Das Schicksal der Anderen

Das Schicksal der Anderen

Die Proteste in der Türkei zeigen die Schwächen eines demokratischen Systems, das auf das Diktat der Mehrheit setzt und seine Minderheiten außer Acht lässt.

Die meisten Reaktionen auf die Proteste in der Türkei versäumen es, einen zentralen Punkt zu erwähnen: In Mehrheitsdemokratien werden Entscheidungen herbeigeführt, indem mehr als fünfzig Prozent der Wähler für eine Idee gewonnen werden. In Konsensdemokratien ist das Ziel, so viele Menschen wie möglich von einer möglichen Entscheidung zu überzeugen, bevor sie getroffen wird. Die Türkei fällt klar in die erste Kategorie. Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern regiert in Ankara keine Koalition, sondern eine einzelne Partei, die mit enormer Macht ausgestattet ist. Kleine und regionale Parteien schaffen es aufgrund einer Zehn-Prozent-Hürde oftmals nicht ins Parlament.

Bis vor Kurzem galt die Türkei als Musterbeispiel für eine funktionierende Mehrheitsdemokratie. Erdogans Regierung hat es geschafft, die Wirtschaft anzukurbeln und für politische Stabilität zu sorgen, vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern der Türkei. Das Pro-Kopf-BIP hat sich unter der Ägide von Erdogans AKP verdreifacht. Heute zählt die Türkei zu den fünfzehn größten Volkswirtschaften weltweit. Der Einfluss des Militärs ist geringer und das politische System weniger volatil als in den 1990er-Jahren.

Die Jungen wollen nicht auf die nächste Wahl warten

Der große Nachteil: Mehrheitsdemokratien lassen wichtige soziale und politische Minderheiten außer Acht. Sobald der Regierungschef zur Absicherung seiner Macht auf eine ausreichend große Mehrheit vertrauen kann, verliert Konsensbildung an Priorität. Das Fehlen von Parteienkoalitionen und von politischen Mitbestimmungsrechten kann dann schnell zu einem Regierungsstil führen, der autoritär anmutet. Die Gefahr ist, dass die Anliegen von Minderheiten nach und nach an Bedeutung verlieren und dadurch Polarisierung und Konfliktpotenzial weiter steigen.

Ein Premierminister wie Erdogan kann sich bei Wahlen darauf beschränken, nur die eigenen Anhänger zu mobilisieren und gar nicht erst zu versuchen, mit Unentschlossenen oder Andersdenkenden in den Dialog zu treten. Doch die Bürger – und vor allem die junge Generation – in der Türkei wollen nicht erst auf die nächsten Wahlen warten, um Erdogan für seine Politik abzustrafen. Der Unmut der Menschen in der Türkei lässt sich daher nicht auf Erdogan reduzieren. Der Protest entzündet sich an den politischen Institutionen, nicht an der Person.

Manche Kritiker argumentieren jetzt, dass Erdogan zurücktreten muss, bevor notwendige Reformen durchgeführt werden können. Doch das Problem mit solchen Argumenten ist, dass sie sich lediglich auf einzelne Kontexte beschränken und außer Acht lassen, worum es eigentlich geht: um das türkische Demokratiedefizit.

Werden Flugbegleiterinnen, die keinen roten Lippenstift mehr auftragen dürfen, weniger diskriminiert als Frauen, denen eine Ausbildung oder ein Arbeitsplatz verwehrt bleibt, weil sie ein Kopftuch tragen? Ist es eine größere Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, wenn man für angebliche Diebstähle verhaftet wird, oder wenn man unter Androhung von Strafen daran gehindert wird, seine kurdische Muttersprache zu benutzen? Der Erfolg der Proteste wird auch davon abhängen, ob sie es schaffen, diese unterschiedlichen Missstände unter einem Banner zu vereinen und institutionelle Reformen zu fordern, die allen Teilen der Bevölkerung zu Gute kommen.

Mehr politische Teilhabe

Die Regierung könnte den Demonstranten den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie einer Öffnung der demokratischen Prozesse zustimmt. Erdogans Forderung nach einer Direktwahl des Präsidenten klingt zwar sehr basisdemokratisch, dürfte aber in der Realität zu einer weiteren Machtkonzentration an der Spitze führen, wenn die Interessen der Minderheit dabei unter den Tisch fallen. Die Herausforderung in der Türkei ist es, eine weitere Polarisierung zu verhindern und politische Teilhabe breiter zu fächern. Ein Schritt könnte schon sein, die Zehn-Prozent-Hürde aufzuheben. Regionale Parteien würden dadurch gestärkt und die unterschiedlichen Volksgruppen in der Türkei wären endlich proportional im Parlament vertreten. Der zweite Schritt wäre dann, ein Konsensdenken in der Demokratie zu etablieren.

Die Türkei hat in den 90er-Jahren einige schlechte Erfahrungen mit Koalitionsregierungen gemacht, doch das sollte Erdogan nicht abschrecken. Das Land hat heute mehr Erfahrung mit Demokratie, das Militär ist weniger einflussreich und die gebildete Mittelschicht ist deutlich größer als noch vor zwanzig Jahren. Wenn man die Türken heute vor die Wahl stellen würde, ob sie etwas weniger Führungsstärke und etwas mehr Konsensdenken wollen – die meisten Menschen würden annehmen, das zeigen die Proteste. Verwunderlich ist das nicht: In fast allen europäischen Ländern haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg Koalitionsregierungen etabliert und effektiv regiert – trotz der Vielzahl an ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen in Europa. In Ländern wie Irland, Lettland und Griechenland zeigt sich, dass koalitionäres Denken sogar in der Krise funktioniert.

Durch den Wegfall der Zehn-Prozent-Hürde würden Kurden und andere Minderheiten endlich zu politischen Akteuren. Außerdem würde die derzeitige Regierungspartei AKP dazu gezwungen, sich neu zu erfinden. Für die demokratische Kultur der Türkei kann das nur von Vorteil sein.

Neophytos Loizides

Dr. Neophytos Loizides ist Dozent an der Universität Kent wo er zu Pateipolitik und Demokratieentwicklung in der Türkei forscht

Der Beitrag wurde im Rahmen unserer Kooperation mit dem Online-Debattenmagazin “The European” veröffentlicht. Zur >> [Erstveröffentlichung] und zur entsprechenden >> [Debatte] bei “The European”.