Nato-Beitritt Russlands: Ist die Nato in der Lage, Russland als neues Bündnismitglied aufzunehmen?
Abstract
Während eine Mitgliedschaft Russlands in der Nato in regelmäßigen Abständen öffentlich diskutiert wird und die Nato offiziell gegenüber beitrittswilligen Staaten eine ’open-door policy’ verfolgt, fehlen dem Bündnis Machbarkeitsstudien und Konzepte für den Fall eines tatsächlichen Beitrittsgesuchs. Vor diesem Hintergrund analysiert das Policy Paper, inwiefern die Allianz überhaupt in der Lage ist, Russland als neues Bündnismitglied aufzunehmen. Es kommt zu dem Schluss, dass ein umfassender Anpassungsprozess im Hinblick auf die institutionelle Struktur, die Interoperabilität und die Finanzierung nötig ist, um die ‚Aufnahmefähigkeit’ der Nato sicherstellen zu können.
1. Einleitung
Seit Michail Gorbachow im Mai 1990 mit den Worten “NATO is an open organization. […] Maybe we will join too.”[1] zum ersten Mal die Möglichkeit eines Nato-Beitritts der damaligen Sowjetunion zur Sprache brachte, sind 20 Jahre vergangen. Die Zahl der Mitgliedsstaaten hat sich in dieser Zeit von 16 auf momentan 28 Mitglieder fast verdoppelt, doch Russland ist nach wie vor nicht Mitglied der Allianz. Nach Nato-Osterweiterung, Georgien-Konflikt und durch die Raketenabwehr-Diskussion sind die Beziehungen angespannt. Umso überraschender kam daher im September 2010 der Vorschlag des Kreml-nahen Think Tank Insor gegenüber dem russischen Präsidenten, eine „institutionelle Integration Russlands in die Allianz“[2] anzustreben. Während die Nato offiziell eine ’open-door policy’ gegenüber beitrittswilligen Staaten verfolgt, scheint ein Nato-Beitritt Russlands immer noch in großer Ferne. Nur so lässt es sich erklären, dass bis dato keine Machbarkeitsstudien durchgeführt wurden und die Nato selbst – anders als im Vorfeld der ersten Osterweiterung 1999 – keine Studie zu Beitrittsvoraussetzungen oder notwendigen institutionellen Reformen für eine Aufnahme Russlands in die Allianz veröffentlicht hat.
Sicherlich ist mit einem Beitritt Russlands nicht unmittelbar zu rechnen. Dafür sind die zwischenstaatlichen Divergenzen noch zu groß und auch ein Vorbereitungsprozess wäre wie schon bei früheren Erweiterungen nicht über Nacht abgeschlossen. Doch gerade die gewachsene ‚institutionelle Verbindung’ zwischen den USA und seinen transatlantischen Partnern sowie die Bedeutung der Nato als Grundpfeiler der militärischen Kapazitäten seiner Mitgliedstaaten sollte durch einen mangelhaft vorbereiteten Beitritt nicht aufs Spiel gesetzt werden.[3] Ob die Nato in der Lage ist, Russland als neues Bündnismitglied aufzunehmen, kann anhand der ‚Aufnahmefähigkeit’ der Allianz veranschaulicht werden. Also der Zustand, an dem die Strukturen der Allianz den Beitritt Russlands insgesamt ‚verkraften’, so dass die Handlungsfähigkeit des Verteidigungsbündnisses nicht eingeschränkt wird. Qualitativ geht es dabei um eine Vollmitgliedschaft Russlands mit gleichen Rechten und Pflichten und nicht etwa um ein „französisches Modell“[4] ohne eine tatsächliche Beteiligung Russlands an den Militärstrukturen der Nato.
Damit Russland realistischerweise der Nato beitreten kann, muss es die formellen Beitrittskriterien erfüllen und die grundlegenden Werte der Allianz teilen. Die tatsächliche Fähigkeit der Nato, Russland als Vollmitglied aufzunehmen, hängt dabei primär von der institutionellen Struktur der Nato, der Interoperabilität der russischen Streitkräfte mit Natoverbänden und der Finanzierung der Integration ab.
2. Beitrittskriterien und Wertegemeinschaft
Während das Versprechen der ’open-door policy’ regelmäßig erneuert wird, bildet nach wie vor der seit 1999 bestehende Membership Action Plan (MAP) die Grundlage für die Aufnahme neuer Länder. Dieser legt u.a. die Bindung an demokratischen Grundwerten als eine der Beitrittsvoraussetzungen fest und führt die Fähigkeit, zur Verteidigung und zu Missionen der Allianz beizutragen als eines der militärischen Kriterien an. Auch Russland müsste vor einer Aufnahme in die Nato alle Punkte des MAP erfüllen. Obwohl die Übernahme des ‚Acquis Communautaire’ der Nato an das EU-Beitrittsverfahren erinnert, kann der MAP nicht automatisch eine problemlose Integration in die Allianz gewährleisten. Daher darf die Nato nicht den Fehler begehen, eine MAP-compliance Russlands mit einer erfolgreichen Aufnahme gleichzusetzen und eine Vorbereitung auf den Beitritt innerhalb der Allianz zu unterlassen.
Gleichzeitig haben der Georgien-Konflikt und rechtsstaatliche Defizite in Russland die Zweifel an Moskaus Bindung an demokratische Grundwerte geschürt. Auch die anhaltenden Spannungen zwischen Russland und den osteuropäischen Natomitgliedern bergen Konfliktpotential. Daher sind insbesondere Schritte zur zwischenstaatlichen Entspannung mit Georgien und zur Annäherung an die baltischen Staaten und Polen unabdingbar. Gleichzeitig verkennt die Heraufbeschwörung von Konflikten in einer um Russland erweiterten Nato die Mitgliedschaftsdynamik in der Sicherheitsallianz. Das Beispiel Griechenlands und der Türkei zeigt diese Dynamik: die Mitgliedschaft beider Staaten in der Nato verhinderte den Ausbruch von Spannungen in der Zypernfrage und ermöglichte die aktive Partizipation beider Länder in der Allianz.[5] Gleiches gilt auch für die Etablierung rechtstaatlicher Strukturen. Weder erfüllte Portugal als Gründungsmitglied 1949 demokratische Kriterien noch waren die Türkei oder Griechenland zum Zeitpunkt ihres Beitritts 1952 politisch stabil.
Eine unvollständige Erfüllung der Kriterien des MAP zum jetzigen Zeitpunkt darf den Beginn des Beitrittsprozesses daher nicht verhindern. Die Perspektive auf Mitgliedschaft hat „bisher bei allen Beitrittskandidaten einen Prozess ausgelöst, der schließlich zum Wertekonsens führte.“[6] Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer unterstreicht die Mitgliedschaftsdynamik der Nato mit Blick auf einen Beitritt Russlands: “[…] such a bold step would transform Nato. But it would transform Russia even more.”[7]
3. Institutionelle Struktur
Auch Befürworter eines Beitritts sehen die inhärente Gefahr, dass die Nato aufgrund ihrer zunehmenden Größe sowie mangelhafter institutioneller Mechanismen von einer effektiven Militärallianz zu einer OSZE mit militärischen Kapazitäten, jedoch ohne tatsächliche Handlungsfähigkeit wird: ”Will it get so big that it will choke on its own engorged membership?”[8] Doch auch die beiden größten Aufnahmerunden im Jahr 1999 und 2004 haben die Nato nicht in einen handlungsunfähigen Debatierklub verwandelt. Allerdings ist die institutionelle Struktur der Nato nicht automatisch ‚aufnahmefähig’. Vielmehr muss die Nato zur Aufnahme und Integration Russlands die notwendigen Voraussetzungen identifizieren und entsprechende Reformen initiieren.
a) Sicherheitsarchitektur
Der Nato-Beitritt Russlands würde die Nato-Beistandsverpflichtung von Kaliningrad bis Wladiwostok ausdehnen und das größte Land der Welt in den territorialen Geltungsbereich des Artikel 5 des Nordatlantikvertrages einschließen. Grundsätzlich besteht bei einer Beistandsverpflichtung immer die Gefahr des entrapment, d.h. das Risiko in einen Konflikt eines Mitgliedstaates hineingezogen zu werden, ohne das eigene Interessen bedroht sind. Das Risiko kann im Vorfeld eines Beitritts durch internationale Streitschlichtung und Beilegung von Grenzkonflikten minimiert werden, so dass Russlands gemeinsame Grenzen mit China und Zentralasien kein zusätzliches Gefährdungspotential im Sinne eines entrapment darstellen müssen. Die Sicherstellung von ”peace and stability on the Eurasian continent”[9] könnte in den Nordatlantikvertrag aufgenommen werden und die endgültige Abkehr der Nato von ihrer Eurozentriertheit unterstreichen.
b) Abstimmungsverfahren
Das Konsensprinzip brachte der Nato während des Libyen-Konflikts im März 2011 die wenig schmeichelhafte Bezeichnung „gefesselte[r] Riese“ ein; mit „28 Mitglieder und mindestens 30 Meinungen“[10]. Aufgrund der souveränen Gleichheit der Mitglieder und der Prämisse, Russland als vollwertiges Mitglied aufzunehmen, ist die Option “Giving Russia a voice but not a veto“[11] keine praktikable Lösung, um das Risiko einer Blockade bei wachsender Mitgliederzahl zu mindern. Neben der bereits praktizierten konstruktiven Enthaltung kann nur ein Mehrheitsentscheidungsverfahren mit opting-out im Sinne einer gewichteten Mehrheitsabstimmung und der Möglichkeit, sich nicht an der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen zu beteiligen, eine Blockade der Nato verhindern und die Handlungsfähigkeit der Allianz erhöhen.[12]
4. Interoperabilität
Für eine erfolgreiche Durchführung von militärischen Operationen im Rahmen multinationaler Einsätze oder im Bündnisfall müssen die Nato-Partner zur Integration und effektiven Zusammenarbeit in multinationalen Führungs- und Truppenstrukturen fähig sein. Die Interoperabilität ist ein wichtiges Kriterium für die Handlungsfähigkeit einer erweiterten Allianz. Mit Blick auf die System-Interoperabilität müssen beispielsweise die russischen Streitkräfte mit standardisiertem Nato-Kommunikationsequipment und Freund-Feind-Erkennung ausgestattet werden, um die Koordinierung und den Austausch zwischen multinationalen Truppenteilen zu ermöglichen. Als praktisches Hindernis haben sich beispielsweise bei gemeinsamen militärischen Operationen im Rahmen der Nato-Russland Kooperation mangelnde Sprachkenntnisse herausgestellt.
5. Finanzierung
Die Beitritts- bzw. Integrationsfinanzierung ist primär abhängig von der Verteidigungsstrategie der erweiterten Allianz und den Anforderung an die militärische Struktur und Streitkräftestärke Russlands. Die Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums oder des Congressional Budget Office zu den Kosten der Nato-Osterweiterung 1999 von 35 bzw. 64 Milliarden US-Dollar über 10 Jahre können zumindest einen Referenzrahmen bieten. Die Herstellung von Interoperabiltität ist dabei generell einer der kostenintensivsten Faktoren.
Gleichzeitig können durch die Integration Russlands Kosten eingespart werden. Durch den Wegfall des Restbedrohungspotentials durch Russland können konventionelle und nukleare Abschreckungskapazitäten auf ein deutlich niedrigeres Level – unter Aufrechterhaltung der deterrence capability des Bündnisses nach Außen – reduziert werden. Diese Budgetposten werden somit frei und können etwa für die Umsetzung einer rapid deployment-Strategie, d.h. etwa für schnelle Eingreiftruppen oder bessere Lufttransportkapazitäten, aufgewendet werden. Darüber hinaus sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Vergrößerung der Allianz langfristig die Kosten für die einzelnen Mitgliedstaaten senken und die Sicherheit erhöhen kann: “The bigger the alliance becomes, the less is the burden on any single state and the greater the security provided.”[13]
6. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Die Untersuchung zeigt, dass die Nato zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in der Lage ist, Russland als Vollmitglied in die Allianz aufzunehmen. Sollte der russische Präsident dem Insor-Strategiepapier folgen und einen Nato-Beitritt beantragen, wäre die Allianz nicht ausreichend vorbereitet. Vor einem Beitritt Russlands muss die Nato sicherstellen, dass Russland folgende Voraussetzungen erfüllt:
- aktive Umsetzung aller Kriterien des Membership Action Plan
- verbindliche Annahme der Wertegrundlage der Nato und Abbau von Spannungen sowie Beilegung von (Grenz-) Streitigkeiten mit Nachbarstaaten
Indes sollte Russland mit der Perspektive auf Vollmitgliedschaft an die Beitrittskriterien gebunden werden und das Aufnahmeverfahren als Prozess zum Wertekonsens gesehen werden. Gleichzeitig ist ein Anpassungsprozess innerhalb der Allianz nötig, um die ‚Aufnahmefähigkeit’ der Nato sicherstellen zu können. Daher muss sich die Nato in einem offenen Diskurs auf entsprechende Reformen einigen und diese initiieren. Die Reformagenda zur Vorbereitung des Beitritts sollte u.a. folgende Punkte beinhalten:
- Ausweitung des sicherheitspolitischen Selbstverständnisses im Nordatlantikvertrag auf Eurasien
- Änderung des Abstimmungsverfahrens unter Einführung eines Mehrheitsentscheidungsverfahrens mit Möglichkeit des opting-out
- Herstellung von Interoperabilität zwischen Russland und der Nato
- Bereitstellung der nötigen finanziellen Mittel
Eine Umsetzung der Reform- und Integrationsagenda ist nötig, um die Nato ‚aufnahmefähig’ für einen Beitritt Russlands zu machen und sicherzustellen, dass die Handlungsfähigkeit der Allianz nicht eingeschränkt wird. Bei gleichzeitiger Erfüllung der Beitrittskriterien von russischer Seite dürfte einer Aufnahme und Integration Russlands als Vollmitglied in die Nato an sich nichts mehr im Wege stehen.
von Moritz Junginger
Moritz Junginger studiert Internationale Beziehungen in Dresden
[1] Michail Gorbatschow zitiert in Baker III, 2002, S. 102
[2] Badanin / Savina, 2010, Rossiju zovut v NATO (eigene Übersetzung)
[3] vgl. Art, 1998, S. 385
[4] Smith, 2006, S. 126 (eigene Übersetzung)
[5] vgl. Russett / Stam, 1998, S. 371
[6] Volker / Naumann / Elbe / Weisser, 2010, Die Tür öffnen
[7] Fischer, 2009, Finding Russia’s place in Europe
[8] Art, 1998, S. 385
[9] Baker III, 2002, S. 102
[10] beide Friederichs, 2011, Die Nato, der gefesselte Riese
[11] Krickus, 2009, S. 1
[12] vgl. Baker III, 2002, S. 102
[13] Russett / Stam, 1998, 381
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