Die USA im Kalten Bürgerkrieg – Die verwundbare Weltmacht vor den Wahlen

Die USA im Kalten Bürgerkrieg – Die verwundbare Weltmacht vor den Wahlen

„Wir leben in einem failed state“, schrieb der Journalist George Packer in einem fulminanten Essay für die US-Zeitschrift The Atlantic und zielt damit auf die multiplen Krisen der USA: Korruption, systemischer Rassismus, zerrüttete Öffentlichkeit, Einkommensungleichheit und die Folgen der Kriege in Afghanistan und Irak sowie der Finanzkrise 2008. Gegenwärtig trifft die Corona-Pandemie die USA besonders hart: über 220.000 Tote und über neun Millionen Infizierte, auch Präsident Trump hatte sich angesteckt. Demnach befinden sich die USA in einer tiefen Identitätskrise, die in der ersten TV-Debatte zwischen den US-Präsidentschaftsbewerbern besonders deutlich wurde. CNN titelte „An absolutely awful debate“ und das Onlinemedium BuzzFeed nannte die Debatte sogar „The Great American Shitshow”. Thomas L. Friedman, Kolumnist der New York Times, konstatierte: „Unsere Demokratie ist in schrecklicher Gefahr, in größerer Gefahr, als sie es seit dem Bürgerkrieg war, in größerer Gefahr als nach Pearl Harbor, in größerer Gefahr als während der Kuba-Krise und in größerer Gefahr als während der Watergate-Affäre.“ In einem scharfen Appell „End Our National Crisis“ forderte die New York Times neulich die Abwahl Trumps, denn seine mögliche Wiederwahl stelle „die größte Bedrohung der amerikanischen Demokratie seit dem Zweiten Weltkrieg“ dar. Die Financial Times zeitigt eine drohende Verfassungskrise und fragt: „Will America tear itself apart?“ Welche Rolle spielt Trumps Präsidentschaft dabei? Und wie ist seine Außenpolitik zu bewerten? Statt moralisch aufgeladene Urteile zu fällen, wie jüngst der Stern, der Trump als „American Psycho“ abbildete, ist eine sachliche Bilanz wünschenswert, die der Politologe Stephan Bierling vorlegt.

America First – Trump im Weißen Haus

Zunächst zeichnet Bierling Trumps Biographie prägnant nach, um Trumps Führungsprinzipien zu erfassen: Freund wie Feind in steter Angst zu halten, Stärke auszustrahlen und nie Schwäche zeigen. „Wirkliche Macht ist Furcht“, sagte Trump. Er werde „der größte Jobs-Präsident sein, den Gott je erschaffen hat“ und niemand würde härter gegen Terrororganisationen vorgehen als Trump. Zu seinem Narzissmus und seiner Gier nach öffentlichem Applaus gehören auch provokative Äußerungen, z. B. gegenüber mexikanischen Einwanderern: „Sie bringen Drogen. Sie bringen Verbrechen. Sie sind Vergewaltiger.“ Demgemäß besetzte Trump das Vakuum am rechtspopulistischen, nativistischen Rand der Republikaner, die sich zunehmend radikalisiert haben. Der „Kulturkrieg“ gegen das liberale Amerika wurde verstärkt durch die Etablierung einer abgeschotteten Medienwelt. Mit Gründung von Fox News (1996) als rechtskonservativem Leitmedium, Talk Radio und Breitbart News etablierte sich die ideologische Echokammer der Republikaner, die Trump zur Macht verhalf.

Trumps nachhaltigster innenpolitischer Erfolg sei die Besetzung der Richterstellen auf Bundesebene mit konservativen Juristen, vor allem im Supreme Court. Zudem gelang es Trump mit brachialen Methoden, die illegale Immigration zu verringern, selbst wenn der Mauerbau nur langsam voranschritt. Er scheiterte damit, Obamacare zu ersetzen. Wirtschaftlich lief es bis zur Coronakrise gut. Trumps Beitrag dazu sei gering. Von den Steuersenkungen profitierten insbesondere die obersten Einkommensschichten. Die Handelskriege belasteten Farmer und Industrie. Zudem sei die ökonomische Strategie – Abschottung, Zölle, Subventionen, Budgetdefizite – defensiv und kurzfristig ausgerichtet.

In der Außenpolitik erfasste Trump besser als seine Vorgänger „an welch epochaler Wegmarke die Welt mit dem Aufstieg Chinas und der Rückkehr klassischer Großmachtkonkurrenz“ stehe. „Doch seine Antworten waren oberflächlich und widersprüchlich“, bemerkt Bierling. Trump zog die USA aus globalen Verpflichtungen zurück (Ausstieg aus dem Iran-Abkommen, dem INF-Vertrag, Pariser Klimaabkommen), schuf Vakuen, in die Rivalen vorstießen (China und Russland), beschädigte Partnerschaften (NATO, EU, Abzug von Truppen) und trieb alte Verbündete in die Arme von Widersachern. In Syrien und Afghanistan sowie gegenüber dem Iran, Nordkorea, der Türkei und den Kurden unterminierte sein „Zickzackkurs“ die Berechenbarkeit und den Einfluss Washingtons. Bierling resümiert treffend: „Außenpolitik verkam in Trumps Regierungszeit zu einem Mix aus impulsiven Entscheidungen, Selbstglorifizierung und Reality-TV-Show, was kein einziges Problem löste und die USA insgesamt schwächte.“ (S. 226)

Ende des Westens und der NATO?

Was bedeutet das für die Zukunft des transatlantischen Westens und der einst unangefochtenen Supermacht USA? Der US-Historiker Michael Kimmage schreibt in seinem Buch „The Abandonment of the West“, dass sich der Westen selbst aufgebe und sich die USA vom Westen abwende. Warum? Sigmar Gabriel, Ex-Außenminister und Vorsitzender der Atlantik-Brücke, erklärt im WeltTrends-Gespräch*, dass sich nach 600 Jahren Europazentriertheit der Schwerpunkt aus dem Atlantik in den Pazifik verlagert. Demgemäß „erleben wir, dass die USA weniger europäisch und mehr pazifisch werden, sich „imperial überdehnt“ fühlen und als globaler Hegemon ausfallen. Es gibt eine fast schon normale Hinwendung der USA zum großen Herausforderer China.“ Deshalb, so Gabriel, „wird Amerika auch unter Joe Biden pazifischer sein und weniger europäisch.“ „Wir befinden uns in einem Kalten Krieg 2.0“, sagt Gabriel, „in dem es um die Frage gehe, wer die technologische, militärische und ökonomische Führungsmacht der Welt ist.“ In diesem Zusammenhang beschreibt der Harvard-Politologe Graham Allison die „Thukydides-Falle“, wonach das Konfliktpotenzial steigt, wenn eine aufstrebende Macht (China) die etablierte Macht (USA) herausfordert. Neben der Großmachtkonkurrenz und den verschiedenen außenpolitischen Schauplätzen (z. B. Südchinesisches Meer, Kriege im Nahen und Mittleren Osten, Konflikt im östlichen Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland, usw.) ist Gabriels größte Sorge, dass ein knappes Wahlergebnis weiter zur Spaltung beiträgt und zu einer Verfassungskrise führt. „Wenn die Supermacht USA nur mit sich selbst beschäftigt ist und Außenpolitik dann nur Reflex der Innenpolitik ist, dann ist das gefährlich für die Weltpolitik. Man darf aber nicht so tun, als seien die Entwicklungen zu einer „Welt ohne globale Führung“, einer „Zero World“ (Ian Bremmer), nur Donald Trump zuzuschreiben.“ Dennoch warnt Gabriel eindringlich: „Würde Trump wiedergewählt, dann glaube ich, dass nicht mal die NATO sicher ist.“

Die Abdankung der Führungsmacht USA, die Gabriel angesprochen hat, wird mit dem desolaten Corona-Krisenmanagement komplettiert. Trump hat gegenüber dem US-Reporter Bob Woodward eingeräumt, dass er die Coronavirus-Gefahr absichtlich heruntergespielt hat, um keine Panik auszulösen. Woodwards Buch „Rage“ zufolge soll US-Sicherheitsberater Robert O’Brien Trump bereits am 28. Januar 2020 in einem Briefing gewarnt haben, dass das Coronavirus zur „größten Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA in seiner Präsidentschaft“ werden würde. Trumps Charakter- und Führungsschwächen (erratisch, selbstzentriert, unbelehrbar) und die Dysfunktionalität im Weißen Haus (Personalrochaden) zeigt Bierling schonungslos auf. Es ist ein exzellentes Buch, das eine strukturierte Darstellung der Trump-Präsidentschaft bietet. Dabei wird zweierlei deutlich: das Psychogramm einer verwundbaren Weltmacht, die zwischen Isolationismus und Unilateralismus wechselt, und, die Einheit des Westens in seiner Strategielosigkeit.

Amerika im Kalten Bürgerkrieg

Genauso empfehlenswert ist das Buch des Politologen Torben Lütjen, der in Nashville, Tennessee gelehrt und gelebt hat. Die Kernthese lautet, dass sich die USA in einem kalten Bürgerkrieg und einem Stadium der extremen Polarisierung befinden. Trump sei das Symptom und nicht die Ursache: „Nicht Trump hat die Polarisierung geschaffen, sondern sie ihn.“ Lütjen versucht sich von der „übermäßigen Fixierung“ auf Trump zu lösen, wiewohl er bereits über 20.000 Lügen (Washington Post) verbreitet hat. Lütjens Erklärung für die Spaltung ist einleuchtend: gerade die Zuwächse an individueller Freiheit hätten dazu geführt, dass sich die Amerikaner besonders mit anderen Gleichgesinnten in ihren Echokammern eingerichtet und die „Zugbrücken zur Gegenseite hochgezogen haben“. Sie wählen, nicht ständig die Wahl haben zu müssen („paradoxe Individualisierung“). Hinzu kommt die „affektive Polarisierung“. Demgemäß hassen Parteianhänger von Demokraten und Republikaner einander nicht, weil sie anders denken, sondern weil sie anders sind.

„Wir amüsieren uns zu Tode“

Die Kombattanten in den Kulturkriegen der USA rekrutieren sich vor allem aus dem weißen, wohlhabenden und gebildeten Amerika, weil sie schlichtweg geübter seien, sich die passenden Informationen zu beschaffen. Die Exklusivität der Echokammern können sie sich leisten, wozu die Segmentierung des US-Mediensystems beiträgt (CNN/MSNBC vs. Fox News). Die Sortierung nach Lebensstilen und dessen politische Folgen sind hierbei neu. Ein Beispiel: Demokraten schauten lieber Serien wie Mad Man und Breaking Bad mit ihren gebrochenen, postmodernen und moralisch ambivalenten Heldenfiguren, Republikaner hingegen Reality-TV-Formate wie Duck Dynasty oder Castingshows, in denen es klare Gewinner und Verlierer gibt. Bereits in den 1980er-Jahren kritisierte der US-amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ die Infantilisierung der Medien durch die Unterhaltungsindustrie und das Entertainment. In Amerika habe ein „tiefgreifender Medien-Metaphernwandel“ stattgefunden, „der den Inhalt weiter Bereiche unseres öffentlichen Diskurses in gefährlichen Unsinn verkehrt hat.“ An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung trete das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge sei ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft. Man kann Trumps Präsidentschaft als Eintreten in das „postfaktische Zeitalter“ deuten, indem die USA endgültig ihren moralischen Kompass, ihre Mitte verloren haben.

Lütjen beschäftigt sich eindrucksvoll mit dem Niedergang der Republikaner, der Radikalisierung der Linken (Identitätspolitik, Sozialismus) und den Belastungen für die US-Demokratie. Gekonnt entkräftet er die Faschismus-Vergleiche, denn Trump habe kein Projekt, vertrete keine Ideologie. Trump habe nur Trump. Er vergleicht Trump u. a. mit Wilhelm II (Ruhelosigkeit, geringe Affektkontrolle, Angeberei). So könnte man Trump als nervösen Herrscher eines nervösen Zeitalters interpretieren, in dessen innere Rastlosigkeit sich die Unruhe seiner Zeit widerspiegle. Vielleicht ist Trump gar nicht das Ende, sondern vielmehr der Anfang von etwas.

* Das Interview erscheint im WeltTrends Journal, Nr. 170, Dezember 2020.

References

1. Bierling, Stephan (2020): America First. Donald Trump im Weißen Haus. Eine Bilanz. C. H. Beck, München, 271 Seiten, 16,95 Euro.

2. Lütjen, Torben (2020): Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert. wbg Theiss, Darmstadt, 224 Seiten, 20 Euro.

Eine kürzere Fassung ist in WeltTrends, Das außenpolitische Journal, Nr. 169, November 2020, „Die USA nach 4 Jahren Trump“, S. 62-64 erschienen.

Majd, geb. 1997 in Berlin, B. A. Geschichte, Politikwissenschaften und Soziologie, studiert War and Conflict Studies (M. A.) an der Universität Potsdam, ist Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Stipendiat der Deutschlandstiftung Integration und seit Januar 2020 Teilnehmer am GEH DEINEN WEG-Programm, Fulbright-Alumnus, Redakteur und Literaturverantwortlicher des außenpolitischen Journals WeltTrends, Herausgeber der Publikationsreihe „WeltTrends im Gespräch“ sowie IFAIR-Mitglied. Sein Buch: El-Safadi, Majd (Hrsg.): WeltTrends im Gespräch. Parag Khanna und Herfried Münkler über Weltpolitik. WeltTrends, Potsdam 2020.