Die WTO-Streitbeilegung aus rechtlicher und politischer Sicht: Wie kann die praktische Irrelevanz des Internationalen Gerichtshofs in der Weltwirtschaftsordnung erklärt werden?

Die WTO-Streitbeilegung aus rechtlicher und politischer Sicht: Wie kann die praktische Irrelevanz des Internationalen Gerichtshofs in der Weltwirtschaftsordnung erklärt werden?

Der Internationale Gerichtshof ist die universelle Instanz zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten. Dennoch hat der Internationale Gerichtshof in den 65 Jahren seines Bestehens keinen rein handelsrechtlichen Konflikt oder Fall des WTO-Rechts behandelt, während die WTO-Streitbeilegung in den letzten 15 Jahre in über 400 Fällen angerufen wurde. Aus welchen Gründen spielt der Internationale Gerichtshof keine größere Rolle in der Welthandelsordnung? Diese Frage soll mit Blick auf die historischen, institutionell-rechtlichen und politischen Faktoren für die praktische Irrelevanz des Internationalen Gerichtshofs kurz dargestellt und diskutiert werden.

1. Einleitung

Das Streitbeilegungssystem der Welthandelsorganisation (WTO) wurde bereits kurz nach Abschluss der Uruguay-Verhandlungsrunde und der Gründung der WTO im Jahr 1994 als “crown jewel”[1] der neuen Welthandelsordnung bezeichnet.

Als primäre Funktion wurde dem Streitbeilegungsorgan im System der WTO nach Art. 3 Abs. 2 Dispute Settlement Understanding (DSU) die „Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem” zugesprochen. Diese unspektakuläre Formulierung der Zielsetzung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die WTO-Streitbeilegung sowohl ein Garant für die effektive Beilegung handelsrechtlicher Konflikte und damit für das Funktionieren der WTO ist, als auch einen Schutzmechanismus davor darstellt, „dass sich Streitfälle zu ‚Flächenbränden’ ausweiten“.[2]

Die Ursprünge der Streitbeilegung im Welthandelsrecht gehen dabei auf die Initiative der US-Regierung zurück, mit der Havana Charter for an International Trade Organization (ITO) im Jahr 1948 den Grundstein für eine zukünftige Welthandelsordnung zu schaffen. Paradoxerweise lag es am Widerstand der US-Legislative, dass dieses ambitionierte Vorhaben zur Liberalisierung des Welthandels scheiterte. So blieb letztlich von der ITO als eine der Säulen der Weltwirtschaftsordnung nur der bereits vorab ratifizierte GATT-Vertrag als politisch realisierbares Provisorium zurück, in dessen Rahmen sich über die Jahre eine formalisierte Streitbeilegung entwickelte. Allerdings blieb das Streitbeilegungsverfahren im GATT ein hochgradig von Interessen und wirtschaftlichem Kalkül bestimmtes Prozedere. Mit Blick auf die Defizite des GATT-Streitbeilegungsverfahrens wurde im Rahmen der Verhandlungen über die Gründung der WTO in Uruguay Anfang der 90iger Jahre die Intention laut, die Streitbeilegung umfassend zu reformieren. Dabei erschien es vielen, die in Uruguay an der Aushandlung der normativen Grundlage der WTO beteiligt waren, wie ein Wunder, dass die Staaten zur Schaffung eines so umfassenden und verbindlichen Streitbeilegungssystems bereit waren. Schon bei seiner Gründung wurde die WTO-Streitbeilegung mit (Vorab-) Lorbeeren überschüttet und bereits nach fünf Jahren der praktischen Erfahrung sah der damalige WTO-Generalsekretär Moore das System als Rückgrat der Welthandelsordnung.

Gleichzeitig steht diese spezifische Form der Streitbeilegung für den internationalen Handel in scharfem Kontrast zum einzigen internationalen Gerichtshof mit universellem Charakter. Der Internationale Gerichtshof (IGH) nahm bereits drei Jahre vor den Verhandlungen über eine internationale Welthandelsordnung als Nachfolgeorganisation des Ständigen Internationalen Gerichtshof seine Arbeit auf und ist das Rechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen (VN). In den internationalen Beziehungen wurde der IGH als Instanz mit universeller und allgemeiner Zuständigkeit gegründet. Dennoch hat der IGH in den 65 Jahren seines Bestehens keinen rein handelsrechtlichen Fall bzw. keinen Fall des WTO-Rechts behandelt. Dem hingegen hat die WTO-Streitbeilegung allein in den ersten fünf Jahren nach der Gründung der WTO bereits um die 200 Streitfälle bearbeitet.

Dieser Kontrast zwischen der WTO-Streitbeilegung als neues de-facto ‚Welthandelsgericht’ und dem IGH als eigentlich universelle Instanz wirft die Frage auf, aus welchen Gründen bei Handelsfragen nicht auf den IGH mit seiner allgemeinen und umfassenden Gerichtsbarkeit zurückgegriffen wird.

 2. Im Vergleich: Die WTO-Streitbeilegung und der Internationale Gerichtshof

Während der IGH als gerichtliches Verfahren mit für die Streitparteien rechtlich bindenden Ergebnisse charakterisiert werden kann, ist die WTO-Streitbeilegung aus völkerrechtlicher Sicht einer spezifischeren Form der institutionalisierten Streitbeilegung zuzurechnen, die sich im Rahmen von internationalen Organisationen entwickelt hat.

Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten der VN sollen prinzipiell dem IGH vorgelegt werden, wobei den Streitparteien nach Art. 95 VN-Charta weiterhin auch die Streitbeilegung vor anderen Gerichten möglich ist. Der IGH steht grundsätzlich allen Staaten offen, selbst wenn sie nicht Mitglied der Vereinten Nationen sind. Die Zugangsklausel in Art. 93 Abs. 1, 2 UN-Charta normiert eine universelle Gerichtsbarkeit des IGH, der somit ein nicht allein auf seine Mitgliedstaaten beschränktes Gericht darstellt.

Im Gegensatz dazu wird der Zugang zur WTO-Streitbeilegung ausschließlich WTO-Mitgliedern gewährt. Im Rahmen des WTO-Streitbeilegungsverfahrens besitzt der Staat, welcher Klage einreicht, prinzipiell das Recht auf die Einsetzung eines Panels. Ein Recht auf ein Gerichtsverfahren oder eine automatische Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des IGH besteht dahingegen nicht. Nur wenn die beiden Streitparteien einwilligen, fällt der Streitfall in die Zuständigkeit des IGH.

Im Verhältnis des IGH zur WTO-Streitbeilegung ist aber ein anderer Punkt von entscheidender Bedeutung. So ist der IGH nach Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut als Instanz in der völkerrechtlichen Ordnung ermächtigt, allgemein verbindlich internationales Recht unter Einbeziehung aller Rechtsquellen des Völkerrechts anzuwenden. Die Gerichtsbarkeit des IGH ist dadurch nicht auf bestimmte völkerrechtliche Verträge oder einzelne Regelungsbereiche im Völkerrecht beschränkt. Deshalb fallen also auch das internationale Handelsrecht und das Vertragssystem der WTO in den Anwendungsbereich des IGH.

Trotz der prinzipiellen Möglichkeit, den IGH in Wirtschaftsfragen anzurufen und mit der Beurteilung von Streitigkeiten unter WTO-Recht zu betrauen, ist dies in der Praxis noch nie vorgekommen. Die Gründe dafür sind v.a. bei den Mitgliedstaaten und ihren politischen Intentionen zu suchen. Äußerst aufschlussreich ist dabei bereits die politische Einigung während der Verhandlungen über die ITO in den späten 40iger Jahren,  Streitfälle des internationalen Wirtschaftsrechts nicht vor dem IGH zu klären. Die Staaten sahen in der weiten sachlichen Zuständigkeit des IGH immanent die Gefahr, dass der IGH zur Behandlung der besonderen Materie des Wirtschaftsrechts nicht über die nötige Kompetenz verfügt. Noch immer kann dies als einer der Gründe für die Nichtanrufung des IGH gesehen werden. Darüber hinaus könnte eine kompromisslose juristische Herangehensweise des IGH auch den spezifischen Dynamiken des Wirtschaftsrechts nicht gerecht werden und politische von beiden Seiten gewollte Kompromisse unmöglich machen.

Aufgrund der allgemeinen Zuständigkeit des IGH für alle Fragen des internationalen Rechts ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der IGH de facto nicht über die nötige Fachkenntnis für die Bearbeitung komplexer wirtschaftsrechtlicher, oftmals auch spezifisch technischer Fragen des WTO-Rechts verfügt. Darüber hinaus kennt der IGH anders als die WTO-Streitbeilegung keine festgelegten Fristen, was die anhängigen Verfahren unbestimmt verzögern könnte. Da im Handelsrecht, gerade bei verderblicher Ware, oftmals schnelle Entscheidungen erforderlich sind, wären Verzögerungen des Verfahrens für die Parteien mit Unsicherheiten und hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden.

Doch neben diesen eher praktischen Gründen gibt es vielmehr auch eine grundlegend politische Motivation, bei Handelskonflikten den IGH nicht anzurufen. Im Vergleich zur WTO-Streitbeilegung, bei der die Streitparteien zumindest bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf das Verfahren haben, würde nach einstimmiger Zustimmung der Streitparteien das Verfahren komplett der Gerichtsbarkeit des IGH unterstehen und gegen das Urteil auch keine Einlegung von Rechtsmitteln mehr möglich sein. Die Bereitschaft der Staaten, ihre letzten Einflussmöglichkeiten auf Verfahrensabläufe zu verlieren  oder dem IGH auch nur im Einzelfall Rechtssprechungskompetenz über Wirtschaftsfragen zuzusprechen, kann als unrealistisch betrachtet werden.

Um zu erklären, warum der IGH noch nie aufgerufen wurde, ist ein weiterer Grund von erheblicher Bedeutung. Da sich nicht einmal ein Drittel der WTO-Mitglieder generell dem IGH unterworfen haben und viele davon außerdem noch Vorbehalte erklärt haben, in bestimmten Fällen speziellere Streitbelegungsverfahren bzw. bei Wirtschaftsfragen die WTO-Streitbeilegung zu nutzen, ist zwar die generelle Zuständigkeit des IGH nicht auszuschließen, aber die Wahrscheinlichkeit nicht gerade groß. Daher ist die Zustimmungserfordernis zur Zuständigkeit des IGH eine weitere erhebliche Hemmschwelle, wirtschaftsrechtliche Streitfälle vor dem IGH auszutragen.

3. Fazit und Ausblick

Die Nichtaufrufung des IGH bei Konflikten in den internationalen Handelsbeziehungen und seine praktische Irrelevanz in Fragen des Weltwirtschaftsrechts liegen also primär im staatlichen Interessenskalkül der WTO-Mitglieder begründet. So etablierte sich die WTO-Streitbeilegung, u.a. aufgrund wirtschaftsrechtlicher Expertise aber auch des politischen Unwillens zur kompletten Kompetenzabgabe in Wirtschaftsfragen, zu einer Instanz von unbestrittener Wichtigkeit in der Welthandelsordnung. Der IGH findet in Fragen der Weltwirtschaftsordnung kaum Beachtung und wird damit in seiner Bedeutung marginalisiert.

Doch trotz der Umgehung des IGH als universelle Gerichtsinstanz kann der WTO-Streitbeilegung nicht abgesprochen werden, dass sie eine starke Verrechtlichung der Welthandelsbeziehungen erwirkt hat und zu Recht als das neue ‚Welthandelsgericht’ bezeichnet wird. Den anfänglichen, hoch gesteckten Erwartungen und der Stilisierung zum “crown jewel” [3] der Welthandelsordnung wird die WTO-Streitschlichtung damit gerecht. Tatsächlich hat die WTO-Streitbeilegung zu einer rule of law geführt, die zwar sicherlich nicht im Gesamtbereich der internationalen Beziehungen, aber zumindest im Rahmen des WTO-Systems entstanden ist.

Jedoch darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass die WTO-Streitbeilegung, gerade mit Blick auf den ‚Clubcharakter’ des WTO-Systems und die Nichteinbeziehung des IGH bei handelsrechtlichen Konflikten, deutliche Defizite aufweist. Auch wenn die Revision der Streitbeilegung in der aktuellen Doha-Runde schleppend verläuft bzw. zeitweise ausgesetzt wird, müssen zukünftige Reformbemühungen neben dem Fokus auf die Lösung von Handelskonflikten gerade die Durchsetzung des Völkerrechts allgemein zu forcieren. Nur so kann einer Entkopplung der WTO-Ordnung vom allgemeinen Völkerrecht entgegengewirkt werden und mittelfristig eine Annäherung der WTO-Streitbeilegung und des IGH ermöglicht werden, um eine effektive, aber eben auch universelle Konfliktlösung in der globalen Weltwirtschaft zu erreichen.

von Moritz Junginger

Moritz Junginger studiert Internationale Beziehungen in Dresden

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[1] Hauser und Zimmermann, 2003 , S. 241

[2] Senti, 2007, S. 130

[3] Hauser und Zimmermann, 2003 , S. 241

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