Sturz der Statue?

Sturz der Statue?

I. Kernsatz

2009 hatte der Economist mit seinem Titel „Brazil takes Off“ und der abhebenden Christus-Statue Rio de Janeiros den Aufstieg Brasiliens in seiner schönsten Form illustriert. Nach Jahren unaufhaltsamen Wachstums betrug der Anstieg des realen brasilianischen BIP im dritten Quartal dieses Jahres jedoch magere 0%. Angesichts der 7,5%, um die die Wirtschaft 2010 noch gewachsen war, drängt sich die Frage auf, ob der Abstieg bevorsteht und die Statue nach kurzem Höhenflug wieder unsanft inmitten der Tijuca-Wälder landen wird. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet – dank einer wachsenden Binnennachfrage, gewaltiger Rohstoffvorkommen und eines aufstrebenden Industriesektors hat Brasilien alle Voraussetzungen für ein anhaltendes, nachhaltiges Wirtschaftswachstum.

II. Sachverhalt

Finanzkrise und Probleme der Binnenwirtschaft

Seit Monaten hat Brasilien mit den Auswirkungen der internationalen Finanzkrise, einer überbewerteten Währung sowie einer damit verbundenen Abschwächung der Binnenwirtschaft und des Exports zu kämpfen. Die starke brasilianische Währung vergünstigt Importe nach Brasilien, erschwert jedoch das Exportgeschäft. Letzteres leidet vor allem unter einer schwächeren Nachfrage Chinas. China, Brasiliens Hauptexportpartner und ebenfalls nicht gefeit vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, hat die Nachfrage nach Rohstoffen aus Brasilien gedrosselt. Gleichzeitig wird der brasilianische Markt mit billigen Gütern aus China überschwemmt – eine Entwicklung, die die brasilianische Binnenwirtschaft bedroht. Diese Entwicklungen haben die Regierung in Brasilia dazu verleitet, Importzölle anzuheben, staatliche Wirtschaftsförderprogramme zu beschließen und Anti-Dumping-Maßnahmen einzuführen – zum Teil mit mäßigem Erfolg. Ein bereits 2009 eingeführter Anti-Dumping-Tarif auf chinesische Schuhe hatte zur Folge, dass China seine Schuhe fortan über Paraguay importieren ließ. 2010 steigerte sich der Schuhimport aus Paraguay im Vergleich zum Vorjahr fast um die Hälfte.

Angst der Nachbarn

Nachbarstaaten, allen voran Argentinien, die vom brasilianischen Absatzmarkt abhängig sind, befürchten negative Auswirkungen der Entwicklung Brasiliens auf ihre Volkswirtschaften. Wirtschaftsexperten zufolge wirken Veränderungen in der brasilianischen Konjunktur heute stärker auf den argentinischen Markt als die Finanzkrise in Europa und den USA. Zur Bekämpfung der Rezession werden in Argentinien der Kreativität keine Grenzen gesetzt: Um den Export anzukurbeln, müssen Unternehmen den gleichen Wert ihrer Importgüter exportieren. Dies führt beispielsweise dazu, dass Porsche zum Ausgleich seiner importierten Autoteile Wein exportiert. Angesichts dieser außergewöhnlichen Maßnahmen zur Stimulierung des Exportgeschäfts stellt sich die Frage, inwieweit diese dem südamerikanischen Markt überhaupt helfen und ob die Angst der Nachbarländer begründet ist. Steht Brasilien vor einer tiefen Rezession, die die gesamte südamerikanische Region in den Abgrund reißen wird?

III. Stellungnahme

Es wäre naiv zu glauben, dass die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise ein internationales Schwergewicht wie Brasilien unberührt lassen könnten. Hierzu ist das südamerikanische Land mittlerweile in der Weltwirtschaft zu präsent und vernetzt. Dennoch stehen die Zeichen gut, dass Brasilien die temporäre Rezession überstehen und seinen Status als aufstrebende Wirtschaftsmacht beibehalten kann. Schon für das vierte Quartal prognostiziert das brasilianische Wirtschaftsministerium wieder ein moderates Wachstum und für 2012 erwartet der IWF einen BIP-Anstieg von 3,6%. Im Gegensatz zu anderen Staaten, die zum Großteil vom Exportgeschäft leben, kann Brasilien sich auf seine aufstrebende Mittelschicht und den damit verbundenen wachsenden Binnenkonsum konzentrieren. Protektionistische Maßnahmen und Kreditvergünstigungen unterstützen die Binnenwirtschaft. Gleichzeitig ist die Regierung bemüht, die starke einheimische Währung durch Devisentauschgeschäfte abzuwerten. Schließlich hat Brasilien im Vergleich zu vielen anderen Ländern den entscheidenen Vorteil, nicht von den Rohstoffvorkommen alleine abhängig zu sein. Ein riesiges Bergbau- und Energiepotenzial, Chancen im Bereich der Lebensmittelindustrie gepaart mit einem wachsenden Industriesektor bilden die Basis für eine diversifizierte, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Wirtschaftsexperten vermuten, dass Brasilien bis 2030 zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt und zum größten Nahrungsmittellieferanten aufsteigen wird. Das Land hat alle Voraussetzungen, um die kurzfristige Wachstumsdelle zu überwinden und sich sowie seinen Nachbarn einen unaufhaltsamen wirtschaftlichen Aufstieg zu bescheren.

                                                                       Jana Dotschkal, Regionalleiterin Mittel- und Südamerika

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