Wohnt hier das Glück? Über das Konzept des Bruttonationalglücks

Wohnt hier das Glück? Über das Konzept des Bruttonationalglücks

In den letzten Jahren wurde die Idee, Glück als Variable in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen, zunehmend populär und hat in mehreren Ländern der Welt Eingang in die Politik gefunden. Glück und Wohlbefinden als Regierungsziele finden sich erstmals im Projekt Bruttonationalglück (BNG) im Königreich Bhutan, einem kleinen südasiatischen Staat am Fuße des Himalaya zwischen der Volksrepublik China und Indien.

Als ersten Schritt entwickelte Bhutan eine Staatsphilosophie, die den wachstumszentrierten Entwicklungsbegriff kritisiert. Das Bruttonationalglück (BNG) sollte eine Alternative aufzeigen zu erwartetem übermäßigen Konsum, zu sozialer Ungleichheit und Ressourcenerschöpfung. Das BNG sollte als Richtschnur für eine nationale Entwicklung dienen, die Nachhaltigkeit, Wohlbefinden und das Glück ihrer Bürgerinnen und Bürger zu zentralen Prioritäten macht. Als zweiten Schritt wurde mit der Einführung des BNG-Index aus der Philosophie ein Instrument der politischen Entscheidungsfindung. Der Index basiert auf Erhebungen, die sich auf die Operationalisierungen von Wohlbefinden und Glück stützen, um sie zu messbaren Variablen zu machen. Das BNG wurde zu einer Schlüsselkomponente der bhutanischen Politik, als 1972 der damalige König Jigme Singye Wangchuck erklärte, dass das BNG wichtiger sei als das Bruttoinlandsprodukt (BIP).

Das BNG ist ein wichtiger Bestandteil der Politikgestaltung und Entscheidungsfindung in Bhutan und heute als zentrales politisches Prinzip in Artikel 9 der neuen Verfassung von 2008 verankert. Es unterscheidet vier Politikbereiche: 1. Nachhaltige und gerechte sozioökonomische Entwicklung, 2. Erhaltung der Umwelt, 3. Bewahrung und Förderung der Kultur und 4. die Förderung von Good Governance. Diese vier Felder sind bei den Erhebungen für den BNG-Index zentral bei der Erstellung der Umfragen, die vom Zentrum für Bhutan-Studien und BNG-Forschung durchgeführt werden – erstmals 2008 und seitdem alle fünf Jahre landesweit in 8.000 zufällig ausgewählten Haushalten. Der BNG-Index unterteilt sich in neun Kernbereiche: Fragen zu Gesundheit, Bildung und Lebensstandard werden ergänzt durch Fragen zu Zeitnutzung, öffentlicher Verwaltung und Regierungsführung, ökologischer und kultureller Vielfalt und Resilienz sowie psychologischem Wohlbefinden und der gesellschaftlichen Vitalität. Diese Bereiche umfassen jeweils zwei bis vier Indikatoren, insgesamt fließen 33 Indikatoren in den BNG-Index in. Dieser Prozess soll eine Evaluierung der Akzeptanz der Regierungspolitik im Laufe der Zeit ermöglichen und aktuelle gesellschaftliche Problembereiche bewerten, was zu mehr Kohärenz in der Politik beitragen soll.

Die bhutanische Regierung hat im Sinne des Bruttonationalglücks eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Hinsichtlich des Umweltschutzes müssen laut Verfassung mindestens 60% des Territoriums dauerhaft bewaldet sein – derzeit liegt der Anteil bei etwa 70%. Abholzung ist nur erlaubt, wenn entsprechend neue Bäume gepflanzt werden. Brandrodung ist strafbar. Unverarbeitetes Holz von in Bhutan gefällten Bäumen darf nicht exportiert werden. Industrieunternehmen unterliegen verpflichtenden Umweltverträglichkeitsprüfungen. Darüber hinaus stammt der gesamte Energieverbrauch Bhutans aus erneuerbaren Energien, die in Wasserkraft- und Solarkraftwerken erzeugt werden. Die Überschüsse werden exportiert. Energie ist das größte Exportgut des Landes, es macht mehr als ein Drittel aller öffentlichen Einnahmen aus. Damit ist Bhutan das einzige Land der Welt, dessen größtes Exportgut Energie aus erneuerbaren Quellen ist. Insgesamt kann Bhutan zurecht als eines der umweltfreundlichsten Länder der Erde gelten – es ist nicht nur CO2-neutral, sondern CO2-negativ, das heißt das Land absorbiert mehr CO2 als es produziert. Auch in sozialen Fragen sticht Bhutan heraus. Obwohl der Zugang zu Schulen und medizinischen Einrichtungen in abgelegenen Gebieten Bhutans nach wie vor schwierig ist, sind Bildung und medizinische Versorgung grundsätzlich kostenlos. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt knapp 29 Jahre, die Lebenserwartung jedoch liegt bei etwa 72 Jahren, was an einer hohen Geburtenrate und raschen Verbesserungen der medizinischen Versorgung und der damit verbundenen Erhöhung der Lebenserwartung in den letzten zwei Jahrzehnten liegt. Die Analphabetenrate in Bhutan liegt im Landesdurchschnitt bei etwa 36 %, während sie bei jugendlichen im tiefen einstelligen Bereich liegt. Die Korruptionsrate ist dabei weiterhin sehr gering. Bhutan rangiert im Korruptionswahrnehmungsindex mit Platz 23 knapp unter Nationen we beispielsweise Frankreich (22), übertrifft Länder wie die USA (24) und zeigt einen stetigen Aufwärtstrend.

Dennoch belegte Bhutan im World Happiness Report der UN lediglich den 97. Platz. Der Index wurde auf die Initiative Bhutans hin auf dem Treffen zum Thema „Wellbeing and Happiness: Defining a New Economic Paradigm“ 2012 geschaffen. Die BNG Erhebungen aus dem Jahre 2015 ergaben, dass lediglich 8% „sehr glücklich” und 35% „ weitgehend glücklich” sind. 47,9% gaben an, „bedingt glücklich” zu sein. Die bestehenden gesellschaftlichen Problem sind divers. Das BNG schränkt ökonomische Entwicklung maßgeblich ein. So wurde beispielsweise in Beitritt zur Welthandelsorganisation unter Berufung auf das BNG 2017 von der bhutanischen Regierung abgelehnt. Bhutan ist nach wie vor eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt, der Großteil der Bevölkerung ist in der Subsistenzwirtschaft aktiv. Armut besteht insbesondere in abgelegenen Gebieten des Landes, die kaum landwirtschaftlich nutzbar sind. Die Jugendarbeitslosigkeit lag 2019 bei rund 10%. Im Zuge wirtschaftlichen Wachstums zeichnet sich in zunehmendes Einkommensgefälle. Darüber hinaus bleiben Zwänge der kulturellen Assimilierung für Minderheiten bestehen. Vor allem ware Bhutaner nepalesischer Herkunft Ende der 80er Jahre Opfer von Assimiliationspflichten und ausgrenzenden Maßnahmen im Staatsbürgerschaftsrecht sowie von erzwungenen Rückführungen nach Nepal.

Das Konzept des Bruttonationalglücks versteht das allgemeine Wohlergehen der Bevölkerung als die zentrale Priorität von Politik. Das Königreich Bhutan hat im Lichte des BNG eine Vielzahl von Maßnahmen eingeführt, die den Schutz der Umwelt, die Entwicklung der Bereiche Bildung und Gesundheit sowie den Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft entscheidend geprägt haben. Obwohl die erfolgreiche Implementierung von Aspekten des BNG in die Politik in Bhutan an Grenzen stößt, liefert es dennoch wertvolle Ansätze für eine nachhaltigere und kohärentere Politikgestaltung.

Dieser Artikel ist in der Januarausgabe 2021 des Diplomatischen Magazins erschienen.

Nikita Goch studiert Politik- und Rechtswissenschaft sowie Sinologie an der LMU München. Sein Fokus liegt dabei auf den Internationalen Beziehungen, Politik in Asien und auf Sicherheitspolitik. Nikita spricht Chinesisch, Vietnamesisch und lernt Koreanisch. Er ist der Co-Direktor für die Region Asien-Pazifik bei IFAIR e.V.