Die Zukunft der Türkei

Die Zukunft der Türkei

In Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechte begegnet die Türkei Staaten wie China mittlerweile auf Augenhöhe. Aber solche Eingriffe in die Freiheit der Bürger sind nur die offensichtlichsten Symptome einer schleichenden Machtkonzentration, die schon seit Jahren stattfindet.

Der Grund für die landesweiten Demonstrationen, die Ende Mai vom Taksim-Platz aus die ganze Türkei erfassten, ist das grundsätzlich veränderte Verhältnis eines Teils der türkischen Jugend zu ihrem Staat. Obwohl der Platz und der angrenzende Gezi Park mittlerweile wohl endgültig geräumt sind und die Proteste nur noch hin und wieder aufflammen, ist die Veränderung doch spürbar und langfristig.

Vor über zehn Jahren, als Recep T. Erdoğan mit seiner AKP die Mehrheit im Parlament errang und mit einem umfassenden Reformprogramm antrat, das Land umzukrempeln, konnte niemand ahnen, welche Entwicklung das Land nehmen würde. Nicht nur politisch und wirtschaftlich, vor allem sozial hat sich, nicht zuletzt dank der neuen Medien, viel getan. Die Sicht junger Menschen auf die Obrigkeit ist heutzutage sehr viel pragmatischer als in vergangenen Jahrzehnten.

Das Internet, der wachsende Wohlstand und damit einhergehende Blicke über den Tellerrand haben es der Jugend ermöglicht, Missstände zu erkennen und anzuprangern. Viele dieser sehr jungen Protagonisten wünschen sich ihren Staat nicht so sehr als allmächtigen Leviathan, der über Wohl und Wehe entscheidet, sondern vielmehr als Dienstleister nach westeuropäischem Vorbild.

Die Wut der „anderen 50 Prozent“

Für einen Politiker alter Schule wie Herrn Erdoğan, der das Durchregieren genauso gut von den vorhergehenden Regierungen abgeschaut haben könnte, waren Bürgerbeteiligung und Mitspracherechte von jeher eher kuriose Auswüchse denn integraler Bestandteil der Demokratie. Daher rührte auch das Vertrauen in die abschreckende Wirkung der Staatsmacht, die mit brutaler Gewalt und beinahe eintausend Festnahmen Ende Mai die Proteste im Keim ersticken sollte. Nur Hilflosigkeit erklärt, warum Erdoğan die Demonstranten fälschlicherweise als „Terroristen“ und „Plünderer“ bezeichnete, und warum Twitter zu einer „Bedrohung“ für ihn wurde.

Die Unnachgiebigkeit der Regierung hatte zur Folge, dass die Proteste sich rasch auf alle größeren Städte ausbreiteten, und auch in religiös-konservativen Hochburgen der AKP wie Konya und Kayseri Fuß fassen konnten. Auf dem Höhepunkt der Protestwelle Anfang Juni wurden Demonstrationen aus 60 Städten der Türkei vermeldet, und mittlerweile gibt es über 4.000 Verletzte und fünf Tote zu beklagen, über 100 Journalisten wurden verletzt oder festgenommen.

Dieser Bürgermarsch hatte nach wenigen Tagen längst nicht mehr zum Ziel, einen kleinen Park im Herzen Istanbuls zu retten, sondern war Ausdruck der Unzufriedenheit der „anderen 50 Prozent“, eben jener Bevölkerungshälfte, die die AKP nie gewählt hatte und die sich zunehmend in ihrer Freiheit eingeschränkt sieht. Denn trotz all ihrer Verdienste wie dem wirtschaftlichen Erfolg und der politischen Stabilität hat die Regierung der AKP auch ihre Schattenseiten.

Die angestrebte Aussöhnung mit den Nachbarländern ist zu einem Stillstand gekommen, und Erdoğans eigenwillige Politik belastet die Beziehungen mit wichtigen Partnern der Türkei. Vor allem in den letzten Jahren ist die freie Meinungsäußerung immer weiter erschwert worden, und regierungskritische Zeitungen, Fernsehsender, Journalisten und Autoren sehen sich finanziellen und anderen Schikanen ausgesetzt. Es ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, dass in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis sitzen als in China.

Des Weiteren versucht die AKP, der Bevölkerung einen Lebensstil nach ihren Vorstellungen aufzudrücken. Unverschleierte Frauen müssen immer wieder Ausfälle verschiedener Parteimitglieder ertragen, so zum Beispiel, dass unverschleierte Frauen wie ein „Haus ohne Vorhänge“ seien, man könne sie entweder „mieten oder kaufen“. Der Genuss von Alkohol wird immer weiter eingeschränkt und erschwert. Der Premier hat auch eine genaue Vorstellung davon, wie viele Kinder eine Frau haben sollte – drei. Aber diese Einschränkungen der persönlichen Freiheit sind nur die offensichtlichsten Symptome einer schleichenden Machtkonzentration, die schon seit Jahren stattfindet.

Ein Funken Hoffnung

Die große Stärke der Protestbewegung, ihre Vielseitigkeit, wird sich in Zukunft auch als größte Schwäche herausstellen. Die Demonstranten rekrutieren sich aus vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen: ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Oppositionsparteien, Feministen, Studenten, Gewerkschafter sind vertreten. Die interessanteste Frage ist, ob der Geist der Proteste bis zu den nächsten Parlamentswahlen überlebt – bislang scheint die größte Oppositionspartei CHP unfähig, die Proteste für sich zu nutzen. Die Demonstranten haben sich vom Taksim-Platz zurückgezogen und halten Bürgerforen in anderen Stadtparks ab. Ob sich daraus längerfristig eine neue Partei entwickelt, bleibt abzuwarten. Der Erfolg der Bewegung ist jetzt vor allem davon abhängig, ob sie auch auf dem Lande Anhänger finden wird, oder auf die Metropolen beschränkt bleibt.

Was wird nun die große Veränderung sein? Die AKP wird hoffentlich vorsichtiger sein mit dem Durchregieren, Erdoğan ist gewarnt. Polizeieinsätze werden in Zukunft wohl etwas milder verlaufen: Selbst viele Mitglieder der Regierungspartei empörten sich über die Gewaltanwendung der Polizei. Mit etwas Verstand wird die Regierung die Mitspracherechte der Bürger stärken. Allein das wäre schon ein deutlicher Fortschritt gegenüber heute.

Die AKP hat kürzlich mit der Eröffnung eines weiteren Kapitels in den lange blockierten EU-Beitrittsverhandlungen einen ersten Erfolg errungen. Hoffentlich nutzt die EU diese Verhandlungen, um die AKP zu zusätzlichen demokratischen Reformen zu bewegen.

David Janssen

Der Beitrag wurde im Rahmen unserer Kooperation mit dem Online-Debattenmagazin “The European” auch dort veröffentlicht. Zur >> [Zweitveröffentlichung] und zur entsprechenden >> [Debatte] bei “The European”.