Global Zero und Raketenschild – Zwei unvereinbare Ziele US-amerikanischer Außenpolitik?

Global Zero und Raketenschild – Zwei unvereinbare Ziele US-amerikanischer Außenpolitik?

Der Schutz vor nuklear bewaffneten „rogue states“ und die Erreichung einer nuklearwaffenfreien Welt sind gegenwärtig Ziele der US-amerikanischen Außenpolitik. Können beide Ziele überhaupt gleichzeitig erreicht werden, und wenn ja, wie?

Die USA möchten die Welt nuklearwaffenfrei machen – so lautet das außenpolitische Ziel, welches Präsident Barack Obama in seiner Rede in Prag im April 2009 ankündigte. Nach der aussichtsreich anmutenden und relativ schnellen Ratifizierung des New START im Jahr 2010 ist in dieser Hinsicht in Obamas erster Amtszeit nicht mehr viel geschehen, jedoch sind weitere Maßnahmen und Initiativen für die zweite Amtszeit angekündigt, auf die man gespannt sein darf. Auch die Etablierung eines Raketenabwehrsystems, um die Vereinigten Staaten und ihre europäischen (und später auch außereuropäischen) Verbündeten gegen Angriffe von so genannten „rogue states“ zu schützen, ist ein festes Ziel der amerikanischen Außenpolitik, was Präsident Obama zuletzt in seiner State of the Union-Rede im Februar 2013 bekräftigte. Kann aber nicht der Aufbau eines Defensivsystems in eine Aufrüstungsspirale führen? Der ABM-Vertrag, der die Errichtung eines solchen Systems verboten hatte, wurde zum dem Zweck geschlossen, das bestehende „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA nicht zu gefährden. Natürlich ist die Bedrohungslage nach Ende des Kalten Krieges inzwischen eine andere und damit auch die Anforderungen an ein Raketenabwehrsystem. „Rogue states“ wie Iran oder Nordkorea verfügen nicht über tausende Nuklearsprengköpfe auf hochentwickelten und schwer abzufangenden Raketen. Aber gerade mit Blick auf eine weitere nukleare Abrüstung zur Erreichung von „Global Zero“ könnte es in Zukunft passieren, dass auch ein kleines Abwehrsystem die Abschreckungsfähigkeit von großen Akteuren wie etwa Russland gefährden könnte. Gemessen an der russischen Opposition zu einem US-Raketenschild ist dieses aufkommende Dilemma durchaus als real zu betrachten. Wie lassen sich beide Ziele vereinbar zu machen, ohne das jeweils andere zu gefährden?

Russische Kooperation ist sowohl für Raketenschild als auch für Global Zero notwendig

Da Russland über das nächstgrößte Nuklearwaffenarsenal nach den USA verfügt, ist jede weitere weltweite Abrüstung in erster Linie von der russischen Kooperationsbereitschaft abhängig. Offensichtlich fühlt sich Russland jedoch vom geplanten Raketenabwehrsystem in Europa bedroht, was sich in vehementem Widerstand gegenüber der Einrichtung von Raketenbasen in Osteuropa und der Ankündigung der Neuentwicklung von Trägerraketen äußert, die resistent gegenüber Abwehrraketen sein sollen. Russland geht sogar so weit, damit zu drohen, in der russischen Enklave Kaliningrad Kurzstreckenraketen zu stationieren und Angriffe auf NATO-Militärbasen auszuführen, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Technologisch gesehen ist das amerikanische Raketenabwehrsystem allerdings frühestens 2020 in der Lage, russische Interkontinentalraketen theoretisch abfangen zu können, da die vorherigen Ausbaustufen des Systems ausschließlich auf die Abwehr von Raketen bis hin zu mittlerer Reichweite (bis zu 4500 km) ausgerichtet sind. Jedoch gehen russische Stellen offensichtlich davon aus, dass das System sich mittelfristig zur Bedrohung der russischen Sicherheit entwickeln könne. Die Bedenken sind insofern nachvollziehbar, da der Raketenschild von seiner grundsätzlichen Gestaltung her keine Begrenzungen hat, einerseits bezogen auf Technologien, andererseits auf die Anzahl der Abwehrsysteme. Es lässt sich folglich unterstellen, dass Russland vor allem die zukünftige Entwicklung des Systems kritisch sieht. Eine Vorhersage darüber, wie der Raketenschild in 20, 30 oder 40 Jahren aussehen wird, ist kaum möglich, aber die russische Seite versucht offensichtlich bereits jetzt, Einfluss auf die weitere Ausgestaltung zu nehmen, und zwar durchaus mit einer gewissen Vehemenz. Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass die USA mit dem Aufbau des Abwehrschirms in Zukunft die russische Abschreckungsfähigkeit ins Visier nehmen wollen, allerdings sollten die Bedenken Moskaus von Seiten der NATO ernster genommen werden. Die russische Ablehnung dieses Projektes lässt sich nicht mit Unbedenklichkeitserklärungen beseitigen, weshalb es wichtig wäre, den östlichen Partner viel stärker als bisher in die Entwicklung und Ausgestaltung des Systems einzubinden.

Wie kann ein Raketenschild aussehen, welcher die russischen Sicherheitsbedenken berücksichtigt?

Die Gestaltung eines Raketenschildes müsste also dahingehend angepasst werden, dass die von russischer Seite wahrgenommene Bedrohung reduziert oder gar eliminiert wird. Ein denkbarer Weg dabei wäre, das System so anzupassen, dass es russischen Raketen gar nicht erst gefährlich werden kann. Im Moment ist dies noch der Fall: Erst die vierte Ausbaustufe des europäischen Abwehrsystems (European Phased Adaptive Approach, EPAA) wird überhaupt theoretisch in der Lage sein, Interkontinentalraketen abzufangen. Selbst dann ist es noch ungewiss, wann und ob es gegen das hochentwickelte russische Arsenal wirksam sein wird. Ein System, das explizit Raketen interkontinentaler Reichweite ausnimmt, sollte also die Sicherheit Russlands nicht gefährden können. Problematisch daran ist, dass auch bei den Staaten, die eigentlich das Ziel des Abwehrschirms sein sollen, mit Weiterentwicklungen gerechnet werden muss. Iran und Nordkorea führen in regelmäßigen Abständen Raketentests durch. Zwar ist in naher Zukunft nicht mit technologischen Durchbrüchen zu rechnen, es ist jedoch realistisch anzunehmen, dass auch „rogue states“ in Zukunft über interkontinentale Raketenkapazitäten verfügen könnten. Andere mögliche Einschränkungen, wie etwa eine Geschwindigkeitsbegrenzung für Abfangraketen oder eine Limitierung der gesamten Stückzahl derselben, sind aus dem gleichen Grunde gefährlich, da so nicht auf etwaige Neuentwicklungen der eigentlichen „Gegner“ reagiert werden kann.

Ist ein gemeinsam kontrollierter Raketenschild möglich?

Wenn sich die Limitierung des Abwehrsystems als nicht zielführend erweist, könnte womöglich die Etablierung eines gemeinsamen Raketenschildes Abhilfe schaffen. Ein solches System würde allerdings ein hohes Maß an Vertrauen zwischen beiden Parteien erfordern. Der wichtigste Punkt hier ist die „Command and Control“-Situation, also die Fähigkeit, darüber zu entscheiden, ob bei einem vermeintlichen Angriff ein Abfangversuch gestartet wird oder nicht. Bei einem gemeinsamen System wäre eben diese Fähigkeit geteilt, das heißt, es bedürfte der Zustimmung beider Seiten, um einen Abfangversuch einzuleiten. Für Russland wäre dies positiv: So ließe sich sicherstellen, dass der Raketenschild nicht gegen die russische Abschreckungskapazität eingesetzt werden kann. Gleichzeitig sieht die amerikanische Seite darin einen entscheidenden Nachteil, da Russland damit die Möglichkeit erhalten würde, einen Abfangversuch im Falle eines Angriffs zu verhindern. Damit ein solcher Fall eintritt, müsste nicht einmal eine böse Absicht einer Seite vorliegen. Die geheimdienstliche Datenlage um einen unangekündigten Raketenstart, zum Beispiel des Iran, könnte von beiden Parteien unterschiedlich interpretiert werden, sodass etwa die USA einen Angriff vermuteten, Russland den Start jedoch als harmlos erachtet. Seitens der Vereinigten Staaten wurde zudem bereits bekräftigt, dass russischer Einfluss auf die Entscheidungen zum Einsatz des Raketenabwehrsystems nicht akzeptiert werden können.

Misstrauen auf Grund der unterschiedlichen Wahrnehmung der Bedrohungslage

Die offensichtliche Kernproblematik ist ein grundsätzliches Misstrauen zwischen beiden Seiten. Russland schenkt den Beteuerungen der Amerikaner keinen Glauben, dass ein Raketenschild nicht gegen die russischen Abschreckungskapazitäten gerichtet sei, und umgekehrt vertrauen die USA Russland nicht genug, um eine tiefgreifende Teilhabe Moskaus am Raketenschild zu ermöglichen. Dieses Misstrauen ist zu einem großen Teil der unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmung geschuldet. Russland schätzt die Bedrohung aus dem Iran gegenwärtig weit weniger dringlich ein als die NATO. Zwar gab es in diesem Bereich in den letzten Jahren einige Bewegung. So verurteilte zum Beispiel der russische Außenminister Sergej Lawrow einen iranischen Raketentest im Jahr 2008 ungewöhnlich scharf und zeigte sich besorgt um die iranische Entwicklung von Raketentechnologie und dessen Vorhaben zur Anreicherung von Uran. Das russische Militär hingegen betrachtet die Gefahr, dass Iran in Zukunft über Interkontinentalraketen verfügen könnte, als weit entfernt und steht den amerikanischen Abwehrplänen kritisch gegenüber. Jedoch gibt es auch Signale von Seiten Moskaus, dass Russland unter gewissen Bedingungen ein NATO-Raketenschild tolerieren oder gar an diesem mitwirken könnte.

Möglichkeiten, Russland einzubinden

Wie ließen sich Moskaus Kapazitäten am besten in ein Raketenabwehrsystem integrieren, um durch eine Zusammenarbeit dennoch Vertrauen aufbauen zu können? Erfolg versprechend ist eventuell der Ansatz, die Russen dort einzubeziehen, wo sie für sich selbst keine Gefahr sehen, nämlich bei Abwehrsystemen für Raketen unterhalb interkontinentaler Reichweite. Auch muss nicht gleich das gesamte System geteilt werden. Im Bereich der Kooperation bei Frühwarndaten gibt es bereits einige Erfahrungen. Zum Beispiel sei hier das Joint Data Exchange Center (JDEC) genannt, ein russisch-amerikanisches Projekt, welches dem Austausch von Frühwarndaten über Raketenabschüsse dienen sollte und im Jahr 2000 von den Präsidenten Clinton und Putin ins Leben gerufen wurde. Nach Schwierigkeiten mit Finanzierung und Zuständigkeiten wurde dieses Projekt jedoch nach der Anfangsphase nicht mehr ernsthaft vorangetrieben und erst unter Barack Obama im Jahre 2010 wiederbelebt. Zudem gibt es ein gemeinsam betriebenes konventionelles Luftsicherheitszentrum mit Zentralen in Prag und Moskau, nach dessen Vorbild Zusammenarbeit im Bereich Raketenabwehr erfolgen könnte.

Ein Lösungsvorschlag – seperate but equal

Besondere Berücksichtigung verdient zudem ein Vorschlag der European Atlantic Security Initative (EASI), die das Modell eines gemeinsamen Raketenschildes mit getrennten „Command and Control“-Zentren ins Spiel gebracht hat. Hierbei sollen Frühwarndaten von russischen und NATO-Radaranlagen in Echtzeit zusammengeschaltet werden, wobei jeder Staat die Kontrolle über die eigenen Daten behält. Ein solches System eliminiert das Problem der Bestimmung über den Einsatz der eigenen Abfangsysteme und behält gleichzeitig den Vorteil der erweiterten Genauigkeit der Radardaten bei. Die EASI geht davon aus, dass der Aufbau eines solchen Systems nicht nur nützlich für dessen Effektivität ist, sondern auch die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland zu vertiefen hilft. Letztendlich ist nämlich genau das, eine vertrauensvolle Partnerschaft zwischen beiden Parteien, die einzige Möglichkeit, Sicherheit gegenüber nuklear bewaffneten „rogue states“ und die Annäherung an die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt gleichzeitig zu erreichen.

Stefan Maetz
Stefan studiert an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg den Masterstudiengang Friedens-und Konfliktforschung

Bibliografie

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