Die Ukraine-Krise und die Sicherheit Europas
Die von vielen Westeuropäern lange vertretene Annahme, dass die Mitglieder von Nato und EU nicht mehr in ihrer territorialen Integrität bedroht seien, hat sich als falsch erwiesen. Was tun, wenn Russland nicht mehr unserer strategischer Partner ist? Thesen von Wolfgang Ischinger.
Was als nationale politische Krise in der Ukraine begann, hat sich zu einer Krise entwickelt, die die europäische Sicherheit bedroht. Etwas nahezu Unvorstellbares ist Realität geworden: Ein Krieg in Europa, in dem Flugzeuge quasi routinemäßig abgeschossen werden, in dem die Zahl der Opfer ständig steigt, und für den eine Verhandlungslösung nach wie vor in weiter Ferne ist. Die Risiken einer weiteren Eskalation und von Fehleinschätzungen stellen die größte Gefahr für die europäische Sicherheit der vergangenen mehr als 20 Jahre dar.
Ende Mai fragte ich den ukrainischen Premierminister Arsenij Jazenjuk, wie der Westen der Ukraine am besten helfen könne. Ohne nur einen Augenblick zu zögern, erwiderte er: „Zeigen Sie einfach Geschlossenheit. Das ist mein einziger Wunsch.“ In der Tat können wir diese Krise nur dann erfolgreich bewältigen, wenn Amerikaner und Europäer gemeinsam auftreten: Während es der Europäischen Union an militärischer und politischer Macht fehlt, um Russland alleine entgegenzutreten, kann der politisch-militärische Einfluss der Vereinigten Staaten durch die wirtschaftliche Kraft der EU erheblich verstärkt werden.
In dieser Krise geht es nicht nur um die Ukraine, so grausam die Lage ist für die zahlreichen Opfer und Flüchtlinge in der Ukraine – nicht zu vergessen die fast 300 unschuldigen Zivilisten in der Maschine MH17 und deren Angehörige in aller Welt. Der Westen erlebt vielmehr derzeit ein Russland, das sich nicht mehr an den vereinbarten Konsens über Sicherheit in Europa gebunden fühlt, der in der KSZE-Schlussakte, der Charta von Paris von 1990 und weiteren Vereinbarungen festgeschrieben ist. Am treffendsten kann man die neue russische Außenpolitik mit dem Etikett „revisionistisch“ beschreiben. Auch deshalb hat die Krise weitreichende Auswirkungen auf Europa und auf die internationale Sicherheit. Die Ukraine ist zum Schauplatz für die Auseinandersetzung darüber geworden, auf welchen Prinzipien die Weltordnung des 21. Jahrhunderts beruhen wird.
Aber spiegelt sich diese Erkenntnis auch in den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen wider, die der Westen bislang ergriffen hat? Haben wir – von kurzfristigen Aktionen und Reaktionen abgesehen – die mittel- und langfristigen strategischen Konsequenzen angemessen bedacht?
Russland trägt einen Großteil der Verantwortung für die Verschlechterung der Situation in der Ostukraine. Wenn wir derzeit Krieg im Herzen Europas erleben, dann deshalb, weil Russland wenig oder nichts unternommen hat, um die grenzüberschreitenden Ströme von Kämpfern und militärischem Material zu unterbinden. Moskau untergräbt damit den Rahmen der europäischen Sicherheit, der Europa in den vergangenen Jahrzehnten zu einer vergleichsweise friedlichen Region gemacht hat.
Die von vielen Westeuropäern lange vertretene Annahme, dass die Mitglieder von Nato und EU nicht mehr in ihrer territorialen Integrität bedroht seien, hat sich als falsch erwiesen. Mit der Annexion der Krim, der fortgesetzten verdeckten Intervention in der Ostukraine und der Verkündung einer „Putin-Doktrin“, die Moskau das Recht einräumt, zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung im Ausland zu intervenieren (auf der Grundlage von Moskaus Einschätzung, ob, wann und wie dieser Schutz benötigt wird), hat Russland die Geschichte der europäischen Sicherheit in ein früheres, feindseligeres Kapitel zurückgeführt.
Um diese Krise zu beenden, muss die russische Regierung zumindest ihre Unterstützung der Separatisten aufgeben, Waffenlieferungen einstellen, den Grenzübertritt von Kämpfern in die Ostukraine unterbinden sowie die ukrainische Souveränität anerkennen und respektieren. Solange diese Mindestanforderungen nicht erfüllt sind, muss der Druck des Westens aufrechterhalten, wenn nicht gar erhöht werden. Es darf auch nicht zugelassen werden, dass die illegale Annexion der Krim von der Ost-West-Agenda gestrichen wird.
Eine dauerhafte Beilegung und Überwindung der Krise ist allenfalls längerfristig in Sicht. Es ist deshalb richtig, als erstes Ziel der Krisendiplomatie einen Waffenstillstand anzustreben, so wie dies die Bundesregierung unermüdlich betreibt. Danach könnte dann eine umfassende Lösung erarbeitet werden, deren Kernelemente auf der Hand liegen: Respektierung der ukrainischen Souveränität seitens Moskaus, Bekräftigung der von der Ukraine getroffenen Aussagen zu einer Nato-Perspektive, Dezentralisierung/Autonomie für die Provinzen, Berücksichtigung der engen ukrainisch-russischen Bindungen bei der Implementierung der EU-Assoziierung und Lösung des Streits über Gaspreis und -transport. Unabhängig davon wird die Ukraine, mit internationaler und EU-Unterstützung, ein umfassendes Programm von Reformen ins Werk setzen müssen, um wirtschaftlich zu gesunden und den Krebs der allgegenwärtigen Korruption auszumerzen. All dies wird lange dauern. Deshalb ist ein stufenweises Herangehen angemessen.
Nach der Annexion der Krim und Putins Weigerung, die Souveränität der Ukraine zu achten, kann Russland nicht länger als unser „strategischer Partner“ bezeichnet werden. Für die Beziehungen zwischen der Nato und Russland bedeutet dies, dass das Bündnis sich richtig verhalten hat, als es die praktische Zusammenarbeit mit Russland in gemeinsamen Projekten aufgekündigt, aber die politische Konsultation und Kommunikation im Rahmen des Nato-Russland-Rates (NRR) aufrecht erhalten hat. Momentan ist eine praktische Zusammenarbeit an Projekten wie der ballistischen Raketenabwehr unrealistisch. De facto war sie ohnehin suspendiert. Auch wenn die Diskussionen im Rahmen des Nato-Russland-Rates derzeit nicht weit führen, ist es wichtig, dass dieses Forum bestehen bleibt und seine Rolle künftig sofort wieder einnehmen kann.
Die Nato hat aus der Suspendierung des NRR als Reaktion auf den russisch-georgischen Krieg im Jahr 2008 gelernt. Diese Maßnahme hatte auf keine Weise zur Beilegung des Konflikts beigetragen, sondern beseitigte vielmehr ein Instrument, das möglicherweise dabei geholfen hätte, die Folgen jener Krise besser zu meistern. Schließlich war es eigens als ein Diskussionsforum für wichtige Probleme oder Krisen zwischen der Nato und der Russischen Föderation geschaffen worden.
Deshalb hätten die amerikanischen und europäischen Entscheidungsträger den G-8-Gipfel im Juni in Sotschi besser nicht abgesagt. Sie hätten Russland vielmehr mitteilen sollen, dass es nur einen Tagesordnungspunkt auf der Tagesordnung würde: die Ukraine. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, Putin mit einer eindeutigen und gemeinsamen Haltung des Westens zu konfrontieren, bei der die G-7-Mitglieder zusammen und jeweils persönlich Druck auf den russischen Staatschef ausgeübt hätten. Stattdessen waren wir Zeugen einer ganzen Serie bilateraler Treffen zwischen Putin und einzelnen westlichen Vertretern. Sind wir sicher, dass Putin bestimmte Meinungsverschiedenheiten zwischen den westeuropäischen Hauptstädten nicht ausgenutzt hat? Natürlich hat er das.
Aber gegen Moskau gerichtete Strafmaßnahmen sind weder unsere erste Priorität noch ein Selbstzweck, wie manche in den Vereinigten Staaten meinen. Das zentrale und vorrangige Ziel unserer Strategie sollte nicht ein Abstrafen Russlands sein, sondern die Stärkung der Ukraine einschließlich der Länder, die sich in der Grauzone zwischen der Europäischen Union/der Nato und der Russischen Föderation befinden, etwa Moldau und Georgien.
Es ist deshalb eine zentrale strategische Aufgabe für den Westen sicherzustellen, dass diese Staaten, die kurzfristig keine Aussicht auf Aufnahme in die EU und/oder Nato haben, frei über ihre Zukunft entscheiden können. Schließlich besteht die beste Reaktion auf Putins Politik, die Stabilität und Integrität der Ukraine auszuhöhlen, darin, die Entwicklung von Demokratie, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit in diesem Land nachdrücklich zu unterstützen. Natürlich ist das mit hohen Kosten verbunden – und auch das wird lange dauern. Aber es ist die beste Investition, die wir in die Zukunft eines geeinten und freien Europas tätigen können.
Es ist oft gesagt worden, dass es keine militärische Lösung für die Krise in der Ukraine gebe. Das mag stimmen, aber eine Analyse der militärischen Aspekte darf nicht vernachlässigt werden. Russland ist bisher nicht bereit, seine militärische Einmischung auf ukrainischem Boden einzuschränken. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass die ukrainische Armee diesen Krieg auf ihrem eigenen Territorium endgültig und abschließend gewinnen wird, jedenfalls nicht kurzfristig. Und Forderungen nach kraftvollerer militärischer Rückversicherung unserer östlichen Nato-Partnerländer stehen im Raum.
Sollte der Westen nun beschließen, die Ukraine militärisch zu unterstützen? Der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat vorgeschlagen, den Ukrainern Defensivwaffen zu liefern, um ihnen bei der Verteidigung ihres eigenen Staatsgebiets zu helfen. Die westlichen Staaten könnten sicher mehr unternehmen, um die schwache ukrainische Armee zu unterstützen, etwa durch Lieferung von modernen Kommunikationssystemen sowie mit logistischen und nachrichtendienstlichen Mitteln. Wie Ian Kearns, der Direktor des European Leadership Network, festgestellt hat, kommt besonders den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich eine spezielle Verantwortung zu. Sie haben 1994 das sogenannte Budapester Memorandum unterzeichnet, das der Ukraine Sicherheitsgarantien anbot, während Kiew sich im Gegenzug bereiterklärte, auf seine Nuklearwaffen zu verzichten. Es gibt jedoch keinen Grund, warum Deutschland und andere EU-/Nato-Länder nicht auch an solchen Unterstützungsprogrammen teilnehmen sollten. Nehmen wir Russland doch beim Wort: Wenn es sich einen innerukrainischen Konflikt handelt, in dem Russland nicht Partei ist, dann kann eine Unterstützung der ukrainischen Armee auch keine Provokation Moskaus sein, wie manche im Westen fürchten.
Zwar beteiligen sich alle 28 Verbündeten an der Nato-Rückversicherung. Ihre Beiträge dazu nehmen jedoch sehr unterschiedliche Formen an. Polen und die baltischen Staaten waren wiederholt Ziel russischer Provokation und Bedrohungen. Aus Angst vor einem Szenario, das „knapp unter Artikel 5“ liegt, möchten sie, dass die Nato durch militärische Präsenz im Osten demonstriert, dass die Sicherheit der Bündnispartner wirklich unverbrüchlich ist. Es ist tatsächlich paradox, dass taktische Nuklearwaffen aus politisch-strategischen „linkage“-Gründen weiterhin in einigen Nato-Ländern einschließlich Deutschlands stationiert sind, ohne dass diese noch eine operative militärische Rolle hätten, während die Nato gleichzeitig mühsam darum ringt, relevante Schritte zur sicherheitspolitischen Beruhigung ihrer östlichen Mitglieder zu unternehmen.
Bisher lehnte es die Nato ab, der Argumentation Polens und des Baltikums zu folgen, dass die jüngsten Aktionen Russlands bedeuteten, dass die in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 vereinbarten Verpflichtungen keine Gültigkeit mehr haben. Obwohl fast alle in der Nato sich einig sind, dass Russland gegen die wichtigsten Auflagen in diesem Dokument verstoßen hat, sind doch die meisten der Auffassung, dass man auf die Grundakte selbst nicht verzichten sollte. Ich bin der Ansicht, dass wir die relevanten Bestimmungen der Akte höchstens als „suspendiert“ betrachten sollten, das heißt als zurzeit nicht anwendbar, solange die russische Regierung weiterhin gegen grundlegende Prinzipien eben dieser Akte verstößt. Das bedeutet, dass wir das Dokument dann wieder als voll wirksam erachten, wenn Russland bereit ist, den Text aus dem Jahr 1997 wieder voll und ganz zu akzeptieren, von dem Russland sicherlich in nicht geringerem Maße profitiert als die Nato.
Allerdings ist es nicht nötig, dass wir neue feste beziehungsweise dauerhafte Nato-Basen in der Nähe der russischen Grenze errichten. Die Vereinigten Staaten haben eine intelligente Balance gefunden, indem sie sich für rotierende Einheiten und militärische Übungen als Hauptbestandteil ihres „Beruhigungspakets“ entschieden haben. Die europäischen Staaten sollten mitziehen und im Gegenzug zu der von Barack Obama in Warschau angekündigten „European Reassurance Initiative“ mit der Präsentation eigener solider Reassurance-Maßnahmen reagieren und eine vergleichbare Anzahl rotierender Einheiten in die Nato-Staaten entsenden, die eine gemeinsame Grenze mit Russland haben.
Eine solche europäische Initiative – möglicherweise angeführt vom Weimarer Dreieck -, die dem Umfang der amerikanischen Initiative entspricht, würde verdeutlichen, dass die militärische Rückversicherung nicht allein in der Verantwortung der Vereinigten Staaten liegt (obwohl deren Beitrag nach wie vor entscheidend ist). Etwas weniger diplomatisch ausgedrückt: Welche Botschaft senden wir, wenn Europa nicht einmal bereit ist, die Verteidigung seines eigenen Territoriums zu verstärken? Wenn die Lastenverteilung nicht einmal auf dem europäischen Kontinent funktioniert, ist die langfristige Funktionsfähigkeit der Nato in Frage gestellt. Deshalb ist der Nato-Gipfel, der am Donnerstag dieser Woche in Cardiff beginnt, ein kritischer Augenblick für das Bündnis und seine europäischen Mitglieder.
Viele Kritiker haben bemängelt, dass zu viel Zeit verstrich, ehe sich Europa auf Sanktionen einigte und diese verwirklichte – und dass die EU dabei auch nicht weit genug gegangen sei. In den Vereinigten Staaten waren Kommentatoren schnell mit Kritik bei der Hand. Insbesondere der Bundesregierung wurde vorgeworfen, nur Deutschlands Wirtschaftsinteressen schützen zu wollen. Es stimmt natürlich, dass wirtschaftliche Interessen die Positionen europäischer Regierungen beeinflussen, die Kritiker in den Vereinigen Staaten sollten aber genauer hinschauen.
Zunächst einmal ist es einfach, härtere Sanktionen zu verlangen, wenn man Vertreter eines Staates ist, dessen Märkte und Bürger keine Konsequenzen zu befürchten haben. Anders verhält es sich, wenn Sanktionen Nachteile mit sich bringen – geringeres Wirtschaftswachstum oder Verlust von Arbeitsplätzen.
Zum Zweiten sollte man die langfristigen Auswirkungen der europäischen Sanktionen nicht unterschätzen. Russland hat in den Beziehungen mit der EU viel zu verlieren – und zwar wesentlich mehr als angesichts amerikanischer Sanktionen. Zudem hat die EU eine bemerkenswerte Einigkeit bei der Anwendung der eigenen Sanktionen demonstriert. Wenig überraschend ist, dass Geschwindigkeit und Umfang der Sanktionen nicht die Positionen all jener befriedigen, die sich eine schnellere Eskalation dieser wirtschaftlichen Druckmaßnahmen gewünscht hätten.
Drittens ist es falsch zu glauben, die Bundesregierung habe versucht, schärfere Sanktionen zu blockieren. Berlin hat wiederholt verdeutlicht, dass politisch-strategische Überlegungen gegenüber wirtschaftlichen Interessen den Vorrang haben müssen. Diese Haltung wurde auch von der Führung der deutschen Wirtschaft akzeptiert, wenn auch nicht mit Freude.
Viertens müssen wir sicherstellen, dass die Kosten der Sanktionen und stornierter Geschäfte halbwegs gleichmäßig verteilt sind, wir also auch hier eine Lastenteilung praktizieren. Zu allererst müssen wir einen Weg finden, damit Frankreich nicht die zwei Schiffe vom Typ Mistral an Russland liefern muss. Wie François Heisbourg in der Financial Times vom 24. Juli schrieb: „Common sense militates against delivering tools of war that could put Nato allies at risk.“ Verschiedene Varianten – einschließlich des Ankaufs der Schiffe durch die EU oder die Nato – haben die Runde gemacht. Eine solche Lösung ist nicht bloß eine Option, sondern eine strategische Notwendigkeit, wenn wir es ernst meinen mit der Absicht, die Ukraine-Krise zu überwinden.
Vor allem aber sind Sanktionen kein Ersatz für eine politische Strategie. Sie sind ein Instrument, das zur Erreichung bestimmter politischer Ziele eingesetzt wird, aber kein Selbstzweck. Wir müssen immer sicherstellen, dass alle Entscheidungen über Sanktionen und Embargos politisch auch wieder rückgängig gemacht werden können. Es darf nicht sein, dass unsere Russlandpolitik vom amerikanischen Kongress oder von Entscheidungsträgern in europäischen Parlamenten in Geiselhaft genommen werden kann!
So wichtig die Debatte über notwendige kurzfristige Maßnahmen auch ist, sie kann und darf eine strategische Diskussion über die langfristigen Auswirkungen und Konsequenzen der Krise nicht ersetzen. Es geht zum Beispiel auch um die Errichtung einer europäischen Energieunion. Ich möchte zwei wesentliche strategische Fragen herausgreifen.
Erstens. Wann ist, wenn nicht jetzt, ist der richtige Augenblick, um Schritte in Richtung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu unternehmen? Zweitens: Wie können wir die euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen wieder stärken? Das bezieht sich sowohl auf die paneuropäischen Strukturen als auch auf die Rolle der EU und der Nato in Osteuropa.
Was europäische Verteidigungsbemühungen angeht, so ist die Ukraine-Krise ein Alarmsignal, wie es lauter nicht sein könnte. Ich habe ein gewisses Verständnis für das Argument, dass die Reduzierung der Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa die Europäer dazu zwingen könnte, ihre Verteidigungsanstrengungen etwas ernster zu nehmen. Aber ich fürchte, dass wir Europäer noch nicht bereit sind, diese Verantwortung selbst zu übernehmen. Deshalb bleiben wir auf die amerikanische Präsenz angewiesen, und deshalb muss Washington uns weiter dazu drängen, unsere militärischen Mittel besser zu bündeln und zu teilen, damit unsere Ausgaben für Verteidigung klüger eingesetzt werden und wir endlich eine EU-Außen- und Verteidigungspolitik entwickeln, wie sie die 500 Millionen Einwohner in der EU verdient haben.
Ehrlich gesagt ist es skandalös, wie wenig Schlagkraft wir in Europa im Verhältnis zu den Mitteln erzielen, die wir einsetzen. Die Verteidigungsausgaben aller europäischer Länder zusammen belaufen sich auf etwas weniger als 40 Prozent der Ausgaben der Vereinigten Staaten, aber die tatsächliche Schlagkraft macht nur einen Bruchteil der amerikanischen aus. Gleichzeitig verfügen die EU-Länder über sechs Mal soviel verschiedene Waffensysteme wie die Vereinigten Staaten. Diese Fragmentierung ist unverantwortlich, und zwar sowohl hinsichtlich der Finanzen als auch hinsichtlich der Fähigkeiten und der Interoperabilität unserer Systeme.
Den europäischen Regierungen ist die Tatsache dieses ineffektiven und ineffizienten Einsatzes der Verteidigungsausgaben natürlich bewusst. Und ihnen ist auch klar, dass Kooperation und Integration der einzige Weg sind, um dieses Dilemma zu überwinden. Und genau darum geht es bei der Zusammenlegung und gemeinsamen Nutzung von militärischen Fähigkeiten, dem „Pooling & Sharing“. In einer von McKinsey für die Münchner Sicherheitskonferenz durchgeführten Studie wurde errechnet, dass die europäischen Staaten mehr als 30 Prozent im Jahr – das sind 13 Milliarden Euro – sparen könnten, wenn sie bei der Beschaffung von Rüstungsgütern enger zusammenarbeiteten.
Natürlich stimmt es, dass Verteidigungsintegration zahlreiche heikle Probleme aufwirft, unter anderem die Frage der staatlichen Souveränität. Jeanine Hennis-Plasschaert, die niederländische Verteidigungsministerin, gab bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2013 die richtige Antwort auf solche Einwände: „Should we really fear the loss of sovereignty? Or should we rather define the concept of sovereignty in a less traditional way?“ Mit anderen Worten: Was ist der Wert traditionell verstandener Souveränität, wenn ein einzelner europäischer Staat alleine gar nicht mehr handlungsfähig ist? Wäre das nicht bedeutungslose Souveränität?
Nun teilen nicht alle in der EU die Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Armee. Aber es braucht eine Debatte darüber. Es sollte erwähnt werden, dass es etwa in Deutschland schon seit vielen Jahren politische Unterstützung für dieses Projekt gibt. Sogar der Fraktionschef der Sozialdemokraten hat dieses Ziel ins Auge gefasst. Im Koalitionsvertrag von 2009 zwischen der CDU von Angela Merkel und der FDP hieß es schlicht: „Langfristiges Ziel bleibt für uns der Aufbau einer europäischen Armee unter voller parlamentarischer Kontrolle.“
Allermindestens müssen Verteidigungsfragen in Zukunft an der Spitze der Agenda europäischer Gipfel stehen. Kaum eine EU-Entscheidung würde Moskau mehr beeindrucken als ein entschlossenes Vorgehen der EU, die außenpolitisch tatsächlich mit einer Stimme zu spricht und tatsächlich eine sinnvoll integrierte Verteidigungsgemeinschaft entwickelt.
Was die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur betrifft, ist die Ukraine-Krise ebenfalls ein Alarmsignal. 1996 schrieb Richard Holbrooke: „If the West is to create an enduring and stable security framework for Europe, it must solve the most enduring strategic problem of Europe and integrate the nations of the former Soviet Union, especially Russia, into a stable European security system.“ Holbrooke hatte Recht. Unglücklicherweise sind wir in dieser Frage wieder am Ausgangspunkt angelangt und haben zudem noch mehr Gepäck dabei als vor zwanzig Jahren. Was wir brauchen, ist eine Doppelstrategie, mit der wir einerseits Putin machtpolitische Zugriffsmöglichkeiten in Europa verwehren und andererseits mit ihm den Dialog über die Zusammenarbeit führen und fortsetzen, so schwierig das unter den derzeitigen Umständen auch sein mag.
Im Moment ist vielleicht nicht der passende Augenblick für große strategische Initiativen hinsichtlich einer umfassenden euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft, so wie uns das lange vorgeschwebt hat. Aber irgendwann – hoffentlich eher früher als später – müssen wir die Diskussion über die Entwicklung einer nachhaltigeren, widerstandsfähigeren, krisenresistenteren und umfassenderen europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands wiederaufnehmen. Nicht als Belohnung für Putin dafür, dass er die bestehende Architektur in Frage gestellt hat, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass die Architektur bekräftigt beziehungsweise an die neue Realität angepasst werden muss. Eine solche Diskussion sollte vertrauensbildende Maßnahmen und Fragen der Rüstungskontrolle einschließen, wozu auch die Zukunft des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa sowie die längst überfällige Frage der Reduzierung und Beseitigung von atomaren Kurzstreckenwaffen in Europa gehören.
In den vergangenen Jahren wurden im Rahmen von russisch-europäischen Initiativen zahlreiche nützliche und wichtige Vorschläge vorgelegt, etwa von der Expertenkommission der Euro-Atlantic Security Initiative (EASI) des Carnegie Endowment oder in jüngster Zeit von der Nuclear Threat Initiative (NTI) von Sam Nunn.
Unser Ziel sollte es sein, Regeln und Institutionen zu stärken, insbesondere die OSZE, sowie Projekte wie den Vorschlag eines Vertrags über die Fragen europäischer Sicherheit sorgfältig zu prüfen, den Dimitri Medwedew 2008 präsentiert hat. Die OSZE war leider fast vergessen, bis uns die aktuelle Krise daran erinnerte, dass die OSZE Wahlen beaufsichtigen und Beobachter entsenden kann, und dass es da ein Wiener Dokument gibt, das militärische Beobachtermissionen zulässt: Eines unserer langfristigen Ziele könnte die Ausarbeitung einer Nachfolgeveranstaltung für den Gipfel des Jahres 1990 in Paris sein, also ein gut vorbereiteter OSZE-Gipfel, um zu erörtern, ob Russland und der Westen die vor über zwanzig Jahren verabschiedeten Grundsätze gemeinsam bestätigen können oder nicht. Dazu zählen auch die Prinzipien der Integrität aller OSZE-Mitgliedstaaten, der friedlichen Beilegung von Konflikten und eines klaren „Nein“ zu einseitiger Veränderung von Grenzverläufen.
Wolfgang Ischinger ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und Generalbevollmächtigter der Allianz SE. Dieser Essay basiert auf einem Papier, das im August 2014 für die Aspen Strategy Group vorbereitet wurde. Er erschien am 1. September auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie als Monthly Mind September auf den Seiten der Munich Security Conference.