Zeitenwende in der deutschen Russlandpolitik

Zeitenwende in der deutschen Russlandpolitik

Deutsche Russlandpolitik war nie emotionslos. Von Willy Brandt über Helmut Kohl zu Gerhard Schröder: Stets nahm Russland eine besondere Stellung in der deutschen Außenpolitik ein. Die zu Grunde liegenden Konzepte mögen damals „Wandel durch Annäherung“ geheißen haben oder heutzutage „Modernisierungspartnerschaft“, aber Russland war immer das „zu Wandelnde“ oder das „zu Modernisierende“ – ein Objekt, nicht Subjekt deutscher Politik; ein noch zu formender Rohdiamant an der Peripherie Europas mit einer europäisch orientierten Bevölkerung und reich an begehrten Rohstoffen. In Russland, so der deutsche Diskurs, lasse sich noch Großes tun und Großes verändern.

Aus diesen Anschauungen resultierte ein Politikansatz, der mit immer neuen Konzepten versuchte, Russland in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Die Heimat Dostojewskis und Tolstois in eine europäische Demokratie verwandeln – so lautete und lautet immer noch die Handlungsmaxime vieler deutscher Russlandpolitiker. In diesem Sinne ist Russland zu einem gewissen Grad Projektionsfläche deutscher Neuordnungsideen, die man visionär oder auch utopisch nennen kann. Deutschland übernimmt dabei gerne die Rolle des Lehrmeisters, der nach bitterer eigener Erfahrung Ratschläge verteilt, wie andere Länder es auch schaffen können. Die beliebtesten Export-Konzepte sind zum Beispiel der „deutsche Mittelstand“, die „soziale Marktwirtschaft“ oder die „föderale Demokratie“.

Im Prinzip ist an einer solchen Herangehensweise nichts auszusetzen, da sie getrieben ist von gutem Willen und einem kontinuierlich starken Interesse an Russland. Im Zweifelsfall ist es tatsächlich besser, eine zu ambitionierte Politik des Wandels zu verfolgen, als eine reine Wirtschafts- oder Energiepolitik. Allerdings verstellt der Wunsch nach „Russland wandeln“ gleichzeitig den Blick für die Realitäten im Land. Er impliziert einen determinierten Entwicklungspfad, auf dem Russland bereits weit fortgeschritten ist und nur noch ein wenig Anstrengung benötige, um in den Kreis der europäischen Demokratien aufgenommen zu werden. Zudem werden wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorausgesetzt, die in Russland so nicht gegeben sind, zum Beispiel eine breite Mittelschicht. Das führt unweigerlich zu dramatischen Enttäuschungen, wenn überzogene Erwartungen nicht erfüllt werden.

Genau dieser Fall ist eingetroffen mit der Wiederkehr Wladimir Putins in das Präsidentenamt. Während die Präsidentschaft Dmitri Medwedews zumindest ein Signal des Aufbruchs setzte und dem Modernisierungsprojekt ein neues Gesicht gab, wird unter Putin 2.0 der Status Quo eines langsamen Niedergangs zementiert.

Der Führung ist jeglicher Gestaltungswille abhanden gekommen

Stattdessen ist die persönliche Absicherung zum primären Ziel der Politikelite geworden. Damit ist jegliche Hoffnung auf eine Modernisierung und Demokratisierung Russlands als Wunschdenken entlarvt. Zu extrem ist die Lücke zwischen Anspruch und Realität. Dies zeigte sich nirgendwo besser als in Moskau selbst, bei den 16. deutsch-russischen Regierungskonsultationen Mitte November.

Die Rahmenbedingungen für das Zusammentreffen waren denkbar schlecht. Nach dem umstrittenen Urteil im Prozess um Pussy Riot kritisierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einem Entschließungsantrag scharf die Menschenrechtslage in Russland. Erzürnt erklärte das russische Außenministerium daraufhin den Beauftragten der Bundesregierung für deutsch-russischen zivilgesellschaftlichen Dialog zum unerwünschten Gesprächspartner. Dennoch gelang beim Treffen der Bundeskanzlerin mit dem russischen Präsidenten ein bemerkenswerter Spagat. Merkel parierte souverän die russischen Vorwürfe, die deutsche Seite würde durch ihre kritische Haltung zu einer Verschlechterung der Beziehungen beitragen: Kritik müsse man aushalten, gerade unter Freunden; und es sei ja auch kein Geheimnis, dass der russische Präsident auch nicht auf den Mund gefallen sei. Gleichzeitig betonte sie, wie wichtig eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Russland ist.

Merkels Auftritt markierte eine Neujustierung in der deutschen Russlandpolitik. Die euphorischen Hoffnungen auf eine schnelle Wandlung Russlands in eine europäische Demokratie wurden zurückgefahren, ohne die Relevanz der deutsch-russischen Beziehungen in Frage zu stellen. Das ist keine Absage an eine anspruchsvolle und fordernde Russlandpolitik, aber eine Absage an die Idee, der Westen (und Deutschland) könne Russland wandeln, wenn er sich nur genug bemühe. Und es signalisiert eine Akzeptanz der Tatsache, dass es Wandel nur von Statten geben kann, wenn die Impulse von innen heraus kommen. Zum Beispiel, wenn die Bevölkerung aus Protest gegen die Führung auf die Straße geht.

So wichtig diese Richtungsentscheidung auch war, markiert sie doch einen Tiefpunkt in den deutsch-russischen Beziehungen. Was ist also die Zukunftsperspektive? Muss mit einer Stagnation der Beziehungen für mindestens die nächsten sechs Jahre – bis zur russischen Präsidentschaftswahl 2018 – gerechnet werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Variablen betrachtet werden, die die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen entscheidend beeinflussen können. Dazu gehören überraschenderweise nicht die Wirtschaftsbeziehungen, da diese trotz einiger Aufs und Abs voraussichtlich relativ konstant bleiben werden. Was sind also dann die entscheidenden Einflussfaktoren mit Blick auf 2018?

Die Bundestagswahlen 2013 und die Besetzung des Außenministeriums

Egal, ob Merkel oder Steinbrück in das Bundeskanzleramt einzieht – das Interesse von beiden an Russland ist nicht stark ausgeprägt. Bei Merkel kommt noch die Desillusionierung der letzten acht Jahre hinzu. Entscheidend ist daher die Besetzung des Außenministeriums. Unter einem wiederkehrenden Außenminister Steinmeier wäre mit einer intensiven Neukonzeption der Beziehungen zu rechnen, da er sein Engagement mit Russland auch in der Opposition fortgesetzt hat. Ein weiterhin CDU- oder FDP-geführtes Außenministerium würde hingegen am bisherigen von Merkel in Moskau definierten Kurs nichts ändern.

Die innenpolitische Situation in Russland

Dabei sind die folgenden Fragen entscheidend: Wie viele Fehler begeht die russische Führung, die ihre Legitimität untergraben und zu Massenprotesten führen könnten? Wie lange noch können die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der Elite ausbalanciert werden, ohne dass es zu einem Machtkampf kommt, der auch für Putin gefährlich werden könnte? Und wer wird der Nachfolger sein, sollte Putin sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können? Wird sich innerhalb der Opposition eine Führungsfigur etablieren?

Die Entwicklung des Gas- und Ölpreises

Nichts ist wichtiger für die Stabilität in Russland als der Gas- und Ölpreis. Die Einnahmen aus dem Energiegeschäft machen circa 50 Prozent des Staatsbudgets aus. Zwar hat die Regierung genug Devisenreserven, um für ein bis zwei Jahre den Staatshaushalt liquide zu halten, aber ein drastischer Fall des Gas- und Ölpreises hätte langfristig dramatische Auswirkungen auf das rohstoffbasierte Wirtschaftsmodell Russlands. Angesichts des rasant wachsenden Marktes für Flüssig- und Schiefergas ist so eine Entwicklung nicht unwahrscheinlich – und russische Energieunternehmen haben das völlig verschlafen. Für einen Großteil der Bevölkerung bedeutet die Präsidentschaft Putins vor allem, dass im Gegensatz zur Jelzin-Zeit die Renten und andere Leistungen rechtzeitig gezahlt werden. Sollte dieser Sozialkontrakt ins Wanken geraten, ist der Legitimitätsanspruch der Führung ernsthaft gefährdet.

Die Lehre für die deutsche Politik ist, dass die Gestaltungsmöglichkeiten in Russland gering sind. Dennoch muss es das Ziel deutscher Russlandpolitik sein, ein konstruktives Verhältnis zu Russland zu bewahren. Wenn gemeinsame Interessen im Spiel sind, muss die deutsch-russische Partnerschaft handlungsfähig sein. Aber ebenso muss sie auch scharfe Kritik aushalten können. Eine Entfremdung von Russland darf es nicht geben. Das gilt für jede Bundesregierung – egal welcher Couleur.

Liana Fix

arbeitet als Fellow des Mercator Kollegs für Internationale Aufgaben zu europäischer
und transatlantischer Russlandpolitik im Auswärtigen Amt in Berlin sowie in
Tiflis und in Moskau. Zuvor war sie im Russia & Eurasia Programme bei Chatham
House tätig sowie im Büro für Internationale Politik der Körber-Stiftung in Berlin.

Dieser Artikel wurde ebenfalls im Diplomatischen Magazin, Partner von IFAIR e.V., in der Januar-Ausgabe veröffentlicht.