Israel ein Jahr vor der Wahl

Israel ein Jahr vor der Wahl

Irans möglicher Bau einer Atombombe ist im ständigen Fokus der Berichterstattung in Israel. Doch innenpolitische Probleme werden immer gewichtiger in der politischen Auseinandersetzung und könnten bei den Parlamentswahlen in einen Jahr der bestimmende Faktor sein.

1. Einleitung

Sollte die israelische Regierungskoalition bis zur nächsten regulär anstehenden Wahl zum Parlament, der Knesset, im Herbst 2013 durchhalten, wäre Premierminister Benjamin Netanyahu der erste Regierungschef in Israels dann 65-jähriger Geschichte, der eine komplette Amtszeit ohne vorherige Neu- oder Abwahl regiert hätte. Darin spiegelt sich einerseits der Wunsch der Israelis nach ein wenig Konstanz in einer seit der Arabischen Revolution noch unruhigeren Region wider, andererseits zeugt es aber auch von den Führungsqualitäten und der zumindest nicht falschen Agenda des Premierministers.

Doch welche Themen beherrschen die Debatte in Israel? Wo sind die Trennlinien zwischen den Parteien der Koalition und Opposition? Diese Fragen werden im Folgenden beleuchtet und führen zu einem Ausblick, welche Chancen die Regierung zur Wiederwahl hat und welche personellen und thematischen Alternativen die Opposition überhaupt aufzubieten hat.

2. Zentrale Debatten

Im Gegensatz zu vergangenen Wahlen ist der Friedensprozess mit den Palästinensern kaum noch das die Parteien unterscheidende Merkmal, welches die Wahlen zur Knesset entscheiden würde. In der Ära Netanyahu hat es keine Fortschritte gegeben und es sieht nicht so aus, als ob das Thema in naher Zukunft allerhöchste Priorität genießen sollte. Beide Seiten werfen sich Verhandlungsunwillen und Kompromissunfähigkeit vor. Der status quo scheint besonders für Israel eine komfortable Konstellation darzustellen. Lediglich die Siedlungspolitik sorgt regelmäßig für schlechte Schlagzeilen. Diese werden aber meistens schnell wieder von den anderen Debatten überlagert.

a) Die Achse Iran – Syrien – Hisbollah

Nichts hat die Nachrichten in Israel in der ersten Hälfte des Jahres 2012 so dominiert wie die vermutete Entwicklung der Atombombe durch den Iran und ein möglicher präventiver Angriff Israels auf die Produktionsstätten. Doch so unsicher die Weltgemeinschaft über die wahren Absichten der Islamischen Republik in Persien ist, so sicher scheinen sich Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Barak darüber zu sein, dass Israel um einen Militärschlag nicht herumkommt. Die Opposition hält sich mit zustimmenden oder ablehnenden Äußerungen auffällig zurück. Die Mitte-Rechts-Partei Kadima warnte eher halbherzig vor militärischen Abenteuern. Der größte Widerstand kommt vom riesigen Sicherheitsapparat; sowohl führende Generäle als auch Geheimdienstgrößen wie der ehemalige Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad, Meir Dagan, äußern sich besonders kritisch und zweifeln an der Rationalität der entscheidenden Politiker. Netanyahu und seine Partei haben dieses Thema aber derartig besetzt, sodass lediglich den „Falken“ Netanyahu und Barak zugetraut wird, die Sicherheit des Staates zu gewährleisten. Für eine Fehleinschätzung der Situation oder gar einen Fehlschlag mit unvorhersehbaren Konsequenzen würden sie aber gleichfalls verantwortlich gemacht werden.

Erschwert wird die strategische Einschätzung der Lage durch die Instabilität der gesamten Achse, bestehend aus dem Iran, Syrien und der in Libanon ansässigen Hisbollah. Die Zukunft Syriens ist ungewiss und ein Untergang Assads könnte auch dem Iran einen Schlag versetzen. Die Gefahr, dass Chemiewaffen aus Assads Lagern entweder an die Hisbollah weitergegeben werden oder sogar direkt in einer selbstmörderischen Aktion gegen Israel eingesetzt werden, lassen die Regierung Netanyahu daran zweifeln, ob sich eine militärische Auseinandersetzung wirklich nur auf den Iran beschränken ließe.

b)        Sozio-ökonomische Schieflage und Proteste

Die Welle, die die Zeltstadt auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard im Zuge der letztjährigen Proteste im ganzen Land geschlagen hat, war enorm. Es schien, dass die größte Angst nicht mehr nur der Existenz des Staates galt, sondern nun auch noch die Existenz jedes Einzelnen in Gefahr sei. Die Lebenshaltungskosten in Israel und besonders im Großraum Tel Aviv sind kaum erschwinglich. Immer wieder wird das Beispiel vom Schokoriegel Pesekzman angeführt, der in den Vereinigten Staaten günstiger zu erwerben ist als im Herstellungsland Israel.

So ruhig es um die Protestbewegung im vergangenen Winter geworden, so heftig ist sie in diesem Sommer zurückgekehrt. Bei der großen Demonstration in Tel Aviv zum Jahrestag der J-14-Bewegung (14. Juli) gab es nach „tunesischem Vorbild“ eine tödliche Selbstverbrennung. Der neuerliche Protest ist Ausdruck der enormen Enttäuschung über die nicht gehaltenen Versprechen der Regierung. Nachdem sie im August vergangenen Jahres ein Komitee einsetzte, das Problemlösungsvorschläge erarbeitete, wurden die Empfehlungen kaum bis gar nicht umgesetzt.

Es ist das Thema der linken, sozialdemokratischen Oppositionsparteien. Sie unterstützen die Bewegung, wo sie können und lassen sich neben den Gewerkschaften und zionistischen Jugendverbänden am häufigsten auf den Demonstrationen blicken. Mit der Missachtung des Komitee-Vorschläge hat die Regierung jegliches Vertrauen ver- und der Opposition in die Karten gespielt.

c) Illegale Einwanderung

In die Debatte um die soziale Schieflage mischt sich seit einiger Zeit eine Komponente, die mittlerweile eine ganz eigene Dynamik entwickelt hat. Rund 60.000-70.000 Menschen aus Eritrea und dem (Süd-)Sudan halten sich schätzungsweise inzwischen illegal in Israel auf. Nachdem viele von ihnen die ägyptische Sinai-Halbinsel durchquert haben, leben sie zum größten Teil in südlichen Stadtteilen Tel Avivs wie beispielsweise Hatikva oder Neve Sha’anan. Das Klima ist spätestens vergiftet, seitdem immer wieder Vorwürfe auftauchen, wonach sie Vergewaltigungen und Raubzüge begehen. Die rechte national-konservative Mehrheit, die eine nahezu paranoide Angst vor dem Verlust der jüdischen Mehrheit hat, sieht die Afrikaner als Eindringlinge und heizt somit die Stimmung weiter an. Eli Yishai, Innenminister aus der ultraorthodoxen Schas-Partei, versprach Anfang Mai den Großteil schlichtweg „zusammenzutrommeln und abzuschieben“, was sogar die Unterstützung des vergleichsweise moderateren Likud fand. Immer öfter kam es daraufhin im Frühjahr zu fremdenfeindlichen und teilweise gewalttätigen Demonstrationen und Auseinandersetzungen in Tel Aviv.

Außer wenigen Abgeordneten von linken Splitterparteien ist es den Oppositionsparteien aber bei diesem Thema nicht gelungen, die Meinungshoheit zu gewinnen. Das Feld wird Nichtregierungsorganisationen überlassen, die sich dem Leid der Immigranten annehmen und dieses öffentlich thematisieren. Dabei bestünde durchaus Potential, sich bei dieser problematischen Angelegenheit als Alternative zu profilieren. Das zeigt sich an dem Riss, der durch die Gesellschaft geht. Während einige wenige Israelis zu Brandsätzen und Messern greifen, treten auf der anderen Seite Holocaust-Überlebende für die Afrikaner ein und appellieren an die Mitmenschlichkeit und ihre biblische Verpflichtung „ein Licht unter den Völkern“ darzustellen.

Da die Regierung mit finanziellen Anreizen versucht, die „Eindringlinge“ zur freiwilligen Heimkehr zu bewegen, und der Einwanderungsstrom im Sommer 2012 ein recht abruptes Ende gefunden hat, bleibt abzuwarten, ob die Problematik auch noch bei der Wahl in einem Jahr aktuell sein wird. Dennoch hat es die Opposition jetzt schon verpasst, das Thema zu besetzen und so in einem Jahr auf ihr Engagement zurückzuverweisen.

d) Wehrpflicht für Ultra-Orthodoxe und Araber

Die Kontroverse des Frühjahrs 2012 dürfte die Anordnung des Obersten Gerichts zur Reform des sogenannten Tal-Gesetzes über die Wehrpflicht gewesen sein. Erstmals in der Geschichte des Staates Israel sollen zukünftig auch Ultra-Orthodoxe einberufen werden, die bis dahin von einer Sonderregelung aus den ersten Tagen des Staates profitierten: Während damals Zweifel an der Loyalität der israelischen Araber bestanden, konnte der erste Premierminister David Ben-Gurion auch noch auf die 300 Strengreligiösen verzichten, die das Studium der Thora dem Dienst an der Waffe vorzogen. Doch mehr als sechzig Jahre später ist diese Gruppe zu einer nicht weiter vernachlässigbaren Größe angewachsen und in der Gesellschaft hat sich ein Gefühl der Ungleichbehandlung eingestellt. Das gleiche Argument wird auch im Hinblick auf die Angehörigen der arabischstämmigen Minderheit angeführt, die auch nicht zum Wehrdienst verpflichtet sind und sich lediglich freiwillig melden können. Doch während die Einberufung von Arabern noch lange brauchen wird, sollte die Einberufung von Ultra-Orthodoxen eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen sein. Um gegen die Phalanx der religiösen Parteien in der Koalition anzukommen, hat Netanyahu eigens die große Kadima unter Shaul Mofaz in die Regierung geholt. Doch die „Koalition der Nationalen Einheit“ währte nur wenige Wochen, nachdem Netanyahu nur etwa die Hälfte der Orthodoxen einziehen wollte und damit das Gerichtsurteil konterkariert hätte. Zum 1. August hat Israel nun keine gültige Regelung zur Einberufung der Strengreligiösen, die ihrerseits weiter gegen die Reform aufbegehren.

Die Schwäche der Regierung konnte augenscheinlich von der Opposition nicht genutzt werden. Insbesondere Kadima wird sich mit ihrem kurzen Intermezzo in der Regierung keinen Gefallen getan haben.

3. Aussichten der Koalitions- und Oppositionsparteien

Die Oppositionsbank in der Knesset zeigt sich wahrlich in einem schlechten Zustand. Die noch unter Ariel Scharon so starke Kadima-Partei mit den meisten Parlamentssitzen steht wohl vor dem Zerfall. Parteichef Mofaz’ Stippvisite in der Regierung hat ihn angeschlagen. Die einstige Hoffnungsträgerin Zipi Livni hat sich nach dem Verlust des Parteivorsitzes gänzlich aus der Politik zurückgezogen und nun treten auch noch reihenweise Abgeordnete in andere Parteien über. Die Arbeitspartei Avoda und die linke Meretz sind kaum existent. Ihnen fehlt die Kreativität und der Wille sich als ernsthafte Alternative zur Regierung zu positionieren. So wurde das Feld Netanyahu und seinen Gefolgsleuten überlassen. Doch in Wirklichkeit könnte Avoda um Shelly Yahimovitsch dank ihrer Rolle im Kampf um soziale Gerechtigkeit aktuellen Meinungsumfragen zufolge ihre neun Sitze in der Knesset sogar verdoppeln. Netanyahus Image als Verteidiger der nationalen Sicherheit ist jedenfalls unangefochten. Sollte der Schlag gegen den Iran gelingen oder sollte das Thema weiter beherrschend sein, dürfte die Frage bei den Wahlen in einem Jahr nur sein, wie hoch seine Likud-Partei gewinnt. Daher besteht die einzige Chance der konkurrierenden Parteien den Fokus auf die innenpolitischen Probleme zu legen.

Robert Friebe

Robert Friebe lebt seit Oktober 2011 in Israel und studiert im ‘Master of Arts in Security & Diplomacy Studies’ an der Tel Aviv University. Seine Masterarbeit schreibt er voraussichtlich über „Overlaps of Intelligence and Diplomacy in Israel“. Ein weiterer Schwerpunkt sind nationale Sicherheitsstrategien im Nahen Osten und Israels Innen- und Außenpolitik.

 

Literaturverzeichnis

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