Deutsche Russlandpolitik: Ein offener Brief an die Grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck
Sehr geehrte Frau Beck,
Ihr Artikel über die Russlandpolitik Deutschlands in der ZEIT vom 23. August 2012 enttäuscht mich. Sie behaupten, das absurde und schroffe Urteil gegen jene Frauen, die mittels eines „Pussy Riot“ mutig gegen die Staatsmacht demonstrierten, disqualifiziere Russland als Partner. Deshalb solle endlich schluss sein mit der „Kuschelei“ zwischen Russland und Europa. Ihre Diagnose ist meiner Ansicht nach weder korrekt noch zielführend.
Vorweg muss klar sein: Das Urteil gegen „Pussy Riot“ muss jedem halbwegs demokratisch gesinnten Bürger hierzulande missfallen. Die Gewalt gegen Journalisten, das zweifelhafte Urteil gegen den zwiespältigen Chodorkowski, die strukturellen Mängel in den Regionen etwa bei der Waldbrandbekämpfung– dies alles ist auf die ein oder andere Art ein Armutszeugnis für Putin.
Wer glaubt, gegen eine relativ belanglose Protestaktion derart heftig vorgehen zu müssen, der sitzt allerdings alles Andere als fest im Sattel. Ein Präsident, dessen Name bei der russischen Suchmaschine Yandex nur ironische, satirische und belächelnde Ergebnisse erzielt, wird offenbar nicht mehr ernst genommen. Kurzum: Viele junge Russen und Russinnen sehen in Putin – der noch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich weiß – nicht die Zukunft des gespaltenen Landes. Ein Wandel des Systems von innen heraus ist eine Frage der Zeit, aber wir können und sollten diesen nicht von aussen erzwingen. Wenn Ihre Aussage stimmt, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung das Vorgehen gegen die drei Aktivistinnen unterstützt, wie erfolgreich könnte Europa dann gegen Regierung und Volk Druck von aussen ausüben? Wir können den Wandel einzig auf dem Wege der von Lew Kopelew und Heinrich Böll so eindrücklich gelebten „Volksdiplomatie“ unterstützen. Austausch, Debatte und zivilgesellschaftliche Kontakte abseits von „high politics“ sind, wie sie selbst in ihrem Artikel feststellen, von Putin um ein vielfaches mehr „zu fürchten“ als politische Sanktionen im Rahmen der G8 oder des Europarates. Schließlich zeigen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, dass das Modell der Konditionalität in den 90er Jahren kläglich scheiterte. Die Kriege in Tschetschenien fanden trotz einer Stillegung des PKA, trotz Europarat-Rüge und trotz massiver parlamentarischer Kritik statt (Haukkala, 2010, S. 84, 117-119). Sicherlich will ich damit nicht sagen, dass Europa stets schweigen, Automobile liefern und Gas beziehen sollte. Aber wir sollten auch nicht mit den Säbeln rasseln. Und dies hat drei Gründe:
1. Zivilgesellschaftliche Kontakte sind wirkungsvoller als politische Drohungen
Ich engagiere mich selbst für zivilgesellschaftlichen Austausch. Dabei wird immer wieder offensichtlich, wie stark sich die Beziehungen auf der persönlichen Ebene von jenen auf der hohen politischen Ebene unterscheiden. Wir streiten um die besten Modelle, tauschen uns über aktuelle politische Geschehnisse aus und konfrontieren einander mit Denkfehlern. Vor allem aber habe ich noch nie erlebt, dass ein böswilliger Streit selbst um die kontroversesten Themen entstand. Da ist immer ein Lerneffekt und sowohl Russische als auch Deutsche Teilnehmer unserer Tagungen nehmen stets Anregungen und Kritik mit nach Hause. Dies war unterschiedslos der Fall – bei meiner Teilnahme an der Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialoges ebenso wie bie der „Fabrik Innovativer Lösungen“ und dem „Forum junger Russlandexperten“. Kollektivbegriffe für „die Europäer und Amerikaner“ und „die Russen“ täuschen letztlich darüber hinweg, dass es diese beiden Seiten (zum Glück) nicht gibt.
2. Wir wissen zu wenig über Russland
In der Zeitschrift OSTEUROPA ist eine Debatte um die Russlandberichterstattung entbrannt (Gathmann/Scholz, 2011; Neef, 2011; Pörzgen, 2012; Heyden, 2012). Die Essenz der Artikel lässt sich so zusammenfassen: Immer weniger deutsche Zeitungen leisten sich überhaupt einen Korrespondenten in Russland(die ZEIT schließt ihr Büro in Moskau im Sommer 2013), manch ein Journalist beliefert mit einem Artikel gleich vier bis fünf Blätter die dessen Stelle gemeinsam bezahlen. In immer mehr Fällen übernehmen prekär angestellte freie Journalisten die Berichterstattung. Diese landesunkundigen „Fallschirmjournalisten“ reisen nur an „wenn es brennt“ und sie verlassen sich oftmals auf einheimische Scouts, die für sie Recherchen durchführen. Und auch in den Heimatredaktionen sind immer weniger Osteuropaexperten zu Hause, die Verständnis für die Themen vor Ort haben. Die Effekte dieser strukturellen Mängel fasst Ulrich Heyden so zusammen (Heyden, 2012, S.7):
„Viele Redaktionen sind schlicht überfordert. Wer sich in die Region nicht intensiv einarbeitet, hat Probleme die Ereignisse richtig zu gewichten. Die Oberflächlichkeit führt dann immer wieder zu großen Überraschungen. Wie war es denn möglich, dass im autoritären Putin-Russland immer mehr Menschen auf die Straße gehen? Wer sich mit dem Land jedoch länger beschäftigte, kannte auch die Vorläufer der Protestbewegung und war deshalb weniger überrascht. Es waren die Bürger in Vladivostok und Kaliningrad, die im Dezember 2008 und Januar 2010 Großdemonstrationen gegen die Erhöhung der Improtzölle für Gebrauchtwagen durchführten […]. Es war ein bis dahin unbekannter Polizeimajor, […] der im November 2009 seine Vorgesetzten per youtube-Video seine Vorgesetzten wegen Korruption anklagte […]Haben die deutschen Medien ausreichend über diese Internetrevolution berichtet? Nein, denn dafür hätte man erstmal erklären müssen, warum es im autoritär regierten Russland ein freies Internet gibt. Die oberflächliche Beschäftigung mit Russland führt zu Fehlurteilen wie diesem: Die „Schnee-Revolution“ sei einfach die Fortsetzung der Revolutionen in Nordafrika“.
Auch Jens Siegert beschrieb im Russland-Blog der Heinrich-Böll Stiftung ausführlich, wie die Macht schon vor den Protestkundgebungen in Bedrängnis geriet. Im deutschen Mainstream ist dies trotzdem nicht angekommen.
3. Wir sind leider nicht „die Guten“
Die menschenverachtende „Asyl-und Grenzpolitik“ der EU und ihre Subventionspolitik in der Landwirtschaft verbieten uns die Rolle des moralisch erhobenen Richters. Wir haben genug eigene Baustellen um uns über andere aufzuschwingen. Ganz abgesehen von den USA, deren Gebaren in Irak (Abu Ghraib), Pakistan (Droneneinsätze) aber auch in den Staaten selbst keinesfalls als moralisch besser oder gerechter angesehen werden kann als Russlands Unterstützung für Assad. Mitt Romney, der sich laut eigenem Bekunden im liberalen Massachusetts fühlt wie ein „Viehzüchter in der Vegetariersammlung“ entwarf in seinem Wahlbezirk Boston eine Asylpolitik der „self deportation“, die von Studierenden ohne Papiere dreimal höhere Studiengebühren verlangt. Er hat versucht, die Schwulen- und Lesbenkommission für Jugendliche abzuschaffen und holte ein für die Verhinderung von Ehen zwischen Schwarzen und Weißen vorgesehenes Gesetz von 1913 hervor, um die trauung homosexueller Paare in seinem Bundesstaat zu verhindern (Hahn, 2012). Die Vereinigten Staaten könnten, sei es mit Obama oder Romney, kaum glaubhaft für eine feministische Protestgruppe in Russland eintreten.
Deshalb die Frage an Sie: Wäre es nicht viel sinnvoller, Heinrich Bölls Volksdiplomatie zu favorisieren, das Visa-Regime zu erleichtern, die Berichterstattung, die Wissenschaft und den ebenfalls an mangelnder Osteuropaexpertise krankenden Bundestag (Pörzgen, 2009) finanziell und ideell zu unterstützen? Würden Stipendien für Russische Studierende (mit russischer Staatsbürgerschaft) nicht mehr bewirken als die Forderung an Frau Merkel, gegenüber Putin doch den Pfau zu spielen und Russlands Teilnahme an der G8 auszusetzen?
Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe mit freundlichem Gruß,
Malvin Oppold
Malvin Oppold ist stellvertretender Regionalleiter “Russland & GUS”
Bibliographie
Gathmann, M., Scholl, S., 2011. „Raus aus Moskau!“ Für eine andere Russlandberichterstattung. OSTEUROPA, 61 (10), S. 77-81.
Hahn, D., 2012. Die Zwei Gesichter des Mitt Romney. die taz, [online] 8. August. Verfügbar unter: http://www.taz.de/!100120/ 22.08.2012 [Zugriff am 04 September 2012].
Haukkala, H., 2010. The EU-Russia strategic partnership. The limits of post-sovereignty in international relations. London: Routledge.
Heyden, U., 2012. Gefährliche Ignoranz. Strukturmängel in der Berichterstattung über Osteuropa. OSTEUROPA, 62 (4), S. 3-8.
Neef, C., 2012. Binsen nach Tula. Fehldiagnosen zur Russlandberichterstattung. OSTEUROPA, 62 (1), S. 101-107.
Pörzgen, G., 2009. Auf der Suche nach der verlorenen Kompetenz. Russlandpolitik im deutschen Bundestag. OSTEUROPA, 59 (9), S.3-25.
Pörzgen, G., 2012. Wertfrage Auslandsjournalismus. Die Verlage, das Geld und die Berichterstattung. OSTEUROPA, 62 (3), S. 41-46.