Die perfekte Welle? Der arabische Frühling und die Demokratisierung von Staaten
„Das ist der schönste Tag in meinem Leben“, kommentierte der ägyptische Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei den Rücktritt des Diktators Hosni Mubarak am 11. Februar 2011. Diesem Ereignis waren wochenlange Proteste in Ägypten und zuvor noch der Sturz des tunesischen Diktators vorangegangen und ihm folgten Proteste in vielen anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Woran lag es, dass die Bürger in diesem Fall die Macht der langjährigen autokratischen Herrscher nicht länger akzeptieren wollten und demokratische Rechte einforderten? Anhand dieses empirischen Beispiels will ich im Folgenden erörtern, welche Gründe es dafür gibt, dass Staaten demokratisch werden. Ich verfolge dabei die These, dass in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens gerade eine Welle der Demokratisierung im Entstehen ist. Den theoretischen Hintergrund dazu beziehe ich vorwiegend aus Samuel P. Huntingtons Theorie der „Waves of Democratization“.
1. Der Begriff „Demokratie“
Um die Frage nach den Gründen für die Demokratisierung von Staaten beantworten zu können, ist es zunächst wichtig, sich klar zu machen, was man unter Demokratie eigentlich versteht. Für Huntington sind dabei Wahlen, die in einer echten Demokratie fair, ehrlich und regelmäßig stattfinden müssen und bei denen allen Erwachsenen ein echtes aktives wie passives Wahlrecht zusteht, zentral.[1] Ob die nordafrikanischen Staaten, in denen in den letzten Monaten drastische politische Umbrüche stattgefunden haben, diesem Anspruch genügen, wird sich wohl erst nach einiger Zeit mit Sicherheit feststellen lassen. Man kann jedoch bereits jetzt untersuchen, ob die notwendigen Voraussetzungen, die Huntington ebenfalls anspricht, nämlich die Meinungsfreiheit, die Presse- und Versammlungsfreiheit, gewährleistet werden.
2. Die Rolle von Wohlstand, Bildung und Globalisierung
Doch wie kommt es nun dazu, dass ein autoritäres System aufbricht und eine Demokratie entsteht? Sicher ist, dass dazu ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren nötig ist.[2] Einige zentrale Punkte sollen im Folgenden dargelegt und am Beispiel Ägyptens und Nordafrikas empirisch überprüft werden.
Eine entscheidende Rolle beim Übergang eines politischen Systems zur Demokratie spielt laut Huntington die ökonomische Situation. Er stellt dabei einen positiven Zusammenhang zwischen Demokratisierung und Bruttoinlandsprodukt fest.[3] Das gilt jedoch nur, wenn alle Bevölkerungsschichten vom Wohlstand profitieren und er auf Industrialisierung beruht.[4] Den Übergang vollziehen die meisten Staaten bei einem mittleren Bruttoinlandsprodukt, sie befinden sich dann laut Huntington in einem Bereich des politischen Übergangs, einer „political transition zone“.[5] Betrachtet man beispielhaft die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von Ägypten, so fällt auf, dass hier in den letzten Jahren eine enorme Steigerung stattgefunden hat. Lag der Wert im Jahr 2000 noch bei etwa 99 US-Dollar, konnte 2009 mit rund 188 US-Dollar schon ein fast doppelt so hoher Wert festgestellt werden[6]. Damit liegt das Land noch immer deutlich unter den Werten von westlichen Industrienationen, es liegt aber nahe, dass inzwischen die „political transition zone“ erreicht wurde.
Bei der Bildung stellt Huntington sogar einen kausalen Zusammenhang fest: Eine höhere Schulbildung bildet seiner Meinung nach einen Charakter im Menschen, der ihn mit der Demokratie besonders kompatibel macht.[7] Betrachtet man die Bildung als Demokratisierungsfaktor, so bietet Ägypten ein zwiespältiges Bild. Die Alphabetisierungsrate ist mit 57,7 Prozent nicht besonders hoch[8] und man kann auch nicht von einer Bildungsexpansion in den letzten Jahren sprechen. Allgemein ist das dortige Bildungssystem dramatisch unterfinanziert und viele junge Hochschulabsolventen finden keine Arbeit. Gleichzeitig wird Bildung in Ägypten aber sehr hoch geschätzt und als wertvolles Gut wahrgenommen, die Bereitschaft zur Bildung ist in der Bevölkerung also durchaus vorhanden.[9] Der allgemein eher niedrige Bildungsstand könnte sich in Zukunft als ein Hinderungsgrund für die Etablierung einer stabilen Demokratie herausstellen.
Doch nicht nur die allgemeine wirtschaftliche Lage, sondern auch die Einbindung in die Weltwirtschaft schätzt Huntington als förderlich für die Demokratie ein. Ein Staat, der mit anderen Staaten in Handelsbeziehungen trete, werde auch auf anderen Ebenen der Gesellschaft beeinflusst, argumentiert er. Damit werde es auch wahrscheinlicher, dass die Demokratie, die inzwischen ja in weiten Teilen der Welt die einzig anerkannte Staatsform ist, dort Einzug halte.[10] Somit leistet also auch die Globalisierung in gewisser Weise einen Beitrag zur Verbreitung der Demokratie auf der Welt.
3. Legitimitätsverlust der autoritären Regimes
Die wirtschaftliche Entwicklung bringt aber auch ein immer komplexeres und vernetztes industrialisiertes Wirtschaftssystem mit sich, das sich von einer nicht-demokratischen Regierung nur schwer lenken lässt.[11] Dieses Phänomen führt zu einem zweiten Faktor hin, der neben der ökonomischen Situation einen wichtigen Auslöser für die Demokratisierung eines politischen Systems darstellt. Er besteht im Scheitern oder im Legitimitätsverlust der alten, in der Regel autoritären Regierung.
Die dauerhafte oder gar wachsende Ungleichheit in der Bevölkerung wird autoritären Staaten laut Huntington irgendwann zum Verhängnis. Früher oder später steigt die Unzufriedenheit der benachteiligten Massen so sehr an, dass sie die Regierung nicht weiter akzeptieren.[12] In Ägypten und den anderen betroffenen Staaten führten etwa ein ausgeprägter Sicherheitsapparat, fehlende Mitsprachemöglichkeiten und Korruption dazu, dass der Unmut in der Bevölkerung wuchs. Auch steigende Nahrungsmittel- und Energiepreise trugen dazu bei, die Toleranz der ärmeren Bevölkerungsteile überzustrapazieren.
Ein weiteres Problem autoritärer Regimes im Vergleich zu Demokratien sind die Abnutzungserscheinungen in ihrer Legitimität: Ihnen fehlt die Fähigkeit der Demokratien, sich durch regelmäßige echte Wahlen selbst zu erneuern, und so verlieren sie mit der Zeit und jedem nicht eingehaltenen Versprechen ihren Glanz. Auf Dauer bringt das mit sich, dass immer mehr autoritäre Regimes Demokratien weichen müssen.[13]
4. Demokratisierung als Welle: Parallele Entwicklungen und der Schneeballeffekt
Nachdem nun einige Gründe angeführt wurden, warum autoritäre Regimes scheitern und Demokratien weichen, stellt sich die Frage, warum diese Umbrüche so oft in verschiedenen Ländern fast zur gleichen Zeit ablaufen. Ist es Zufall, dass innerhalb so kurzer Zeit die Bürger in Tunesien, Ägypten und Libyen beschlossen, dass es an der Zeit für eine neue Regierung sei? Kamen die bisher angesprochenen Auslöser dort einfach parallel zum Tragen oder kann man den Umsturz in einem Land als gesonderten Grund für die Demokratisierung im Nachbarland betrachten? Dieser Frage soll nun mit Hilfe von Samuel P. Huntingtons Theorie der „Waves of Democratization“ im Hinblick auf die genannten nordafrikanischen Staaten nachgegangen werden.
Von einer Demokratisierungswelle spricht Huntington, wenn während eines begrenzten Zeitraums deutlich mehr nicht-demokratische Staaten demokratisch werden als andersherum.[14] Er beobachtet rückblickend drei große Demokratisierungswellen zwischen 1828 und den 1190er Jahren, denen jeweils „reverse waves“ folgten, in denen ein Teil der demokratisch gewordenen Staaten wieder in eine autoritäre Regierungsform zurückverfiel. Meiner Ansicht nach deutet einiges darauf hin, dass in den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens nun eine vierte Demokratisierungswelle im Entstehen begriffen ist. Zwei der vier Phänomene, die Huntington als Erklärung für die Demokratisierung in Wellen heranzieht, halte ich dabei für besonders zentral: Zum einen können laut Huntington parallele Entwicklungen in verschiedenen Ländern dazu führen, dass sie nahezu zur gleichen Zeit demokratisch werden.[15] In den Staaten Nordafrikas ist das beispielsweise der Einfluss der Globalisierung, die an alten Regimes rüttelt. Auch die bisher angesprochenen sozialen Probleme wie etwa die hohe Arbeitslosigkeit ähneln sich sehr und können daher als gemeinsame Auslöser gelten.
Wohl noch entscheidender ist aber der so genannte „snowballing effect“.[16] Die Tatsache, dass das autoritäre Regime in einem Nachbarland gestürzt wurde, kann selbst zum Grund für die Demokratisierung eines Landes werden. Das Wissen über politische Vorfälle verbreitet sich heute mithilfe moderner Kommunikationsmittel besonders schnell und kann so regelrechte Demokratisierungs-Dominoeffekte hervorrufen. Dieser Effekt ist bei benachbarten Staaten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, sicherlich besonders stark. „Damit bricht eine psychologische Barriere nicht nur für Nordafrika, sondern den gesamten Nahen Osten“[17], beschreibt Anthony Skinner von der politischen Risikoberatung Maplecroft die Auswirkungen der Proteste in Ägypten.
Nun ist also geklärt, welche Gründe im Einzelnen dazu führen, dass politische Systeme sich demokratisieren und warum diese Demokratisierung oft in Wellen abläuft. Es gilt jedoch darüber hinaus noch zu bedenken, dass der Sturz eines autoritären Regimes allein noch nicht ausreicht, um von Demokratisierung zu sprechen, sondern lediglich einen ersten Schritt darstellt. Samuel P. Huntington nennt drei Schritte der Demokratisierung: „(1) the end of an authoritarian regime; (2) the installation of a democratic regime; and (3) the consolidation of the democratic regime.”[18] Zumindest in Tunesien und Ägypten wurde der erste Schritt vollzogen, als die Diktatoren, die die Länder zuvor Jahrzehnte lang beherrscht hatten, vom Thron gestürzt wurden. Noch ist allerdings schwer abzusehen, ob sich diese Entwicklung hin zu einer stabilen Demokratie fortsetzen wird oder ob die Staaten in autoritäre Regierungsformen zurück verfallen. Die Voraussetzungen für die Etablierung von demokratischen Wahlen, Mehrparteiensystemen und die Einhaltung demokratischer Freiheitsrechte bieten hierbei einen interessanten Anhaltspunkt für weitere Forschungen. Auch die geographische Entwicklung dieser gerade erst entstehenden Demokratisierungswelle bleibt abzuwarten.
Anna Oechslen
Bibliographie
Burchard, Armory (2011). Schrei nach Bildung. In: http://www.tagesspiegel.de/wissen/schrei-nach-bildung/3962042.html (Zugriff 11.04.2011).
Huntington, Samuel P. (1991). The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, The Julian J. Rothbaum Distinguished Lecture Series: Norman and London: University of Oklahoma Press: 3-87.
[1] vgl. Huntington 1991: 7
[2] vgl. Huntington 1991: 38
[3] vgl. Huntington 1991: 60
[4] vgl. Huntington 1991: 63
[5] ebd.
[6] vgl. http://www.aysenurum.com/staat.php?iso=EGY, aufgerufen am 11.04.2011 um 17:48
[7] vgl. Huntington 1991: 65 f.
[8] http://www.welt-auf-einen-blick.de/bevoelkerung/alphabetisier-ung.php, aufgerufen am 11.04.2011 um 17:55
[9] vgl. Burchard 2011
[10] vgl. Huntington 1991: 66
[11] vgl. Huntington 1991: 65
[12] vgl. Huntington 1991: 48
[13] ebd.
[14] vgl. Huntington 1991: 15
[15] vgl. Huntington 1991: 32
[16] Huntington 1991: 33
[17] http://www.faz.net/s/Rub87AD10DD0AE246EF840F23C9CBCBED2C/Doc~-E49CC6DDABD1B4FC69F38BD8D69F733D5~ATpl~Ecommon~Sspezial.html
[18] Huntington 1991: 35