Rezension von Jürgen Todenhöfer (2019): Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten.

Rezension von Jürgen Todenhöfer (2019): Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten.

„Ich will mit diesem Buch die Geschichtsschreibung verändern!“ So der selbstformulierte Anspruch des Autors. Der Publizist und ehemalige CDU-Politiker Jürgen Todenhöfer hatte bereits mit seinem Buch Inside IS (2015) für Furore gesorgt. Nun legt er ein weiteres Buch vor, das sich mit den verheerenden Folgen der westlichen Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten beschäftigt.

Die Kernthese des Buches lautet: „Egal, ob Amerikaner oder Europäer, stets ging es ihnen um Macht, Märkte und Geld. Um ihren Wohlstand, ihre sozialen Errungenschaften, ihre Freiheit. Nie um die Freiheit der anderen.“ (S. 32) Demgemäß folge die US-Außenpolitik der Sichtweisen von Machiavelli und Clausewitz, denn US-amerikanische Interessen und nicht Werte seien oberstes Gebot der USA gegenüber vermeintlichen Werten. Es sind die Theoretiker, von denen man eben in den USA ein paar Bruchstücke kennt, es fehlt Hobbes. Dazu bringt er als Beispiele Guantánamo, Abu Ghraib und Bagram und die Interventionen in Afghanistan und im Irak. Es ginge dabei nie um Werte, sondern immer nur um Interessen. Todenhöfer schreibt vom „Heuchelei-Gebot“, „das seit Jahrhunderten Grundkonsens der westlichen Zivilisation ist: Stets an die eigenen Interessen denken, nie davon reden!“ (S. 31f.)

Sicher, was Todenhöfer schreibt ist nicht falsch. Es zeigt sich jedoch hier, wie im gesamten Buch, ein Problem: „Heute weiß die ganze Welt, dass sich kein führender westlicher Politiker im Ernstfall an die Werte seiner Zivilisation hält. Nur der Westen weiß nicht, dass die ganze Welt das weiß.“ (S. 34) Woher will Todenhöfer wissen, was die ganze Welt weiß?

Diese Form der Verallgemeinerung und der vermeintliche Besitz der absoluten Wahrheit, machen das Buch schwer verdaubar. Des Weiteren definiert Todenhöfer nicht, was er unter dem Begriff des „Westens“ versteht, aber das ist auch nicht sein Stil. Hierbei hätte er sich am Historiker Heinrich August Winkler ein Beispiel nehmen können, der das „normative Projekt des Westens“ ausführlich und reflektiert beschreibt und die beiden Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt sowie von ständischer und fürstlicher Gewalt, als Wesensmerkmal des transatlantischen Westens hervorhebt.

Die Kapitel- und Unterkapitelüberschriften, wie „Das Weltunterwerfungsprojekt“; „Kultur-Apartheid“; „Die USA als Kreuzfahrerstaat“ geben dem Buch seinen apokalyptischen Unterton, den man in all seinen Büchern findet. Todenhöfer: „Die Lehre vom gerechten Krieg der Alliierten ist eine Lüge.“ (S. 56) Dementsprechend gebe es keine sauberen und fairen Kriege. Todenhöfer schreibt: „Wenn die Menschen des Westens die volle Wahrheit über die Kriege ihrer Regierungen erfahren würden, wären Kriege nicht mehr möglich. Genau deshalb sagt ihnen kein Politiker die Wahrheit. Genau deshalb schreibe ich meine Bücher.“ (S. 73)

Die Verabsolutierung der eigenen Position, die moralische Selbstüberhöhung des Autors, die vermeintliche illusorische Vorstellung im vollständigen Besitz der Wahrheit zu sein und die fachwissenschaftliche Unkenntnis des Autors ziehen sich durch das ganze Buch.

Interessant und auch gut lesbar sind hingegen die Reportagen zu Mossul, Aleppo, Jemen, Syrien und Gaza. Sie zeigen das Leid der Menschen nach den Bombardierungen. Im Zusammenhang mit dem Terrorismus formuliert Todenhöfer einen wichtigen Satz: „Religionen töten nicht, Menschen töten.“ (S. 112) Die Verschränkung der verschiedenen Kriegstypen (Bürger-, Staaten-, Söldnerkrieg) ähnelt dem des Dreißigjährigen Krieges, weshalb Todenhöfer einen Westfälischen Frieden für den Nahen und Mittleren Osten befürwortet und eine auf Dauer angelegte Friedens- und Sicherheitskonferenz, eine Middle-East-KSZE, vorschlägt.

Das Buch zeigt die Fehler der westlichen Außenpolitik schonungslos auf und legt den Finger in die Wunden. Der Autor provoziert mit seinen Thesen; ob er damit auch die Debatte anregt, bleibt fraglich. Denn man muss bei der Lektüre aufpassen, nicht an der moralinsauren Hybris des Autors zu ersticken.

Diese Rezension ist zuerst im WeltTrends Journal, Ausgabe Nr. 152 (Juni 2019), erschienen.