Monthly Mind Dezember 2012 – Weniger Kleinstaaterei bei Sicherheit und Verteidigung

Monthly Mind Dezember 2012 – Weniger Kleinstaaterei bei Sicherheit und Verteidigung

In der Deutsch-Französischen Erklärung „Für eine stärkere europäische Sicherheit und Verteidigung“ vom 6. Februar 2012 schreiben die beiden Regierungen: „Gerade in Zeiten strategischer Unwägbarkeiten und begrenzter Ressourcen sind gemeinsame Rüstungsprojekte für eine starke Verteidigung unabdingbar. Wir müssen deshalb bereit sein, die erforderlichen Entscheidungen zu treffen.“ Gerade zu Neujahr soll es ja vorkommen, dass gute Vorsätze und tatsächliches Verhalten nicht ganz zusammenpassen.

In kaum einem Bereich klaffen Vorsätze und Handeln aber so sehr auseinander wie in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nicht nur in Deutschland und Frankreich, sondern in ganz Europa. In politischen Initiativen und Absichtserklärungen werden Pooling & Sharing und Smart Defense beschworen, die Zusammenlegung und gemeinsame Nutzung militärischer Fähigkeiten im Rahmen der EU und der NATO. So wichtig diese Initiativen auch sind, und so erfreulich jeder kleine Fortschritt ist: große Sprünge sind leider nicht zu erwarten. Und das, obwohl der europäische Verteidigungssektor, und damit auch unsere Fähigkeit, Sicherheitspolitik gemeinsam in der EU zu betreiben, vor immensen Herausforderungen steht. Das Geld des europäischen Steuerzahlers wird nämlich hochgradig ineffizient eingesetzt: Die europäischen Fähigkeiten machen nur einen kleinen Bruchteil des amerikanischen Potenzials aus, obwohl die europäischen Militärausgaben fast 40% der amerikanischen Fähigkeiten ergeben sollten – ein untragbarer Zustand. Damit aber nicht genug: die Verteidigungshaushalte in ganz Europa werden weiter gekürzt. Die meisten NATO-Staaten verfehlen das selbsterklärte Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben zu verwenden, deutlich und seit längerem. In der EU registrieren wir seit 2009 einen durchschnittlichen Rückgang bei den Verteidigungsausgaben von sechs Prozent pro Jahr. Die davon betroffenen Fähigkeiten sind nicht durch konzertierte Spezialisierung verlagert worden – sie sind ganz einfach weg, dauerhaft verloren gegangen. Außerdem müssen unsere Streitkräfte immer größere Ansprüche erfüllen, weil sich das sicherheitspolitische Umfeld unvorhersehbar entwickelt und somit auch in Zukunft immer wieder neue Anforderungen an die Koordination und Effektivität europäischer militärischer  Fähigkeiten stellen wird. Ob Kosovo oder Afghanistan, ob Libyen, Syrien oder Mali: Wenn wir in der Lage sein wollen, auf überraschende Krisen, Instabilitäten oder humanitäre Notlagen – im Notfall auch militärisch – reagieren zu können, müssen wir in Europa viel stärker als bislang zusammenarbeiten. Die Grundidee der europäischen Integration darf nicht vor den Kasernentoren halt machen! Das heißt natürlich nicht, dass militärische Einsatzentscheidungen plötzlich in Brüssel und nicht mehr in Berlin getroffen werden sollen, oder dass wir solche Einsätze leichtfertig herbeireden sollten. Aber die Vielzahl, Unvorhersehbarkeit und Vielschichtigkeit von Krisen, die die Sicherheit Europas betreffen können, ist ein Faktum. Hinzu kommt, dass wir uns in Folge des US-amerikanischen pivot nach Asien darauf einstellen müssen, potentielle Krisen in der europäischen Nachbarschaft in Zukunft selbstständiger als in den vergangenen Jahrzehnten bewältigen zu müssen – Beispiel Libyen. Weniger Mittel, schwierigere Aufgaben, unvorhersehbares Umfeld – wenn als Ergebnis dieses Dreisatzes nicht eine dauerhafte Schwächung europäischer Sicherheitspolitik stehen soll, führt an Zusammenlegung und Spezialisierung im Sinne europäischer Integration kein Weg vorbei. Leider sind wir noch weit entfernt von politisch-strategischen Entscheidungen, was koordinierte Spezialisierung auf nationaler Ebene und die Organisation von Fähigkeitsentwicklungen im multinationalen Verbund angeht. Schließlich berührt dies einen Bereich, der jahrhundertlang zum Kern nationaler Souveränität gehörte – und viele unbequeme Fragen mit sich bringt: Wie müssen, zumal im Zusammenhang der in vielen Ländern stattfindenden Reformen, die Streitkräfte strukturiert sein, damit eine zukünftige europäische Dimension genügend berücksichtigt wird? Auf welche Fähigkeit verzichtet man gegebenenfalls selbst? Was bedeutet das für die industrielle Basis und die sehr stark national ausgerichteten Beschaffungsprozesse? Wie könnte ein Militäreinsatz mit zusammengelegten Streitkräften in der Praxis organisiert und autorisiert werden? Gewiss sind das schwierige Fragen, nicht zuletzt für die Bundesrepublik Deutschland. Und richtig ist auch, dass unsere Partner in Europa nicht erpicht darauf sind, die wirklich kritischen Entscheidungen auf dem Weg zu gemeinsamen Fähigkeiten heute  zu treffen. Aber deshalb Ehrgeiz erst gar nicht zu entwickeln, erscheint allzu kurzsichtig. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP steht: „Langfristiges Ziel bleibt für uns der Aufbau einer europäischen Armee unter voller parlamentarischer Kontrolle.“ Die SPD und die Grünen sehen das ähnlich. So sehr man also darüber streiten mag, wie schnell und wie weit es gehen wird bei europaeischer Zusammenlegung und Spezialisierung: das Europa der Sicherheit und Verteidigung muss kommen und wird kommen, und wir müssen uns darauf vorbereiten und dabei möglichst alle relevanten Akteure und stakeholder einbeziehen. Um diesen Prozess zu begleiten und zu unterstützen, hat die Münchner Sicherheitskonferenz, unterstützt von McKinsey, eine neue Initiative angestoßen – die Konferenzserie „The Future of European Defence“. Ein erster europäischer „Summit“ zu diesem Themenkreis wird im Frühjahr 2013 Impulse für Pooling & Sharing liefern. Mitte Dezember fand in Berlin ein vorbereitender Roundtable statt, der den Fragenkomplex in einem deutschen Rahmen erörterte. Mitglieder des Bundestages, Vertreter der Bundesregierung, insbesondere des Verteidigungsministeriums, des Wirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amtes sowie  der Bundeswehr, Unternehmer und unabhängige Fachleute diskutierten darüber, wie wir Sicherheit und Verteidigung in Europa künftig sinnvoller und effektiver organisieren können.   „Wir müssen … bereit sein, die erforderlichen Entscheidungen zu treffen“, steht in der eingangs zitierten deutsch-französischen Erklärung zur europäischen Sicherheitspolitik. Der 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages wäre eine ideale Gelegenheit, die angekündigten „erforderlichen Entscheidungen“ voranzubringen. Berlin und Paris könnten in der Sicherheitspolitik die nächste Epoche der europäischen Integration einläuten.

von Wolfgang Ischinger

Wolfgang Ischinger war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter in Washington und London. Er ist Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und berät die Allianz SE. Dieses Monthly Mind ist am 31.12.2012 auch auf securityconference.de erschienen.