Ein demokratischer Neustart für Europa
Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, sieht Europas Demokratie in großer Gefahr. Anhand von zehn Punkten stellt er seine Vision von einem demokratischen Europa vor. In Fortführung der Beiträge von Kommissionspräsident Manuel Barroso und Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn zur Eurokrise hat Martin Schulz IFAIR.eu freundlicherweise gestattet, seine Rede an der Humboldt-Universität zu Berlin vom 25. Mai 2012 an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Sehr geehrter Herr Vize-Präsident,
lieber Herr Prof. Pernice,
sehr verehrte Damen und Herren,
ich freue mich, dass Sie mir heute Abend die Gelegenheit geben, von dieser Stelle aus ein paar Gedanken zum “Demokratischen Europa” zu formulieren. Diese Gedanken sollen nicht abschließend oder gar endgültig sein, sondern sie stellen eine erste Skizze dar, an der ich auch mit Ihrer Hilfe in den nächsten Monaten weiterarbeiten möchte.
Die Humboldt-Reden haben nicht nur in Deutschland eine wichtige Funktion, nämlich die des öffentlichen Nachdenkens, wie es weitergehen kann in Europa. Nein, auch über die bundesdeutschen Grenzen hinaus sind die europapolitischen Reden “Unter den Linden” eine wichtige Marke geworden. Eine Marke, die wahrgenommen wird und von der aus wichtige Impulse gegeben worden sind. Dafür, dass Sie diese Marke gesetzt haben, sage ich Ihnen als Präsident des Europäischen Parlaments herzlichen Dank, weil wir gerade jetzt in einer schweren Phase für und in Europa viel Bedarf für öffentliches Nachdenken haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einer These beginnen. Einer These, die Sie vielleicht erschrecken wird, die Sie vielleicht für alarmistisch halten, zu der ich aber ohne Wenn und Aber stehe: Das, was griechische Philosophen und römische Juristen erdacht haben; das, was in der christlichen, jüdischen und muslimischen Ethik über Jahrhunderte diskutiert wurde; das, was in zahllosen Revolutionen erkämpft worden ist; das, was in Büchern, Liedern und anderen Kunstwerken beschrieben, besungen und dargestellt ist; das, was die abendländisch-westliche Tradition ausmacht; in einem Wort: das, was wir Demokratie nennen: All das ist in großer Gefahr!
Die Freiheit, Gleichheit, die Solidarität – also die Demokratie, durch die Menschen in Wahlen und Abstimmungen die Politik ihres Gemeinwesens bestimmen, all das ist bedroht. Demokratien sind kein Zustand – sondern sie sind immer ein Prozess. An ihnen muss gearbeitet werden und sie verändern sich stetig durch Demographie und Ökonomie, durch technische Innovationen, durch neue Medien, Globalisierung und anderes. Solche Entwicklungen fordern alle Gesellschaften in allen Weltregionen heraus.
Aber ich glaube, dass unsere europäische Demokratie von mindestens zwei Seiten auf sehr spezifische Weise herausgefordert wird: Erstens: Zunächst sind da die vielzitierten Märkte, die in der Krise, die wir seit ein paar Jahren erleben, ihre Muskeln zeigen. Ob diese Märkte wirkliche von einer “unsichtbare Hand” geleitet werden, wie der schottische Ökonom Adam Smith vermutet hat, oder ob sie nicht eher knallharte Lobby-Interessen vertreten, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Wichtig ist aber, dass wir uns mittlerweile daran gewöhnt haben, dass z.B. Rating-Agenturen einzelnen Regierungen und der gesamten EU unverhohlen drohen, dieses oder jenes zu tun. Nun ist es völlig in Ordnung, wenn jemand vor einer bestimmten Politikentscheidung warnt oder sagt, dass er diese für falsch hält. Über Meinungen kann man bekanntlich streiten und wir alle wissen, dass Ökonomen dies genauso tun wie andere Menschen. Aber dass eine Rating-Agentur ihre Warnung auch gleich dadurch zur Realität werden lassen kann, in dem sie ein ganzes Land in ihrer Bewertung herabstuft und dadurch unmittelbar dafür sorgt, dass eine neue Kreditaufnahme zig Milliarden Euro mehr kostet, führt bei vielen Menschen dazu, dass man unterstellt, diese Kräfte regierten die Welt und nicht etwa die demokratisch legitimierte Politik. Das ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Eine Prophezeiung, die von Menschen und nicht von göttlichen Propheten ausgesprochen wird, von Menschen, die sich – wie wir bei der falschen Bewertung der Immobilienpakete in den USA durch nämliche Rating-Agenturen gesehen haben – irren können und die überdies mit Kriterien arbeiten, die wir alle nicht kennen.
Dass der Eindruck sich verstärkt, Politik sei getrieben von diesen anonymen Kräften, dürfen wir nicht zulassen, weil so die gesamte Legitimität unseres politischen Systems in Frage gestellt wird. Denn: Warum soll ich zu einer Wahl gehen, wenn Politik eh nichts mehr zu sagen hat? Das ist gefährlich. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir den Primat der Politik zurückgewinnen müssen. Dieser Rückgewinn von politischer Souveränität wird aber nur durch “mehr Europa” erreicht werden. Denn nur eine ökonomische und politische Macht bestehend aus 500 Millionen Europäern hat im 21. Jahrhundert eine Chance. Weder die 82 Millionen Deutschen noch die 510.000 Luxemburger allein werden im globalen Wettbewerb der Regionen bestehen. Kurz gesagt: Wir werden unsere Demokratie nur mit und durch Europa verwirklichen können. Und umgekehrt: Scheitert Europa, scheitert auch die Demokratie. Dass wir hierfür die EU, wie wir sie heute kennen, verändern müssen, ist für mich selbstverständlich. Nicht jede Kritik an der EU ist gleich anti-europäisch. Diejenigen, die das unterstellen, machen es sich zu leicht – übrigens genauso wie diejenigen, die mit billigem Populismus politisches oder ökonomisches Kapital herausschlagen wollen. Es soll in Deutschland Autoren geben, die dieses Spiel geschickt beherrschen …
Meine Damen und Herren, neulich hat mir der Filmemacher Wim Wenders eine Beschreibung der EU gegeben, die mich beeindruckt hat. Er sagte: “Aus der europäischen Idee wurde die Verwaltung und jetzt betrachten die Menschen die Verwaltung als die Idee!” Das trifft es. Aber sollen wir deshalb die Idee aufgeben oder wollen wir lieber die Verwaltung ändern? Wollen wir die Idee aufgeben, dass wir auf unserem Kontinent gemeinsam Frieden sichern, Grenzen abbauen und Wohlstand verteidigen? Ich glaube nicht, dass wir das wollen!
Aber lassen Sie mich auf die zweite Herausforderung eingehen, die unsere europäische Demokratie gefährdet: Seitdem 2008 die Krise aus den USA zu uns nach Europa herübergeschwappt ist, haben die Exekutiven, also die Regierungen, einen bemerkenswerten Schluss gezogen: Weil die Märkte ein schnelles, ein entschlossenes Signal bräuchten, haben Parlamente fortan Pause. So die Logik der Regierenden. Ich kann das sogar zunächst verstehen, weil ich schon als Bürgermeister selbst erlebt habe, wie schwierig und unbequem ein Parlament für die Regierung sein kann.
Aber, meine Damen und Herren, Parlamente müssen genau das sein: schwierig und unbequem! Sie müssen politische Entscheidungen ans Licht der Öffentlichkeit zerren, und sie dort beraten, vielleicht verändern und manchmal sogar verwerfen. Dafür brauchen sie Zeit. Ja, Demokratie und Parlamentarismus brauchen Zeit. Und wenn wir uns diese Zeit nicht mehr nehmen, verändern wir unser Gesellschaftsmodell. Dann haben wir tatsächlich eine marktkonforme Demokratie – und nicht einen demokratiekonformen Markt, wie ich ihn mir wünsche. Die Praxis ist aber: Der Deutsche Bundestag hat seit der Bekämpfung der Bankenkrise in kürzester Zeit Hilfspakete von Hundertenmilliarden verabschiedet. Das kann im Einzelfall mal in Ordnung sein – aber als Dauerzustand ist dies systemgefährdend. Aber das ist der nationale Alltag – fragen Sie mal Herrn Kauder, Herrn Steinmeier und Frau Künast – vom Struck´schen Gesetz, das nichts so aus dem Parlament herauskommt, wie es hereingekommen ist, ist weit und breit keine Rede mehr.
Und nun zur Europäischen Ebene: Was ist eigentlich mit dem Parlamentarismus im Zuge der europäischen Einigung passiert? Mehr und mehr Kompetenzen wurden nach Brüssel übertragen, die national nicht mehr kontrollierbar sind. Der Deutsche Bundestag überwacht eben nur die Deutsche Bundesregierung. Aber der Bundestag und andere nationale Parlamente können nicht die 27 EU-Mitgliedsregierungen und eine europäische Exekutive, die Kommission, überwachen. Das kann nur eine Instanz, die genau dafür geschaffen worden ist: Das Europäische Parlament. Dieses Europäische Parlament hat zwar immer mehr Rechte bekommen und steht de jure, also nach geltender Rechtslage, sehr gut da. Es ist eines der mächtigsten Parlamente der Welt. Aber in den letzten zwei Jahren wurden durch den Trend zur Vergipfelung, also durch die Inflation von Treffen der Regierungschefs, immer mehr legislative Entscheidungen vorweg genommen. Das erinnert an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert. Zum ersten Mal vollzieht sich durch die “Selbstermächtigung des Rates” ein “Abbau der Demokratie” wie es der deutsche Philosoph Jürgen Habermas so treffend benennt.
Zugegebenermaßen hat die Finanz- und Bankenkrise die Regierungschefs ein ums andere mal dazu gezwungen schnell und unter Druck Entscheidungen zu treffen, die normalerweise langer parlamentarischer Prozeduren bedürfen. Aber ist diese sogenannte Unionsmethode – das Handeln der Regierungen ersetzt zunehmend das Handeln von Parlament und Kommission – denn wirklich effizienter? Oder haben wir dadurch nicht wieder das Einstimmigkeitsprinzip durch die Hintertür bekommen, das mit dem Vertrag von Lissabon weitgehend überwunden war? Wo ist also die Effizienz, wenn 27 Regierungen zusammen sitzen und sich gegenseitig blockieren, weil sie vor allem ihre nationalen Interessen im Auge haben? Diese “Effizienz” können Sie seit 2 Jahren bewundern. Jahre, in denen Europa tiefer und tiefer in die Krise geschlittert ist.
Deshalb sage ich: Wir brauchen jetzt einen Neustart für die europäische Demokratie. Diesen Neustart will ich anhand von 10 Punkten erläutern, mit deren Umsetzung wir bereits zum Teil im EP begonnen haben. Aber eins noch vorneweg: Die institutionellen Debatten, die wir mit großer Begeisterung seit Jahren in Expertenzirkeln führen, sind notwendig, aber sie greifen in der aktuellen Krisensituation zu kurz. Denn: Beständig wird geschraubt, nachjustiert, repariert oder gar Abriss und Neubau erwogen. Alles richtig. Alles möglich. Aber seien wir ehrlich: Kein aktuelles Problem wird dadurch gelöst; das sind Expertendebatten, die wir hier verstehen, die einem vielleicht sogar den Hauch des Avantgardistischen geben. Aber es kann auch ein ganz anderes Bild entstehen: Dass das Haus brennt aber die Feuerwehr über das ideale Löschfahrzeug der Zukunft diskutiert. Kein Wunder also, wenn sich die Menschen angesichts dieser institutionellen Nabelschau Schulter zuckend abwenden.
Nein, mit den fortgesetzten Institutionendebatten liefern wir uns nur jenen aus, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der EU in ihrer heutigen Form ist. Der erst jüngst am Veto Großbritanniens und der Tschechischen Republik gescheiterte Versuch der Reform der Verträge und der daraus entstandene sogenannte Fiskalpakt sind ein eklatantes Beispiel dafür und Mahnung zugleich!
Deshalb sage ich: Auch ohne einen neuen europäischen Vertrag, ohne einen Verfassungskonvent und ohne dass wir ein langjähriges Ratifizierungsverfahren durchlaufen, können wir im Rahmen des Bestehenden einen Neustart der europäischen Demokratie beginnen. Lassen sie uns jetzt damit anfangen!
1. Demokratie braucht Öffentlichkeit
Ob in Parlamenten, auf dem Marktplatz oder in Arenen: Unsere Gemeinwesen leben davon, dass Entscheidungen öffentlich debattiert werden. Geheimverhandlungen und ein generelles Misstrauen gegenüber der Bevölkerung zerstört Demokratie. Zwar soll es Politiker geben, die es öffentlich bedauern, dass Wähler den Ausgang von Wahlen bestimmen – aber das sind Einzelfälle. Beispiel ACTA: Anfang dieses Jahres ging ein Aufschrei durch die Internet-Gemeinde, weil viele Regierungen international in aller Heimlichkeit Verhandlungen über die zukünftigen Copyright-Regeln geführt haben. Verhandlungen über ein Abkommen, das tief in den Alltag der Menschen eingreift.
Nachdem dies öffentlich geworden war, unterzeichneten 2,5 Millionen Bürger eine Petition gegen ACTA und übergaben sie – wem? Den Staats- und Regierungschefs, die diese Geheimverhandlungen initiiert hatten? Nein, sie übergaben diese Unterschriftenliste dem Europäischen Parlament. Und seither debattieren wir öffentlich, kritisch und ergebnisoffen, ob wir dieses Abkommen ratifizieren oder ob wir es stoppen. Bei dieser Debatte beziehen wir die Betroffenen ein. Ich selbst habe mit Studierenden an Universitäten gestritten, einen europaweiten Online-Chat initiiert und nutze jede Form des Diskurses, damit wir als Parlament eine sachgerechte Entscheidung treffen können. Wir werden als EP deshalb noch stärker versuchen, unsere Öffentlichkeit und Sichtbarkeit herzustellen.
2. Demokratie braucht Streit
Sichtbarkeit braucht Streit. Nicht um seiner selbst willen, sondern um zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen. Denn Streit zeigt Alternativen. Diesen Streit will ich führen – in aller Würde, in der ein Präsident streiten muss – und zwar sowohl innerhalb des Parlaments als auch mit anderen Institutionen, sei es mit dem Rat oder der Kommission.
Leider wird das Europäische Parlament zu sehr als Konsensmaschine wahrgenommen. Durch die verfassungsgemäßen Vorgaben sind wir als Parlament vor allem dann stark, wenn wir mit großen Mehrheiten beschließen. Das schließt politischen Streit zu oft aus. Das muss und kann sich ändern: Ganz bewusst habe ich am Tag 1 meiner Präsidentschaft den ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban ins Parlament eingeladen. Um über seine Politik, die in ganz Europa höchst umstritten war, zu streiten. Das war eine Sternstunde für europäischen Parlamentarismus – eine Sternstunde, in der sich der ungarische Regierungschef einer Opposition gegenübersah, die er so bei sich Zuhause nicht mehr vorfindet. Auch Ministerpräsident Mario Monti hat vor dem Europäischen Parlament seine Politik in Italien erläutert, weil von seinem Erfolg oder Misserfolg viel für uns alle abhängt. Nicht nur für die Italienerinnen und Italiener sondern für alle Europäer. Und deshalb habe ich auch Ministerpräsident Marc Rutte gebeten zu uns zu kommen, um über die Niederlande zu diskutieren, weil viele Menschen sich Sorgen machen, über die Entwicklung in diesem Land.
Ja, ich versuche, in meiner Amtszeit das Europäische Parlament stärker zu einem Ort des Streits zu machen – ich tue dies bewusst, damit die Institution als Ganzes und die europäische Demokratie dadurch gewinnen.
3. Demokratie braucht Gewaltenteilung
Es gehört zum vielbeschworenen europäischen Erbe, dass nationale Souveränität einen verfassungsmäßigen Rahmen entwickelt hat: das Gewaltenteilungsmodell, das Verhältnis von Legislative, Exekutive und unabhängiger Rechtsprechung.
Seit Jahren jedoch übertragen wir mehr Souveränitätsrechte von der nationalen Ebene auf die EU-Ebene, enthalten dieser aber wesentliche Teile des Gewaltenteilungsmodells vor. Das ist das eigentliche Demokratiedefizit! Mit einem vollen Initiativrecht des Europäischen Parlaments könnten wir dies korrigieren. Hierfür müssen noch nicht einmal die Verträge geändert werden, sondern es reicht, wenn die Kommission sich politisch selbst verpflichtet, sich die Initiativen des Parlaments anzueignen. Das ist pragmatische Politik.
4. Demokratie braucht Parteien
Ich vermute, dass nur wenige in Deutschland je von Gebilden namens EVP oder SPE gehört haben. Wahrscheinlich verbinden sie mit diesen Kürzeln ein neues Bremssystem für Autos oder eine aktuelle Software für Computer. Dem ist nicht so: Das eine ist die Europäische Volkspartei bestehend aus der deutschen CDU von Angela Merkel, der griechischen Nea Dimocratia vom Andonis Samaras, der französischen UMP und so weiter – im anderen Club, der Sozialdemokratischen Partei Europas, sind Sigmar Gabriel und Francois Hollande führende Mitglieder. Wir nehmen alle diese Politiker ausschließlich als nationale Akteure wahr. Das ist falsch, denn sie sind alle bereits europaweit unterwegs. Ein Beispiel: Die geschlossene Unterstützung der europäischen Konservativen, angeführt von Angela Merkel, für Nicolas Sarkozy und die ebenso geschlossene Unterstützung der europäischen Sozialdemokraten für Francois Hollande ist der Beweis dafür.
Ich habe es von Anfang an begrüßt, dass der französische Wahlkampf so europäisiert worden ist. Das ist eine wichtige Entwicklung auch für die nationalen Parteien, die hierdurch mehr und mehr über den nationalen Tellerrand hinausschauen. So kann ich mir gut vorstellen, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Programme der Parteien wortgleiche Passagen zu bestimmten Themen enthalten, die sie auf europäischer Ebene gemeinsam entwickelt haben. Erst dann hätten wir tatsächliche eine europäische Sozial- oder Christdemokratie.
5. Demokratische Wahlen müssen etwas entscheiden
Das ist zentral! Denn Fakt ist: Der Eindruck, bei der Europawahl gehe es um nichts, hat mit jeder Wahl seit 1979 zu einer sinkenden Wahlbeteiligung geführt. Ich bin nicht bereit das einfach so hinzunehmen! Deshalb ist es entscheidend, dass die europäischen Parteien für die Europawahl 2014 jeweils ihren europaweiten Spitzenkandidaten aufstellen, der für den Posten des Kommissionspräsidenten kandidiert. Kommissionspräsident wird nach der Wahl der- oder diejenige mit einer Mehrheit im Parlament. Das ist – und das scheinen viele nicht zu wissen – die geltende Rechtslage in der EU für die kommenden Europawahlen.
Damit wird es zum ersten Mal eine Auswahl von Personen geben, die mit unterschiedlichen Programmen in einen gesamteuropäischen Wahlkampf ziehen. Das wird eine europäische Debatte über europäische Themen befördern, in dem sich für die Wähler klar unterscheidbare Alternativen für die EU-Politik herauskristallisieren. Denn nichts ist unpolitischer als die These “Europa ist alternativlos”. Richtiger muss es bei einer Europawahl heißen: “Welches Europa wollen wir?” Dafür ist ein Wahlkampf da, damit die politische Richtung in streitiger Debatte bestimmt wird.
6. Demokratie braucht Zivilgesellschaft
Ich bin glücklich, dass wir mittlerweile Elemente einer direkten Demokratie in der EU eingeführt haben. Seit dem 1. April gibt es die Europäische Bürgerinitiative, bei der Bürger sich zum ersten Mal grenzüberschreitend zusammenschließen und ein Gesetzgebungsverfahren anstoßen können. Denn längst gibt es die transnationalen Zusammenschlüsse in Europa, seien es europäische Betriebsräte und Unternehmen oder multinationale Nichtregierungsorganisationen. Sie alle haben das Potential, Kampagnen für oder gegen etwas anzustoßen und Menschen zu mobilisieren.
Weil ich an diese Kraft der Zivilgesellschaft glaube, habe ich jüngst zusammen mit Ulrich Beck, Helmut Schmidt, Jürgen Habermas, Umberto Eco und anderen einen Aufruf für ein freiwilliges europäisches Jahr unterschrieben, weil man durch ein solches Instrument gelebte europäische Erfahrung an die Jungen weitergeben kann. Ich halte das für wichtig. Denn: Für die älteren unter uns ist die Erfahrung der europäischen Kriege Motivation und Anlass gewesen, dieses gemeinsame Europa aufzubauen. Sie als junge Leute verlangen aber zu Recht eine neue, eine in die Zukunft gerichtete Begründung, warum wir dieses Europa brauchen. Eine rein vergangenheitsbezogene Begründung reicht heute nicht mehr aus. Deshalb ist es an den europäischen und nationalen Institutionen, bei der Entstehung solcher transnationaler Strukturen einer Bürgergesellschaft zu helfen – sei es durch ein freiwilliges europäisches Jahr, durch den verstärkten Austausch von Schülern, Auszubildenden, Studierenden und Journalisten und dadurch, dass wir sehr genau zuhören, was diese Zivilgesellschaft uns zu sagen hat.
7. Demokratie braucht Medien
Eine positive Nebenerscheinung der Krise ist, dass wir uns mehr für unsere Nachbarländer zu interessieren beginnen: Wann dort in Rente gegangen wird, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung sind und wie es mit der Wettbewerbsfähigkeit aussieht. Plötzlich sind unsere Zeitungen und Nachrichtensendungen voll von Ereignissen aus den Nachbarländern. Auch wenn ich nicht glücklich über jede Art der Berichterstattung bin, wissen wir heute besser, dass eine nationale Wahlentscheidung uns in ganz Europa betrifft. Womit könnte man dies deutlicher veranschaulichen, als mit den anstehenden Wahlen in Griechenland, auf die ganz Europa in diesen Tagen gebannt schaut?
Hinzu kommt ein Trend, der durch die neuen, sozialen Medien verstärkt wird: Die transnationale Diskussion über Medien wie youtube, Facebook und Twitter, die für die junge Generation denselben Stellenwert besitzen, wie für uns einst die Berichterstattung im Spiegel, im Stern oder in anderen gedruckten Publikationen. Diese neuen sozialen Medien können zukünftig eine wichtige Rolle bei der Themensetzung auf der europäischen Ebene spielen, wie wir beim Thema ACTA gesehen haben.
Deshalb sehe ich, dass wir auf dem Weg zu einer europäischen Öffentlichkeit ein gutes und wichtiges Stück vorangekommen sind. Mittlerweile kann man von einer existierenden europäische Innenpolitik sprechen, die durch unsere Medien gut vermittelt wird.
8. Demokratie braucht Grundrechte
Bei all diesen neuen Entwicklungen, dürfen wir die normativen Grundlagen unserer Demokratie nicht aus dem Blick verlieren. Denn: Das wichtigste Element einer Demokratie bleibt der individuelle Grundrechteschutz. Deshalb sind der Grund- und Menschenrechtsschutz konstitutive Elemente der Europäischen Union. Der hohe Grundrechtsstandard und z.B. das Verbot der Todesstrafe unterscheidet Europa von anderen Regionen dieser Welt. Darauf können wir stolz sein und ich würde mich freuen, wenn wir dies auch ab und an selbstbewusster vertreten würden. Der Schutz vor unberechtigten staatlichen Eingriffen in die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, der Schutz vor Diskriminierung: All diese Rechte sind in der europäischen Grundrechtecharta enthalten und sie sind geltendes Recht und werden vom EuGH angewandt.
Und das Parlament schützt die Bürger, auch dann, wenn nationale Parlamente dies nicht mehr können. Erlauben Sie mir, Ihnen das anhand eines Beispiels zu erläutern: Beim SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten im Rahmen der Terrorismusbekämpfung hat das Europäische Parlament seine Macht gezeigt. Mit dem “Nein” der Europaparlamentarier zu Swift wurde eine Regelung gekippt, die US-Behörden Eingriffsmöglichkeiten in sensible Finanzdaten von Unionsbürgern gegeben hätte. Kein nationales Parlament fiel den Regierungen in die Arme, verhinderte diesen hinter verschlossenen Türen ausgehandelten Deal. Durch das beherzte Einschreiten des Europa-Parlaments wurde ein Abkommen zu Fall gebracht, das stark vom Geist der Sicherheitsideologie der Vereinigten Staaten von Amerika geprägt, aber nicht dem Geist des Grundrechteschutz verpflichtet war, den wir als europäische Abgeordnete unseren Bürgern dieses Kontinents gewährleisten müssen. Und das haben wir getan: Wir sagten Ja zur Terrorabwehr, aber Nein zu massenhafter Datenschnüffelei.
Und deshalb widerspreche ich hier ausdrücklich dem Bundesverfassungsgericht. Seine Unterstellung, auf der EU-Ebene könne der Grundrechteschutz nicht ausreichend gewährleistet werden, wird hier genau widerlegt.
9. Demokratie braucht Hoffnung
Ich weiß, dass dieser Satz pathetisch klingen mag. Er klingt aber nur für alle jene pathetisch, denen es vergleichsweise gut geht. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Wochen war ich zweimal in Griechenland. Ich war auch in Spanien. In beiden Ländern habe ich mit den Menschen gesprochen, die von der Krise und der radikalen aber notwendigen Sparpolitik besonders betroffen sind. Es sind nicht diejenigen, die großen Reichtum angehäuft und die ihr Kapital noch eben schnell auf Schweizer Banken deponiert haben, sondern vor allem die Jungen, die Alten und andere besonders benachteiligte Gruppen. In Südeuropa herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von teilweise 50%. Bei aller Notwendigkeit, dass in diesen Ländern Reformen durchgeführt werden müssen: Es herrscht eine Hoffnungslosigkeit bei diesen jungen Menschen, die mich erschreckt hat. Eine Perspektivlosigkeit, die systemrelevant ist!
Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat in einem in dieser Woche vorgestellten Bericht von der “verlorenen Generation” in diesen Ländern gesprochen. Das ist etwas, das eine Demokratie nicht hinnehmen darf. Denn das europäische Demokratiemodell ist das Modell einer solidarischen und einer sozialen Demokratie. Das Modell einer Demokratie, in der die Menschen vor den größten Lebensrisiken abgesichert werden und in der sie eine zweite Chance bekommen, wenn sie aus der Bahn geworfen worden sind. Diese Demokratie lebt von der Kreativität, von der Teilhabe und von der Begeisterung ihrer Menschen, vor allem der Jungen. Und da Europa im scharfen Wettbewerb mit anderen aufstrebenden Regionen steht, wird uns nur diese Kreativität vor dem Abstieg im globalen Ranking bewahren. Deshalb sind regional, national und europäisch mehr Anstrengungen im Bereich der Bildung notwendig. Dass wir gleichzeitig das dafür notwendige Geld einsparen müssen, ist offensichtlich: Aber ich sehe im EU-Haushalt z.B. im Bereich der Landwirtschaft mögliche Einsparpotentiale, um das zu realisieren. Ich werde das Thema bei den kommenden Haushaltsberatungen so einbringen.
Damit wir uns nicht missverstehen: Bei der Forderung nach mehr Geld für Bildung und lebenslangem Lernen geht es mir – als gelerntem Buchhändler – nicht in erster Linie um die ökonomische Komponente. Gerade an einer Institution wie dieser hier darf man an das Humboldt´sche Bildungsideal erinnern, dass Bildung als Selbstzweck, quasi als Vervollkommnung des menschlichen Seins begreift. Zu diesem Bildungsideal stehe ich und ich sehe es als integrativen Bestandteil unserer europäischen Demokratie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein 10. Punkt ist ein besonders dickes Brett, das wir durchbohren müssen. Ich spreche hier vom institutionellen Neuaufbau, den die EU mittelfristig hinbekommen muss.
Und ich sage ganz klar: Wenn nicht alle bei diesem Neuaufbau mitmachen wollen, der mehr Transparenz, Demokratie und Effizienz bringen wird, wird absehbar eine Gruppe von Staaten voranschreiten, wie dies bereits bei Schengen oder dem Euro geschehen ist. Worum geht es mir?
10. Demokratie braucht institutionelle Klarheit
Auch wenn ich nicht glaube, dass alle Menschen in Deutschland den deutschen Gesetzgebungsprozess oder das deutsche Wahlrecht fehlerfrei referieren können, ist doch auch ein weitverbreitetes Unverständnis über den Aufbau der EU unübersehbar, ein Unverständnis, das schädlich ist. Was meinen Sie, wie viele von Ihnen die 4 Präsidenten der europäischen Institutionen, also der Kommission, des Rates, des Gerichtshofes und des Parlaments aufzählen können?
Ich bin sicher, dass mittelfristig für ein demokratisches Europa eine institutionelle Klarheit notwendig ist: Eine europäische Regierung, die heute noch Kommission heißt. Eine erste parlamentarische Kammer, das Europäische Parlament. Eine zweite Kammer, bestehend aus nationalen Regierungen, die sich heute noch Rat nennt. Und ein europäisches Gericht, das den Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene überwacht. Die Weichen hierfür werden – wie bereits gesagt – schon 2014 bei der nächsten Europawahl gestellt: Nur die Partei oder die Koalition, die dann im Parlament eine Mehrheit erreicht, wird den Kommissionspräsidenten stellen.
Alle diese europäischen Institutionen sind denen auf der nationalen Ebene nicht über- oder untergeordnet, sondern sie handeln auf Basis einer klaren Kompetenzverteilung und in loyaler Kooperation mit der nationalen Ebene. Die Wahl des Kommissionspräsidenten in der von mir beschrieben Art und Weise führt aber zu einer neuen Qualität: Er oder sie ist der faktische Regierungschef Europas. Dieser gewählte Präsident wird sich vor seiner Wahl mit einem Wahl- bzw. Regierungsprogramm den Wählern stellen. Dies führt dann automatisch zu einer politischen Prioritätensetzung, weil wir im Wahlkampf darüber streiten können, was die Schwerpunkte der neugewählten EU-Regierung sein sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben ein Institutionengebilde geschaffen, das zwischen Staatenbund und Bundesstaat steht. Ich sehe keine “Vereinigten Staaten von Europa” am Horizont heraufdämmern, wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist aber gar keine schlechte Nachricht! Als junger Mann habe ich zwar von den “Vereinigten Staaten von Europa” geträumt, das war damals für mich das Ziel der europäischen Integration. Aber mit den Jahren habe ich gelernt, wie stark die nationalen Identitäten sind und ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass wir in Europa jemals aufhören werden uns als Deutsche, Belgier, Franzosen oder Polen zu fühlen. Das ist auch gut so!
Denn unsere nationale Vielfalt und unsere spezifischen Erfahrungen sind unser Reichtum in Europa. Der Nationalstaat wird sich nicht in einem Europa auflösen und die nationalen Identitäten werden sich nicht gänzlich zu einer europäischen Identität verschmelzen. Wir werden Hybridwesen bleiben, eines das regionale, nationale und europäische Bezüge hat. Spätestens beim Fußball werden wir immer wieder daran erinnert.
Aber klar ist auch: Die europäische Integration hat schon längst die Schwelle des Staatenbundes überschritten, sie hat ein supranationales Gebilde hervorgebracht. Da kann man jetzt die engen verfassungsrechtlichen Schablonen “Bundesstaat” oder “Staatenbund” anlegen und bemängeln, dass die EU irgendwo dazwischen steckengeblieben ist. Oder man kann es als ungemein kreative und innovative Antwort auf die Anforderung politischer Herrschaft im globalisierten 21. Jahrhundert erkennen. Eine Antwort auf die Anforderungen in einer Welt, die kein Nationalstaat alleine mehr lösen kann.
Unsere Antwort lautet: Supranationale Souveränität; die Bündelung nationaler Souveränität zur Rückgewinnung von politischen Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsmacht! Denn mit 27 Staaten, 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern sowie dem größten und reichsten Binnenmarkt der Welt lässt sich deutlich mehr bewegen. Gerade wir in Deutschland vergessen das oft. Wir fühlen uns wie eine Großmacht, aber in der Arena der zukünftigen Weltpolitik sind wir ein Fliegengewicht. Vielleicht könnten wir noch einige Jahre im transkontinentalen Wettbewerb mithalten. Aber wo würden wir in der Mitte dieses Jahrhunderts stehen, wenn ein asiatisch-pazifisches Zeitalter in voller Blüte steht? Heute hat Deutschland 82 Millionen Einwohner, Tendenz fallend – China hat 1,3 Milliarden, Tendenz steigend. Die Welt um uns herum verändert sich rasant. Wenn wir darauf nicht reagieren, verschwindet Europa in der Bedeutungslosigkeit. Das ist die Herausforderung.
Meine Damen und Herren, die EU ist der Versuch im globalisierten 21. Jahrhundert unser soziales Gesellschaftsmodell angesichts neuer aufsteigender Mächte zu wahren. Der Versuch, Europas Abstieg zu verhindern. Die Europäische Union ist auch der Versuch, unsere Demokratie zu bewahren.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine freie Presse und unabhängige Gerichte gibt, Kranken- und Rentenversorgung, freien Zugang zu Bildung und Aufstiegschancen für mehr Menschen denn je. Wir leben in einer Welt, der parlamentarischen Demokratie, mit politischer Teilhabe und in der es Gleichberechtigung und verbriefte Bürgerrechte sowie die höchsten Sozial- und Umweltstandards weltweit gibt. Weder Kinderarbeit noch die Todesstrafe. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Das ist die Gesellschaft, in der ich leben will. Eine Gesellschaft die natürlich noch freier, noch gerechter und noch solidarischer werden kann. Aber ein guter Anfang ist gemacht und er wurde begonnen, als Lehre aus der europäischen Katastrophe in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich will, dass auch meine Kinder und nachfolgende Generationen in diesem Europa leben können, das seine Lehren gezogen hat.
Dass wir Europa als Allianz erhalten können, dafür gibt es keine Garantie. Doch dafür lohnt es sich jeden Tag zu kämpfen. Ich würde mich freuen, wenn wir gemeinsam für dieses bessere Europa kämpfen.
Martin Schulz
Präsident des europäischen Parlaments