Baku statt Biblis – Energiepolitischer Kuhhandel oder Chance für Europa?

Baku statt Biblis – Energiepolitischer Kuhhandel oder Chance für Europa?

Der Begriff der Versorgungssicherheit umfasst in der Energiewirtschaft ein breites Spektrum an Fragestellungen. Technische Dinge, wie beispielsweise die Stabilität des Stromnetzes oder die Sicherheitsstandards kernenergietechnischer Anlagen, aber auch außenpolitische Verflechtungen können unter diesem Stichwort diskutiert werden. Letztere ergeben sich in diesem Zusammenhang vor allem beim Bezug von fossilen Energieträgern, wie z.B. bei Öl und Erdgas. Die damit einhergehenden Problematiken finden in Deutschlands derzeitiger energiepolitischer Debatte nur ungenügende Berücksichtigung.

Der Kaspische Raum – das neue Eldorado der europäischen Energieversorgung?

Im Deutschland des post Fukushima-Zeitalters entspricht die Zahl der potentiellen Fußballbundestrainer in etwa der der Energieexperten. Selten zuvor sind in der bundesdeutschen Mediengeschichte die Details technischer Prozesse, beispielsweise des geschlossenen Brennstoffkreises der Plutoniumwirtschaft oder der CO2 Abspaltung in Kraftwerken, wohl so intensiv diskutiert worden. Auch wenn die nukleare Katastrophe in Japan die Risiken der Energieerzeugung zumindest laut Bundesregierung in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt und viele alte Zöpfe der Energiewirtschaft in naher Zukunft abgeschlagen werden sollen, so behält das Zieldreieck der Energiewirtschaft dennoch seine Gültigkeit. Zahlreiche Konflikte zwischen Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit können trotz medialer Blitzlichtgewitter nicht aus der Welt geleugnet werden. Diese gilt es zu überwinden. Besonders der wichtige Aspekt der Versorgungssicherheit wird bei der aktuellen Debatte stiefmütterlich behandelt, wobei in diesem Sinne nicht nur die Arbeit an der viel zitierten Netzstabilität und der Umgang mit der naturgegebenen Fluktuation erneuerbarer Energien zu verstehen ist, sondern auch eine Analyse geopolitischer Verflechtungen nicht ignoriert werden sollte. In der Vergangenheit haben in diesem Kontext vor allem der russisch-ukrainische Dauerdisput über den Gastransit, sowie das Stichwort „Blood & Oil“ die Gemüter erhitzt.

Die eben erwähnte friedliche Nutzung der Kerntechnik war, die Risiken der nuklearen Proliferation ignorierend, verhältnismäßig unproblematisch. Während vielen Bürgern hierzulande dennoch die Atomkraftwerke geographisch gar nicht weit genug entfernt sein können, so ist diese Art der Stromerzeugung immerhin weitestgehend unter nationaler Kontrolle, was vor dem Einfluss potentiell übelwollender Drittländer schützt. Bei der Uranproduktion liegt die Kontrolle zu einem großen Teil bei “befreundeten” Staaten, wie beispielsweise Australien oder Kanada. Probleme ergeben sich hier also nicht.

Geopolitisches Schachbrett

Besonders das fossile Erdgas, welches heute als Brückentechnologieträger für eine atomkraftfreie und relativ klimaverträgliche Zukunft angepriesen wird, fällt hier hingegen unter die Gesetze eines über mehrere Jahrhunderte wirkenden Entstehungsprozesses. Geologen mag es interessieren, dass 80% der globalen Öl- und Gasvorräte in einer gewaltigen Ellipse liegen,  die sich vom Persischen Golf über das kaspische Meer bis in den Westen Sibiriens und möglicherweise bis in die Arktis erstreckt. Es ist jedoch auch der Fall, dass gerade diese Gebiete oft nolens volens in instabilen Staaten liegen, die zudem des Respekts rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipen unverdächtig sind.

In Anbetracht der Tatsache, dass Europas Gasvorkommen, vor allem in Großbritannien und zunehmend auch in Norwegen, nahezu ausgereizt sind, rückt seit einigen Jahren besonders der so genannte „Südliche Korridor“ in den Mittelpunkt des außenpolitischen Interesses. Dessen Ausbau wurde bereits direkt nach dem Ende der Sowjetunion und der damit einhergehenden Erschütterung der machtpolitischen Strukturen besonders durch die USA gefördert. Er hat zum Ziel, die strategisch wichtigen Gasreserven für Europa und den Westen zu sichern, um den traditionellen russischen und vermehrt auch den gegenwärtigen fernöstlichen Begehrlichkeiten entgegenzuwirken.

Moskau als ehemalige alleinige Hegemonialmacht der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres ist dabei im Gegensatz zu China nicht primär durch die Deckung der eigenen Energienachfrage motiviert; schließlich sitzt das Land laut BP auf 44,38 Billionen m³, damit ca. 24% der globalen Erdgasreserven. Russland tritt in dieser Weltregion eher als Makler als als Konsument auf. Es macht sich dabei die infrastrukturelle Pfadabhängigkeit zu Nutzen, da der Löwenanteil der lokalen Exportstrukturen in Kasachstan oder Turkmenistan Richtung Moskau ausgelegt ist. Dort angekommen, wird das Erdgas entweder direkt im Süden Russlands verbraucht, da auch die dortigen Öl- und Gasfelder in der Region Orenburg zum Teil zu Neige gehen, oder es wird in die transkontinentalen Pipelines eingespeist, um so schließlich europäische Wohnzimmer zu beheizen oder in Deutschland als Brückentechnologie herzuhalten.

Welcher Weg auch eingeschlagen wird, das Abnahmemonopol der Russischen Föderation diente lange dazu, die Zahl der eigenen Exportmöglichkeiten zu erhöhen, um so die Machtposition im europäischen Gasgeschäft auszubauen. Darüber hinaus alimentierte der zentralasiatische und kaspische Gasbezug über Jahrzehnte die nationale russische Gasindustrie, indem diese so auf relativ leicht zu förderndes, und somit relativ preiswertes, Erdgas zurückgreifen konnte. Wichtige Investitionen auf russischem Grund und Boden sind im Wesentlichen hingegen seit dem Kollaps der Sowjetunion ausgeblieben. Projekte wie beispielsweise auf der Jamal Halbinsel, im östlichen Sibirien oder im hohen Norden der Arktis mit Gasfeld „Stokman“ bleiben seitdem entweder hinter ihrem Potenzial zurück oder sind auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben worden. Ihre Realisierung erscheint jedenfalls zu diesem Zeitpunkt sehr fraglich.

Europa auf der Suche nach Diversifizierung

Mit einem Makler im Erdgasbereich verhält es sich darüber hinaus ähnlich wie mit seinem Synonym bei der Wohnungssuche. Meistens ist er im Grunde ziemlich sinnlos und kostet zudem auch noch ein Vermögen. Der Europäischen Union ergeht es mit Russland ähnlich wie dem frustrierten Neumieter, der die vorhanden Institutionen nicht nur mit seiner Gebühr bezahlen und tragen soll, sondern diesen oft in einer Art „WG Casting“ auch noch gefallen muss. Aus diesem Grunde ist die Europäische Union sehr an dem vorwiegend amerikanischen „Südlichen Korridor“ interessiert. Es soll zumindest noch eine Heizdecke in der kalten Wohnung zu finden sein, falls der mächtige Makler Russland oder seine Zwischenhändler, wie zum Beispiel in der Ukraine 2006, nicht mehr mit dem Mietvertrag einverstanden sind.

Dieser Angriff auf die russische Monopolstellung ist beim „Schwarzen Gold“ bereits vollzogen. Die Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline, die seit 2006 Öl aus dem Kaspischen Meer an Russland vorbei zum Mittelmeer transportiert, ist dafür ein oft genanntes Exempel. Öl hat jedoch im Gegensatz zu Erdgas den Vorteil, dass es, so man zahlreiche Tankerunglücke ausklammert, relativ einfach zu transportieren ist. Sein gasförmiger Konkurrent hingegen, kann über lange Entfernungen nur durch Pipelines – oder nach aufwendiger und teurer Bearbeitung als Flüssiggas –  bewegt werden. Eine Diversifikation weg von bestehenden Transportrouten ist somit schwerer zu erzielen. Nichtsdestoweniger, ist das Hinterhertreiben des russischen Monopols erklärtes politisches Ziel Brüssels und der Hauptstädte Europas. Nicht zuletzt das an Publicity reiche Nabucco Konsortium, welches unter Teilnahme des Unternehmens RWE gegründet wurde und seinen Sitz in Wien hat, ist bestrebt, Alternativen für kaspisches Erdgas zu schaffen und Russland so zu umgehen.

Die bedrängte Energiemacht ist jedoch keineswegs gewillt, die Schätze dieser Region kampflos an sich vorbeiziehen zu lassen. Dies geschieht im vollen Bewusstsein der Historie der Zusammenarbeit zwischen Staaten bei der Energiegewinnung. Der Energiesektor ist durch seine Systemrelevanz und seine zentrale Bedeutung für das gesamtwirtschaftliche Wohlergehen stets im Blickwinkel der Politik gewesen. Falls es den westeuropäischen Kräften also gelänge, den Kaspischen Raum energiepolitisch an sich zu binden, könnte dies zu einer allgemeinen Verbesserung der internationalen Beziehungen und darüber hinaus zu einer Annäherung an das „Westliche Modell“ samt seiner Allianzen führen. Da in Russland bisweilen ein Anschluss an dieses Modell nicht mehrheitsfähig zu sein scheint, wird ein Abdriften der Peripherie, sprich der ehemaligen Sowjetrepubliken in Süden, mit Argwohn betrachtet. Dieses „Innere Ausland“ wird nach wie vor von Russland in seinen Sicherheitsstrategien als exklusive Einflusszone bewertet. Eine vermehrte Einmischung westlicher Akteure wird als nicht willkommen empfunden.

„Divide & Conquer“

Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass Russland als Reaktion auf Nabucco mit seiner angestrebten Kapazität von mehr als 30 Milliarden m³ Erdgas pro Jahr Gegenmaßnahmen in die Wege leitete. So hat der weltgrößte Gasproduzent Gazprom, dessen Mehrheitsaktionär der russische Staat ist, 2009 das South Stream Projekt ins Leben gerufen. Sowohl der Zeitpunkt der Bekanntgabe als auch die Tatsache, dass weder die Finanzierung noch potentielle Gasquellen bisher publik gemacht worden sind, erwecken den Eindruck, dass das strategischen Kalkül in der Verhinderung der Nabucco Pipeline liegt. Um seinem Unternehmen  Nachdruck zu verleihen, bedient sich Gazprom einer „Trenne und Herrsche“-Doktrin. Es kann sich bei diesem Vorgehen darauf verlassen, dass das Interesse der an der Gasförderung und Verteilung beteiligten europäischen Unternehmen nicht deckungsgleich mit dem der staatlichen Akteure ist. Folglich ist es den Russen gelungen, wichtige Unternehmen wie zuletzt die deutsche Wintershall durch Absichtserklärungen an sein Vorhaben zu binden. Gazprom ist mit diesen Firmen, zu denen auch bis auf weiteres die italienische Eni gehört, durch zahlreiche Geschäftsbeziehungen in Russland verbunden, so dass beispielsweise Wintershall selber in West-Sibirien Bohrungslizenzen zur gemeinsamen Ausbeutung von Gasvorkommen nutzt. Die Interessenlage auf Seiten der Europäer ist somit nicht konsistent und kann ausgenutzt werden.

Schließlich kann der russische Staat auch auf zahlreiche Verbindungen in die Region zurückgreifen. Viele Mitglieder der örtlichen Nomenklatura haben teils jahrzehntealte, teils persönliche, Beziehungen zum russischen petro-ökonomischen Komplex. Die intransparenten Zustände in Ländern wie Turkmenistan, welches laut Transparency International zu den korruptesten Ländern überhaupt zählt, ermöglichen es zudem, dass Gewinne aus dem lukrativen Öl- und Gasgeschäft leicht „privatisiert“ werden können. Die Vorstellungen der Europäer mit ihrer Betonung auf Transparenz und Rechtstaatlichkeit erscheinen dort also wenig attraktiv.

Quo vadis Nabucco?

Welche Aussichten auf Erfolg haben also die europäischen Pläne? Eine Schlüsselposition bei der Beantwortung dieser Frage nimmt Aserbaidschan ein. Das kleine Land am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres wird das Zünglein an der Waage für die Diversifizierung des Gasbezugs sein. Besonders im Fokus steht das Shah Deniz II Gasfeld dessen wertvoller Inhalt im Laufe des Jahres verteilt werden soll. Gelingt es dem Nabucco Konsortium, hier den Zuschlag zu bekommen, so wird auch Turkmenistan ein glaubwürdiges Angebot erhalten und sich zum Bau von Anschlusskapazitäten ermutigt fühlen. Für sich genommen wird die Kapazität von angepeilten 10 Milliarden m³ nicht für das ambitionierte Nabucco Projekt ausreichen, jedoch dessen Ausbau begünstigen. Die Bedeutung Aserbaidschans ist auch in Brüssel erkannt worden, so dass nicht zuletzt der EU-Energiekommissar Oettinger Baku besuchte. Jüngst Letztgenannter sogar in Begleitung von EU Kommissionspräsident Barroso nach Turkmenistan, um dort Lobbyarbeit für Nabucco zu betreiben. Schließlich erfreut sich dieses Projekt des Prädikats „Transeuropäische Netze“, was sich in billigeren Krediten der privaten Kreditwirtschaft auswirken könnte.

Die Energieversorgung der europäischen Industrienationen wird also auch lange nachdem die Katastrophe von Fukushima wieder aus der Aufmerksamkeit der Medien verschwunden ist, hoch politisch bleiben. Allerdings wird sich der Fokus wohl weg von der schwäbischen Provinz hin zum Ufer des Kaspischen Meeres bewegen.

Philipp Nießen (Gastbeitrag/Guest-Contribution)

Bildquelle:
 http://www.flickr.com/photos/governmentality/5305409562/#/
(erscheint mit Genehmigung von „governmentality“)