Warum es in Tunesien zu einer Revolution kam – und in Algerien nicht.

Warum es in Tunesien zu einer Revolution kam – und in Algerien nicht.

Mohamed Bouazizi war nicht der einzige, der sich Brand steckte. Doch als der junge Gemüsehandler sich im Dezember 2010 im tunesischen Sidi Bouzid selbst in Flammen aufgehen ließ, entzündete er ein Lauffeuer, das nach und nach große Teile der arabischen Welt erfasste. In Tunesien kam es zu massiven Protesten, die wie in Lybien und Ägypten in den revolutionären Umwälzungen des politischen Systems mündeten. Auch in Algerien gingen die Menschen auf die Straße, auch in Algerien setzten sich junge Menschen in Brand, doch die Revolution blieb aus. Der vorliegende Text zeigt auf, dass die Gründe für den unterschiedlichen Verlauf der Geschehnisse weniger auf den politischen und sozioökonomischen Vorbedingungen beider Länder beruhen, wie in der öffentlichen Diskussion meist behauptet, sondern in machtstrukturellen Unterschieden, der Stimmung in der Bevölkerung und dem Verhalten der Regierung während der Proteste.

Die rege Diskussion über die jüngsten Entwicklungen im arabischen Welt hat viele Erklärungsansätze hervorgebracht: Die hohe Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der gut ausgebildeten Jugend und ihre geringen Möglichkeiten der politischen Teilhabe; die demographische Struktur, die einen überproportionalen Anteil an Jugendlichen beinhaltet (youth bulge) und der Geburtenrückgang; die Frustration infolge steigender Lebensmittelpreise und der Inflation; die Urbanisierung und die Vernetzungsmöglichkeiten durch das Internet; die Korruption und die im jeweiligen Land historisch und sozialstrukturell bedingten Konfliktpotentiale. Doch die politische, demographische und sozioökonomische Situation in Algerien und Tunesien weist zu Beginn der Proteste nur geringe Unterschiede auf, so dass die Ursachen für den unterschiedlichen Verlauf in beiden Ländern mit den oben genannten Argumenten nicht erschöpft sein können. Wieso also kam es trotz ähnlicher Protestursachen und sozialstruktureller Bedingungen zu einem Sturz des Regimes in Tunesien, in Algerien aber nicht? Liegt es an unterschiedlichen Protestursachen? Fehlen in Algerien einfach Gruppierungen, die sich zu einer starken Opposition zusammenschließen könnten? Oder sind es vielmehr subjektive Gründe der Staatsbürger_innen, die das Ausbleiben der Revolution in Algerien erklären? Und welche Rolle spielen die (Fehl-) Entscheidungen und Handlungen der Akteure? War es zuletzt die Voraussicht der Regierung in Algier, die eine Kettenreaktion nach tunesischem Vorbild stoppte?

Um nicht in einem Meer von Argumenten zu versinken, werden sie hier in vier Kategorien gebündelt: 1) Die Rolle sozioökonomischer Entwicklungen für den Ausbruch der Proteste, 2) die Rolle struktureller Bedingungen für den Verlauf der Proteste, 3) die Rolle der subjektiven Wahrnehmung und Forderungen der Bevölkerung und 4) die Rolle der Handlungen beteiligter Akteure und ihr Einfluss auf den Verlauf der Proteste.

1. Sozioökonomische Entwicklungen im Vorfeld der Proteste

Viele der genannten Argumente kreisen um demographische Entwicklungen wie die Herausbildung einer gut gebildeten, arbeits- und perspektivlosen Masse an Jugendlichen (youth bulge), Bevölkerungswachstum und die steigende Urbanisierung, sowie um die ökonomische Situation, die neben der hohen Jugendarbeitslosigkeit von Inflation, Armut und Korruption geprägt ist. Doch ein genauer Blick auf die sozioökonomischen Entwicklungen zeigt, dass sie lediglich Ursachen für die Proteste in beiden Ländern sind, nicht aber Erklärungen für den Ausbruch der Revolution: Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Proteste leben in beiden Ländern ca. zwei Drittel der Bevölkerung in Städten, die Bevölkerungszahl hat sich seit 1950 mindestens verdreifacht, rund ein Fünftel der Bevölkerung ist zwischen 15 und 24 Jahre alt (in Algerien sogar fast ein Viertel) und beide Bevölkerungen erleben einen spürbaren Anstieg der Inflation. Die Unterschiede sind vor allem mit Blick auf die Arbeitslosigkeit, die Bildung und die Korruption zu erkennen: Die Arbeitslosigkeit in Tunesien blieb seit der Jahrtausendwende konstant bei ca. 15%, in Algerien ist sie dagegen im selben Zeitraum von knapp 30% fast um zwei Drittel gesunken. Trotz dieses Aufwärtstrends und einer Angleichung der Prozentwerte im Jahre 2005 war in Algerien die Jugendarbeitslosigkeit im selben Jahr jedoch noch wesentlich höher. Außerdem ist das Bildungsniveau der männlichen Bevölkerung in Tunesien deutlich höher und die Korruption niedriger. Ein Blick auf diese Zahlen lässt erahnen, dass es nicht nur sozioökonomische Ursachen sind, die den Unterschied in der Entwicklung der Proteste ausmachen. Es sind vielmehr Abweichungen in der Staats- und Machtstruktur, der Stimmung in der Bevölkerung und den Auswirkungen individueller Entscheidungen beteiligter Akteure.

2. Die Rolle der Staats- und Machtstruktur

Ein erster Blick auf das politische System lässt zunächst viele Gemeinsamkeiten erkennen: es handelt sich um autoritäre Regime mit einer langjährigen politischen Stabilität, in denen die politischen Entscheidungen von den Interessen der ökonomischen und politischen Eliten bestimmt werden, geführt von einem alternden Präsidenten, der bereits seit Jahrzehnten im Amt ist. Die relevanten Unterschiede liegen in der Verteilung der Machtressourcen. In Algerien steht hinter der Regierung von Präsident Abdelaziz Bouteflika ein enormes Machtpotential des Militärs, während in Tunesien die wirtschaftliche und politische Macht von dem kleinen Clan, der „Familie“, um Präsidenten Ben Alis kontrolliert wurde. Die Machtstruktur in Algerien beruht zudem auf einem System von shared despotism, in dem der Einfluss der traditionellen ländlichen Eliten bis heute erhalten geblieben ist. Der Kreis an Nutznießern des patrimonialen und korrupten Systems ist also deutlich größer. Auch die Stärke der oppositionellen Kräfte ist verschieden ausgeprägt: Die für die Proteste entscheidenden Akteure in Tunesien waren Jugendliche, die sich mobilisierten und die ehemals sehr einflussreiche Gewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail), in Algerien fehlen dagegen einflussreiche Organisationen wie die UGTT, da die Zivilgesellschaft in Folge des Bürgerkrieges in der neunziger Jahren nahezu verschwand. Auch der internationale Einfluss ist verschieden: Als ein wichtiger Öl-Exporteur unterstützen vor allem Akteure aus den USA und Europa aktiv die Idee eines langsamen, nicht revolutionären Wandels in Algerien.

3. Die subjektive Dimension

In Algerien bestimmt ein Misstrauen gegenüber der Regierungsfähigkeit der Oppositionsparteien und die Überzeugung eines Mangels an potentiellen Akteuren für den politischen Wandel die öffentliche Meinung, zudem ist die Traumatisierung durch den blutigen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) und den Bürgerkrieg (1991-2002) weiterhin präsent. Auch die Furcht vor politischem Chaos und einer erneuten Intervention Frankreichs bedrückt die algerische Bevölkerung. Dies wird verstärkt durch die von der algerischen Regierung kontrollierten Medien, die erfolgreich den Protesten den Rückhalt in der Bevölkerung entband und in der Lage war, die Protestierenden als Terroristen zu diskreditieren. In Tunesien war die Bevölkerung dagegen imstande durch eigene Informationskanäle, vor allem über das Internet, die street opinion zur Quelle der öffentlichen Meinung zu machen und somit die Wut gegen die Regierung zu intensivieren.
 Weiterhin war die Motivation zu protestieren in Algerien stärker von den individuellen Bedürfnissen und Interessen der Personen geprägt, nicht von dem Willen zur Änderung des gesellschaftlichen Systems, wie die Worte eines jungen Algeriers zeigen, der sich selbst in Brand steckte: „Ich bin nicht Bouazizi. Alles was ich will ist ein Dach über dem Kopf“[1].

4. Die Handlungen der beteiligten Akteure und ihr Einfluss auf den Verlauf der Proteste

Abseits von sozioökonomischen, strukturellen oder subjektiven Gründen spielen auch die Handlungen und die Handlungsfähigkeit der beteiligten Akteure eine wichtige Rolle. Die Führungsriege um den ehemaligen tunesischen Präsidenten Ben-Ali brauchte wesentlich länger, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen, als die algerische Regierung. Zudem erschwerte der Mangel an organisatorischer Kompetenz in Algerien eine Zusammenführung der Proteste zu einer gemeinsamen Bewegung. Auch die Art der staatlichen Reaktionen trug zu dem Verlauf der Ereignisse bei: die Repression bei den Protesten in Algerien war trotz der größeren militärischen Potenz geringer als in Tunesien und Bouteflika reagierte sofort nach Beginn der Proteste mit einer Ausschüttung von Geldern für verschiedene soziale Gruppen, mit einer Lockerung der Regulierungen für den Verkauf von Produkten auf der Straße und einer Erhöhung der Subventionen für einige Grundgüter; er hob die Notstandsgesetze auf, legalisierte einige Parteien und erlaubte die Internationale Überwachung der Parlamentswahlen. Der Versuch Ben-Alis, politische Maßnahmen zur Linderung des Konfliktpotentials zu ergreifen, fiel hingegen erst als die Mobilisierungen der Bevölkerung bereits zu weit fortgeschritten waren, um dadurch zerstreut zu werden.

Was können wir aus diesen Daten lernen? Der Anstieg von Inflation und das Problem der Arbeitslosigkeit führen zu einer Prekarisierung der Lebensverhältnisse in beiden Ländern. Argumente wie die Inflation, der youth bulge, die Jugendarbeitslosigkeit und der Bevölkerungswachstum weisen auf mögliche Ursachen für die Proteste hin, können aber den Ausbruch der Revolution nicht erklären. Die Korruption ist in Algerien sogar wesentlich stärker ausgeprägt. Einzig der Bildungsgrad der männlichen Bevölkerung scheint einen wesentlichen Unterschied zu machen: er ist in Tunesien wesentlich höher und fällt mit der andauernden hohen Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit zusammen, während in Algerien eine Abnahme der Arbeitslosigkeit und ein wesentlich geringerer Durchschnitt an Bildungsjahren zu verzeichnen ist.

Die Wurzeln der Revolution scheinen eher in den Unterschieden der politischen Struktur liegen: Die geringe Ausprägung der Zivilgesellschaft, der breitere Kreis an Profiteuren des Systems und die Unterstützung durch internationale Akteure schwächt die Opposition in Algerien und stärkt die Stabilität des politischen Systems.

Zudem spielt die persönliche Empfindung der Staatsbürger_innen eine Rolle: Die Traumatisierung durch die beiden Kriege und die Angst vor einem politischen Chaos sind hemmende Faktoren für eine Mobilisierung der Menschen und es fehlt der Glaube an Akteure, die einen Wandel anführen können. Auch die Forderungen der Algerier_innen sind bescheidener, wodurch die Regierung mit einer Erhöhung finanzieller Zuwendungen eine Ausweitung der Proteste unterbinden konnte. Es war nicht zuletzt diese Entscheidung der Machthabenden in Algier, die zur Differenz der Entwicklungen beigetragen hat: Die schnellere und deutlichere Reaktion der algerischen Regierung, die geringere Repression bei den Protesten und die Manipulation der für die Bevölkerung zugänglichen Information verhinderten die Zuspitzung der Situation.

Die Gründe für den Ausbruch der Revolution in Tunesien sind mit der Prekarisierung der Lebensverhältnisse und der Perspektivlosigkeit einer jugendlichen Masse also nicht erschöpft. Der algerischen Bevölkerung fehlt es vor allem an Organisation, Hoffnung und Perspektiven für einen politischen Wandel, nicht an Gründen für Protest. Genau wie im Nachbarland ist der Wunsch nach einem Wandel in Algerien groß, doch der Wunsch nach Stabilität und einem Dach über dem Kopf ist zurzeit noch größer. Noch.

Alexander Repenning


[1] Daoud, Kamel, Ein Gemüsekarren und ein Haufen Asche. Warum in Algerien die Revolution ausgeblieben ist. In: Arabische Welt. Ölscheichs, Blogger, Muslimbrüder. Edition Le Monde Diplomatique Nr. 11. Berlin 2011, S. 33.