Nordkorea – der unsichere Kantonist im Mächtekonzert? Eine Erklärung zwischen Neorealismus und Konstruktivismus
Nordkorea droht der internationalen Gemeinschaft mit martialischer Kriegsrhetorik, zugleich sucht das Regime den Dialog mit Südkorea und den USA. Wie lässt sich das Paradoxon aus Aggression und Diplomatie verstehen?
1. Zwischen Kriegsrhetorik und Verhandlungsbereitschaft
Nordkoreas neuer Machthaber Kim Jong Un gestand in seiner Neujahrsansprache 2013 Defizite in der Versorgungslage der Bevölkerung ein und versprach die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Zugleich wurde aber ein erneuter Atomtest durchgeführt, auf den die internationale Gemeinschaft mit einer Verschärfung der Sanktionen gegenüber dem isolierten Land reagierte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nordkoreanische Aussenpolitik irrational: Statt Wirtschaftsreformen mit Friedensangeboten zu kombinieren droht Pjöngjang der internationalen Staatengemeinschaft mit martialischer Kriegsrhetorik. Jedoch kann ein Blick auf die nordkoreanischen Politikdeterminanten helfen, das Regime als Verhandlungspartner „kalkulierbar“ einzuordnen.
2. Die Kims im Sicherheitsdilemma?
Auf den ersten Blick bietet das strukturell neorealistische Verhaltensmuster eine plausible Skizze an, um Pjöngjangs politische Ratio zu entschlüsseln:
Der Neorealismus geht von einer strukturellen Anarchie des internationalen Staatensystems aus, durch das sich die politischen Akteure in einem Sicherheitsdilemma wiederfinden. Die Wahrung der nationalen Sicherheit ist das Hauptziel eines jeden Staates, für dessen Garantie er durch sein militärisches Potenzial selbst einstehen muss. Kooperation mit anderen Staaten erhöht demzufolge das Sicherheitsrisiko, da sich die politischen Akteure der Handlungszusagen der anderen Seite nicht sicher sein können. Infolgedessen tritt Aufrüstung mit dem Ziel der Abschreckung an die Stelle internationaler Kooperation. Aus der Übersetzung des Handlungsmusters auf Nordkorea konstituiert sich ein spezifisches Sicherheitsdilemma: Wirtschaftliche Reformen und Öffnung lösen zwar Versorgungsprobleme, jedoch ist dann die Systemstabilität gefährdet. Umgekehrt bedeutet eine Aufrechterhaltung des Status Quo eine zunehmende Verschärfung der humanitären Situation. Vor diesem Hintergrund entscheidet sich Pjöngjang für die Isolation, so scheint es: Im Lichte der, so die nordkoreanische Wahrnehmung, ständigen Bedrohung seitens der USA rüstet Kim Jong Un auf, um seine nationale Sicherheit zu gewährleisten.
Auf der anderen Seite fühlen sich demzufolge Südkorea und Japan in einer defensiven Position und stärken ihr militärisches Potenzial. Ein klassisches Selbsthilfesystem im Sinne Waltz‘ (1979: 96) wäre hier der entscheidende Erklärungsfaktor.
3. Nordkoreas Schwäche als Stärke?
Jedoch greift das strukturelle Analysemuster des Neorealismus mit der Überdeterminierung des Anarchiefaktors hier zu kurz: Wendt antwortet Waltz mit „Anarchy Is What States Make of It“ (1992). Er geht davon aus, dass die Anarchie des internationalen Staatensystems durch die Interaktion und die daraus resultierende unterschiedliche gegenseitige Wahrnehmung der politischen Akteure geprägt ist. Die Verhaltensmuster der Akteure beruhen auf konstitutiven Regeln innerhalb derer praktisch-regulativ „gespielt“ wird (Ruggie 1998: 871). Konstitutive Regeln bestimmen das Set von möglichen Handlungen, die als soziale Wirklichkeit existieren. Regulative Regeln bringen dann im geschaffenen Rahmen Akteure zum Handeln. Im Falle Pjöngjangs ist die Grundlage für das politische Handeln jedoch nicht durch ein neorealistisches Weltbild von Anarchie allein bestimmt:
Die martialische Kriegsrhetorik aus Pjönjang ist von einer Politik der asymmetrischen Diplomatie begleitet, die nicht in die Waltzschen Abschreckungsmuster passt: Durch die ökonomische Schwäche setzen die Kims ihren grossen Bruder China unter Druck, der aus Angst vor einem Kollaps Nordkoreas und der daraus resultierenden Flüchtlingsströme und der Ausdehnung des US-Einflusses bis an die chinesische Grenze das stalinistische Land mit Wirtschaftshilfen am Leben erhält. Durch eine doppelte Bündnisabhängigkeit maximiert Pjöngjang hier seinen materiellen Nutzen, der seine militärischen Drohressourcen bei weitem übersteigt. Auch Seouls vermeintliches Interesse an einem Zusammenbruch der Kim Dynastie ist fraglich: Um eine Konvergenz der beiden Volkswirtschaften zu erreichen, wären Summen notwendig, die Südkorea an die Grenze seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit führen würde. So nimmt die Regierung in Seoul das Kim Regime nicht als Bedrohungs- sondern als Stabilisierungsfaktor wahr, den es durch partielle Wirtschaftshilfen in Form von Primärgütern und der Errichtung von Sonderwirtschaftszonen zu erhalten gilt. Die USA schliesslich möchten einen Konflikt auf der Koreanischen Halbinsel vermeiden, aber weigern sich, Pjöngjang durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen als gleichberechtigten Verhandlungspartner anzuerkennen. Vor dem Hintergrund dieser Interessenkonstellation, die auf den Erhalt des Status Quo gerichtet ist, ergibt sich ein relativ grosser Handlungsspielraum für Kim Jong Un, der durch die Drohung mit dem Systemzusammenbruch Unterstützung von den Nachbarn für den Erhalt seines totalitären System erhalten kann, ohne jedoch selbst Konzessionen machen zu müssen, die über den Status Quo hinausgehen. Dieser Spielraum erklärt die Signale aus Pjöngjang, die auf Verhandlungen abzielen. So wird die scheinbare Anarchie des Staatensystems, die durch einen wettrüstenden Machthaber auf den ersten Blick empirisch bestätigt scheint, ein kalkuliertes Machtspiel als Resultat konstruierter Interessen. Die asymmetrische Stärke der Kims widerspricht der strukturell neorealistischen Verhaltensprognose, die sich auf den ersten Blick aus der Kommunikation Pjönjangs ableiten lässt. Jedoch ist auch der Status Quo Erhalt nicht allein konstitutiv für das politische Handeln der Kims.
4. Arendts‘ irrationale Rationalität
Wie die obige Einordnung zeigt, ist Pjöngjang nicht von seinen Nachtbarn direkt bedroht, da die politischen Akteure den Status Quo als erstrebenswert ansehen. Zugleich kann aber eine Zunahme von Drohungen aus Pjöngjang beobachtet werden, die auf den ersten Blick in defensiv-positionalistischer Manier in „wenn-dann“ Sätze gekleidet sind: Wenn die USA und Südkorea das Kim Regime weiterhin provozierten, so die Aussage, dann werde man zurückschlagen. Diese Rhetorik erscheint irrational. So sind weder die asymmetrische Diplomatie noch die Abschreckung konstitutive Faktoren der sozialen Wirklichkeit. Doch was treibt dann die Kims an?
Nordkoreas politische Logik ist aufgrund ihres totalitären Charakters schwer nachzuvollziehen: Der Kern totalitärer Systeme kann im Arendtschen Sinne durch eine irrationale Rationalität verstanden werden, die im Sinne eines deduktiv fixen Gedankengebäudes, das die Realität an die Idee anpasst. Der Gedanke tritt an die Stelle der intersubjektiven Übereinkunft über die Realität (Arendt 1987: 49-56). Somit wird das Gedankengebäude der Kims für ihre politische Ratio konstitutiv und leitet hieraus regulative Übersetzungen ab: Im nordkoreanischen Gewand erscheint das totalitäre Muster als Juche-Ideologie einem Narrativ von nationaler Autarkie bedingt durch einen absoluten Führerkult, der den Volkskörper mit den Kims hierarchisch verschmilzt und hieraus willkürliche Begründungen jeglicher politischer Richtung ableitet. Die Geschichte(n) um die Kims werden durch Bezüge zum hierarchischen Charakter des Konfuzianismus und den Koreakrieg sowie auf die Japanische Kolonialherrschaft gestützt. Die immer wieder neu belebten Bedrohungsszenarien wirken vor dem skizzierten aussenpolitischen Hintergrund als irrational, werden jedoch mangels anderer Informationen und zwischenmenschlichem Austausch von der nordkoreanischen Gesellschaft wahrscheinlich als wahr geteilt.[1] So wird Anarchie im wörtlichen Sinn durch den nordkoreanischen Staat konstruiert.
5. Ein Katonist im Da Capo Format?
So erscheint das politische Kalkül Pjönjangs als eine Anarchie im Da Capo Format: In der nordkoreanischen Variation von Anarchie wird die Konstruktion von Bedrohungswahrnehmungen zwischen den beteiligten Akteuren durch ein abgeriegeltes Denkgebäude ersetzt. Diese Denk-Welt entzieht sich zwischenmenschlicher Verständigung. Infolgedessen erscheint das Paradoxon von Aggression und Verhandlung als Puzzle, da es nicht in die rationale Politikgrammatik von zwischenmenschlicher Verständigung passt: Jedoch kann die aggressive Rhetorik Pjöngjangs, die auf den ersten Blick ins vermeintlich neorealistische Bild zu passen schien, als berechenbare Verhandlungsressource zwecks Suggestion von Irrationalität verstanden werden. Hierzu ist es hilfreich, die totalitäre Eigenlogik Nordkoreas zu entschlüsseln, die sich aus der konstitutiv wirkenden Juche-Ideologie ableitet:
In der fiktiven Welt der Kims, die ein prosperierendes und den USA ebenbürtiges Nordkorea konstruiert, muss eine Politik der rhetorischen Stärke folgen. Dies hat zwei Vorteile: Nach aussen erscheint Pjöngjang als unsicherer Kantonist und kann so unter der oben geschilderten politischen Lage Verhandlungsgewinne erzielen (so z.B. humanitäre Hilfe unter der Ägide der Kims). Zugleich wird nach innen ein Bild der Stärke gezeigt, das sich in das Juche-Gedankengebäude einfügt und die Machtübergabe in die nächste Kim Generation erleichtert. So kann das spezifisch nordkoreanische Sicherheitsdilemma zwischen Systemöffnung und Systemstabilität zu Gunsten der Systemstabilität aufgelöst werden. Erst die Wahrnehmung Nordkoreas als irrational maximiert den politischen Nutzen für Kim Jong Un. Dabei kann ein Nachvollziehen der totalitären Gedankenstruktur Pjöngjangs helfen, den Verhandlungspartner berechenbarer zu machen und die Auflösung des Sicherheitsdilemmas zu Gunsten der Systemstabilität zu erschweren. Eine Friedenspolitik, die die Kims als ebenbürtige Partner akzeptiert, könnte zu einer vorsichtigen Öffnung führen, da der Begründungszusammenhang des totalitären Juche-Konstrukts ad absurdum geführt werden würde: Das nationale Prestige der Aufwertung Nordkoreas würde auch in den öffentlichen Raum der Gesellschaft getragen und somit die Bedrohung von aussen, die einen Grundpfeiler der Systemlegitimation darstellt, obsolet werden. Solange jedoch die beteiligten Akteure die Perzeption Nordkoreas als stark und bedrohlich reproduzieren, verfestigt sich die vorhandene politische Lage, die sich entgegen der skizzierten politischen Realität einer totalitären Idee anpasst.
von Jeffrey Zampieri
Der Autor studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Bibliographie
Arendt, Hannah (1987): Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München.
Ruggie, John G. (1998): What Makes the World Hang Together? Neo-Utilitarism and the Social Constructivist Challenge, in: International Organization 52:4, S. 855-885.
Stingeder, Karl (2009): Die Causa Nordkorea- Wie berechenbar ist das totalitäre und isolationistische Regime wirklich? in: Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe: Politikwissenschaften 20/2009, S. 12-59.
Waltz, Kenneth N.(1979): Theory of International Politics, London.
Wendt, Alexander(1992): Anarchy Is What States Make of It, in: International Organization 46:2, S.391-425.
[1] Der Zugang zu sozialwissenschaftlichen Daten über Nordkorea kann nur auf Basis von Sekundäranalysen erfolgen (Stingeder 2009).