Mehr Willy Brandt wagen!
An Russland führt kein Weg vorbei! Die EU muss sich auf Russland zubewegen und ein gedeihliches Verhältnis entwickeln. Jedoch darf es keine Zweifel über die Universalität der Menschenrechte geben. Ein Kommentar von Fatih Seyfi in unserer Beitragsreihe zu den europäisch-russischen Beziehungen.
Universelle Menschenrechte
Im Gegensatz zu Altkanzler Helmut Schmidt bin ich der Auffassung, dass Menschenrechte unveräußerlich und universell sind, und nicht ein Produkt der westlichen Welt. Die weit verbreitete Annahme, die Menschenrechtsidee sei nur im westlichen Kulturkreis verwurzelt, ist nicht nur falsch, sondern auch eine Missachtung des Anspruchs aller Menschen weltweit auf Humanität und Toleranz. Man vergisst zu oft, dass die klassischen Quellen des Hinduismus, des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Islam die Goldene Regel (Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.) ebenso beinhalten wie die griechische Antike, das Judentum und das Christentum, auf denen die westliche Kultur beruht. Man kann also nicht sagen, dass die östliche Kultur grundsätzlich inhumaner und intoleranter als die westliche ist.
Mehr historische Sensibilität
Nun stellt sich die Frage, wie die EU mit Russland umgehen soll. Auf der einen Seite bestehen sehr wichtige Handelsbeziehungen. Die EU ist bei weitem der wichtigste Handelspartner Russlands, allein die Hälfte des russischen Außenhandelsvolumens wird mit der EU abgewickelt. Im Energiebereich deckt die EU ca. 20% ihres Öl- und ca. 45% ihres Erdgasbedarfs mit russischen Lieferungen – die Tendenz steigend. Aus der EU wiederum werden viele Produkte wie Maschinen, Chemikalien und landwirtschaftliche Erzeugnisse nach Russland exportiert. Auf der anderen Seite gibt es laut Amnesty International zahlreiche Menschenrechtsverletzungen wie die Beschneidung der freien Meinungsäußerung, die zunehmende Diskriminierung von Homosexuellen, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit sowie der Tätigkeit von NGOs, von der Unterdrückung der Bevölkerung in Tschetschenien ganz zu schweigen.
Angesichts dieser vielen Missstände stellt sich die Frage: Warum eigentlich wählt immer noch die Mehrheit der Russen jenen Putin, von dem wir Europäer so wenig halten? Das lässt sich mit der Vergangenheit des Landes erklären. Leider vergessen wir zu oft, dass der Zweite Weltkrieg und seine Folgen (20 Mio. Tote Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger) in Russland immer noch sehr präsent ist, weil es kaum eine Familie gibt, die kein Opfer betrauert. Dazu kommen das Chaos nach der Implosion des Kommunismus und die zunehmende organisierte Kriminalität und Schwächung der staatlichen Verwaltung. Als plötzlich die kommunistische Diktatur weg war, bewegte sich Russland auf den Weg zu einem „failing state“. Es ist verständlich, dass die Russen mehrheitlich nicht unbedingt eine westliche Demokratie wollen, sondern ein geordnetes, starkes Russland, das ihnen Sicherheit verspricht, nach innen wie nach außen.
Es ist eine Frage der Zeit – und das wird noch Generationen dauern – bis die Menschen in Russland mehrheitlich nicht nur Sicherheit, sondern auch mehr Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und politische Mitbestimmung, also Demokratie fordern werden. Was wir in der Zeit machen können, ist folgendes: uns Russland weiter annähern, politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Russland vertiefen und durch die Verfestigung der Beziehungen diejenigen in Russland stärken, die mehr Freiheit und Demokratie wollen. Ein Russland, das sich von Europa abwendet und Asien, vor allem China, zuwendet, ist denkbar. Europa würde erst dann empfinden, wie klein und schwach es mit seinen etwas über 500 Millionen Einwohnern in einer Welt mit über 7 Milliarden Menschen ist.
Eine Politik der kleinen Schritte, nicht der großen Worte
Willy Brandt galt als Visionär, Weltbürger, Kanzler der Einheit – im Grunde war er jedoch ein Realpolitiker. Mit seiner Neuen Ostpolitik wollte er die Teilung Deutschlands und Europas paradoxerweise dadurch überwinden, indem er sie akzeptierte. Die Ostverträge schufen die Voraussetzungen für den KSZE-Prozess, mit dem mehrere Ebenen verbunden waren: ständiger politischer Dialog bei gleichzeitigem Eintreten für die Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Vervielfältigung der Kommunikation, vertrauensbildende Maßnahmen. Außerdem wurde zunehmend eine Politik der Kontakte unterhalb der Regierungsebene betrieben, was zur Bildung eigenständiger Bürgergesellschaften verhalf und die spätere Demokratisierung ungemein unterstützte. Der „Wandel durch Annäherung“ wurde realisiert – mit Lech Wałęsa und Solidarność in Polen, Václav Havel und Charta 77 in der damaligen Tschechoslowakei, jenen Deutschen in Leipzig und Ostberlin und zu guter letzt mit Glasnost und Perestroika unter Michail Gorbatschow.
Letztes Jahr war der 100. Geburtsjahr von Willy Brandt. Seine Politik der Entspannung und Annäherung war sehr erfolgreich, denn mit ihr wurden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: der Aufbau politischer und wirtschaftlicher Beziehungen, was in unserem Interesse liegt, und die Verbesserung der Menschenrechtslage sowie ein gesellschaftlicher Wandel. Gerade in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts benötigen wir mehr denn je einen Wandel durch Annäherung. Nicht nur, aber vor allem auch mit Russland.
Fatih Seyfi
Fatih Seyfi studiert an der FH Bund und ist Mitglied im europäischen Jugendparlament
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Beitragswettbewerbs zur Analyse der europäisch-russischen Beziehungskrise. Zu den >> [anderen Beiträgen im Regionalbereich].