Militärjunta zwischen 1967 und 1974, die türkische Militärregierung der 1980er Jahre, afrikanische Diktaturen und kommunistische Staaten. Heute ist die Folter wahrscheinlich in Nordkorea, in afrikanischen Diktaturen wie Zimbabwe und Äquatorial-Guinea sowie in vielen islamisch geprägten Staaten wie Ägypten, Syrien, Libyen oder dem Sudan besonders weit verbreitet. In Europa wird über die meisten Fälle von Folter aus Russland, Weißrussland, der Ukraine und der Türkei berichtet, was zum Beispiel auch durch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des UNOAusschusses über Menschenrechte bestätigt wird.

In welchen Ländern wurden jüngst die größten Fortschritte erzielt? Wo muss noch viel getan werden?

Die größten Fortschritte werden in Ländern erzielt, in denen nach Jahren der Diktatur und Unterdrückung demokratische Strukturen etabliert werden konnten: in den meisten Staaten Lateinamerikas, in Südafrika, den ex-sowjetischen Staaten Europas und der Türkei. Das Gleiche gilt natürlich für Staaten, in denen Bürgerkriege gewütet haben und in denen, oft mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft, Friedensoperationen durchgeführt werden wie in Sierra Leone, Liberia, Ruanda, Guatemala, El Salvador, Kambodscha, Osttimor, Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo. Derzeit gibt es große Fortschritte zum Beispiel in Myanmar und hoffentlich auch in den vom Arabischen Frühling betroffenen Staaten wie etwa in Tunesien.

In welchen Ländern ist die Gesetzgebung bezüglich Folter zwiespältig? Warum?

Folter ist im Völkerrecht absolut und ausnahmslos verboten, sodass Folter von den Regierungen in den seltensten Fällen zugegeben oder gar verteidigt wird. Eine seltene Ausnahme war die Bush-Regierung in ihrem sogenannten „Krieg gegen den Terror“, in dem die USA mit zweifelhaften Rechtsgutachten versucht haben, Folter zu legitimieren und das absolute Folterverbot gegen nationale Sicherheitsinteressen abzuwägen. Eine vergleichbare Politik gab es in den 1990er-Jahren auch in Israel. Wo die Scharia als nationales Strafgesetz angewandt wird, wie im Iran, in Afghanistan zur Zeit des Taliban-Regimes, im Sudan, in Saudi-Arabien und anderen islamischen Staaten, werden unmenschliche Strafen wie Amputationen von Gliedmaßen oder gar die Steinigung von Frauen wegen Ehebruchs praktiziert, was natürlich auch eine Form der gesetzlich unterstützten Folter darstellt.

Sind Geheimgefängnisse und „gewisse Methoden“ gegen den Terror legitim? Wie schätzen Sie Theorie und Praxis in den USA ein?

Geheimgefängnisse sind ausnahmslos verboten und daher nie legitim. Menschen, die in Geheimgefängnissen festgehalten werden, sind Opfer des Verbrechens des „Erzwungenen Verschwindenlassens“. Die dafür Verantwortlichen sollten daher strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Bush-Regierung hat in ihrem „Krieg gegen den Terror“ schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, einschließlich von weit verbreiteter Folter, dem Verschwindenlassen von Personen, „extraordinary Rendition“-Flügen mit von der CIA gecharterten Privatflugzeugen zur Umgehung des internationalen Flugverkehrsrechts. Viele des Terrorismus verdächtige Personen sitzen noch immer in Lagern wie in Guantanamo Bay und sind daher Opfer verschiedener Menschenrechtsverletzungen, wie dem Recht auf persönliche Freiheit, dem Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht, dem Folterverbot. Auch unter der Obama-Regierung sind diese schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen nie entsprechend untersucht worden, was auch bedeutet, dass weder die Verantwortlichen unter der Bush- Regierung zur Rechenschaft gezogen wurden noch die Opfer Wiedergutmachung erhalten haben. Alle Versuche, diese Praktiken der Bush-Regierung, zum Beispiel durch zweifelhafte „Rechtsgutachten“ aus dem Justizministerium zu rechtfertigen, waren
natürlich zum Scheitern verurteilt, weil die Folter und das „Erzwungene Verschwindenlassen“ im Völkerrecht ausnahmslos und absolut verbotene Verbrechen sind.

Durch welche Maßnahmen kann Folter verhindert werden?

Es gibt eine breite Palette von Maßnahmen, durch die Folter verhindert werden kann, wenn der politische Wille dafür besteht. Da Folter zur Erzwingung eines Geständnisses in der Regel in den ersten Stunden und Tagen der Polizeihaft passiert, sollte diese Haft so kurz wie möglich (24 bis maximal 48 Stunden) sein. Polizeiverhöre sollten durch die Anwesenheit von Anwälten oder durch Audio- oder Video-Aufnahmen überwacht werden, alle Häftlinge sollten am Beginn und am Ende der Haft von Ärzten mit forensischer Expertise untersucht werden. Häftlinge sollten eine reale Möglichkeit haben, sich über Folter an eine unabhängige polizei-externe Beschwerdestelle zu wenden, die sofort eine professionelle Untersuchung durchführt. Die Straflosigkeit der Folterer sollte beendet werden, indem alle Personen, die foltern, sowie deren Vorgesetzte und Auftraggeber strafrechtlich verfolgt werden. Besonders effektiv sind unabhängige nationale Expertenkommissionen, die regelmäßige und unangekündigte Besuche an allen Orten durchführen, wo Menschen ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind (Polizeidienststellen, Untersuchungsgefängnisse, Strafvollzugsanstalten, psychiatrische Anstalten, Schubhaftgefängnisse, geschlossene Anstalten für Jugendliche, Flüchtlinge, Drogenabhängige etc.). Diese sogenannten „nationalen Präventionsmechanismen“ müssen von allen Staaten eingerichtet werden, die das Fakultativprotokoll zur UNO-Konvention gegen die Folter ratifiziert haben.

Welche internationalen Organisationen zur Bekämpfung von Folter gibt es? Wie schätzen Sie deren Arbeit ein?

Die Folter ist nicht nur im Rahmen der Vereinten Nationen, sondern auch im Rahmen vieler Regionalorganisationen wie dem Europarat, der Europäischen Union, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS), der Afrikanischen Union (AU) und der Arabischen Liga absolut und ausnahmslos verboten. Im Rahmen dieser Organisationen wurden verschiedene völkerrechtliche Verträge und Organe eingerichtet, zu deren Aufgabe es gehört, die Situation der Menschenrechte einschließlich des Folterverbots in ihren Mitgliedstaaten zu überwachen. Dazu gehören der Europäische-, der Inter-Amerikanische und Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte, der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und verschiedene Vertragsüberwachungsorgane der Vereinten Nationen wie der UNOAusschuss über Menschenrechte. Spezielle Organe zur Überwachung und Verhütung der Folter sind zum Beispiel der UNO-Ausschuss gegen die Folter und sein Unterausschuss zur Verhütung der Folter, der UNO-Sonderberichterstatter über Folter, der UNO-Fonds für Folteropfer, das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter sowie Sonderberichterstatter der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission und der Afrikanischen Kommission für die Rechte der Menschen und Völker. Im Allgemeinen arbeiten diese Organe unabhängig und effektiv, doch hängt ihr Erfolg natürlich von der Bereitschaft der Staaten ab, ihre Urteile, Entscheidungen und Empfehlungen entsprechen umzusetzen.

Interview: Beate Baldow (Diplomatisches Magazin)