Zur Bergung der MS EU-Russland

Zur Bergung der MS EU-Russland

Wären die Beziehungen zwischen der EU und Russland ein Schiff, wäre es 2013 gesunken und in bisher unerschlossenen Tiefen angekommen. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte kann der desolate Zustand der EU-Russland-Beziehungen dem gegenüber den 1990er Jahren stark veränderten Kräfteverhältnis zwischen den Partnern zugeschrieben werden. Akut kracht es aber vor allem wegen der seit der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt immer deutlicher werdenden russischen Abkehr von demokratischen Prinzipien.

Höchstens gemischte Gefühle

Zugegeben, kürzlich gab es einige Meldungen aus Russland, die weder eindeutig positiv, noch negativ bewertet werden können: Die Freilassung Chodorkowskis und die Amnestie zahlreicher Häftlinge, wohlbemerkt unter wachsender internationaler Kritik wenige Monate vor Beginn der Olympischen Spiele in Sotschi. Dann der als erfolgreich geltende Vorschlag des russischen Außenministers, die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu vereinbaren und so ein Eingreifen in den Bürgerkrieg zu verhindern. Was im Falle einer Intervention passiert wäre, weiß niemand – fest steht nur, dass Russland die Verhandlungen im Sicherheitsrat monatelang blockierte und so die Messlatte für einen „Durchbruch“ äußerst niedrig hängte. Auch der Fall Snowden bot der russischen Regierung die Möglichkeit der Profilierung. So wurde Putin 2013 International Man of the Year (The Times) und The World’s Most Powerful (Forbes) – durchaus eine Leistung, die aber gemischte Gefühle hervorruft. Ansonsten machte Russland in der EU hauptsächlich negative Schlagzeilen. Da gab es die Festnahme von Greenpeace-Aktivisten, die Umsetzung des „NGO-Agentengesetzes“, das Ende 2012 in Kraft trat, das „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“, Drohungen und Gewalt von Nationalisten und Ultraorthodoxen gegenüber Vertretern von LGBTI-Rechten und Migranten, die Zerschlagung der Nachrichtenagentur RIA Nowosti, einhergehend mit einer noch stärkeren Einschränkung der Pressefreiheit, Russlands Einflussnahme auf die Ukraine – die Liste ist lang.

Kaum Fortschritte

Die EU-Russland-Beziehungen waren im letzten Jahr erheblich von diesen Ereignissen und Entwicklungen geprägt. Dem EU-Russland-Gipfel im Januar widmete man nur drei Stunden statt der üblichen zwei Tage – man war sich einig, dass man sich uneinig ist, wie Die Welt titelte. Während Russland auf die Aushandlung einer neuen Rahmenvereinbarung pocht, welche das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1997 ersetzt, sähe die EU lieber zunächst Fortschritt bei der Umsetzung bestehender Vereinbarungen. Doch dafür fehlt schlussendlich auf beiden Seiten der politische Wille; zur gemeinsamen Politik fehlen die gemeinsamen Prinzipien. Die Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland scheint düsterer, kälter und beschwerlicher als der sibirische Winter.

Wie bergen wir den Kahn?

Macht sich der Einfluss des Menschen auf das Wetter nur langfristig bemerkbar, lassen sich die Beziehungen aber, mit vereinten Kräften, mittelfristig vielleicht doch wieder ein Stück in Richtung Ufer ziehen. Zunächst: Bevor die Partner sich nicht über gemeinsame Werte und das „höhere Ziel“ ihrer Zusammenarbeit einig werden, sollten die Pläne für einen neuen Rahmenvertrag auf Eis liegen. So sollte ein EU-Russland-Zukunftsdialog ins Leben gerufen werden, in dem Vertreter aller Stakeholder – inklusive der Zivilgesellschaft – bis 2020 gemeinsame Prinzipien und Ziele für die Zusammenarbeit herausstellen.

Dies bedeutet aber nicht, dass die „praktische Seite“ der EU-Russland-Beziehungen bis 2020 stillstehen muss. Weiterhin sollte daran gearbeitet werden, die Bestimmungen der vier Gemeinsamen Räume, der Modernisierungspartnerschaft und der Energy Roadmap zu implementieren. Dazu sollte ein von den EU und Russland gemeinsam geförderter Think Tank ins Leben gerufen werden. Dieser könnte erheblich zum gegenseitigen Verständnis der Partner und so zu neuen Lösungsansätzen für Policy-Probleme beitragen. Außerdem sollte die technische Zusammenarbeit ausgeweitet werden, in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie der WTO und der OECD. Ein weiterer wichtiger, schon oft genannter Schritt wäre die Einführung der Visafreiheit für Touristen, Studenten und Geschäftsleute; die EU-Mitgliedsstaaten müssen sich darüber einig werden, welche Bedingungen sie dafür fordern und Russland dann ein klares Angebot machen. Vielleicht könnte die EU Zugeständnisse von Russland erwirken, wenn sie ernsthaft darüber nachdenkt, offizielle Gespräche mit der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan aufzunehmen, denn diese ist mittlerweile politische und wirtschaftliche Realität geworden.

Nach dem Regierungswechsel in Deutschland gibt es wieder mehr Rufe nach einer „pragmatischeren Russlandpolitik“. Während verstärktes deutsches Engagement sicher sinnvoll ist, sollte keine lediglich bilaterale Rehabilitation der Beziehungen zu Russland angestrebt werden. Absprachen mit den europäischen Partnern sind bedeutender als die nächste Direktinvestition; und ob diese wirklich zum Wandel beiträgt, ist sowieso nicht sicher. Abschottung und reine Konfrontation sind kontraproduktiv, die EU sollte aber auch keine Angst davor haben, antidemokratische Entwicklungen in Russland direkt anzusprechen, denn das Argument von der einseitigen Abhängigkeit ist längst überholt. Die Partner brauchen einander, ob sie wollen oder nicht. Auch wenn es bis zur Bergung ein langer Weg sein wird, können wir es uns nicht leisten, das gemeinsame Boot auf dem Grund verrosten zu lassen.

Sonja Schiffers

Sonja Schiffers studiert Internationale Beziehungen in Berlin und Potsdam und ist derzeit für die Heinrich-Böll Stiftung in Tiflis tätig.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Beitragswettbewerbs zur Analyse der europäisch-russischen Beziehungskrise. Zu den >> [anderen Beiträgen im Regionalbereich].