Die EU zwischen in und out
Und wieder steht Europa an der Klippe. Diesmal also nicht nur die Länder der Euro-Zone, sondern die gesamte Europäische Union. Spätestens seit Premier David Cameron ausgesprochen hat, was viele Briten und Europäer denken, ist die EU quasi nur noch auf Bewährung aktiv. Noch nie seien die Briten so enttäuscht von der Europäischen Union gewesen wie heute, sagte Cameron Mitte Januar. Die Menschen würden spüren, dass sich die EU in eine Richtung bewege, für die sie nie ihre Zustimmung gegeben hätten. Sie ärgerten sich über die Einmischung der EU mittels unnötiger EU-Vorschriften in das eigene Leben. Kurz: Man müsse jede EU-Kompetenz auf den Prüfstand stellen und eine neue Vereinbarung mit der EU aushandeln.
Ein kurzer Aufschrei aus dem Lager der Europafreunde folgte, doch die Entscheider in den anderen Mitgliedstaaten hielten sich auffallend zurück. Es dürfe zwar keine Politik des Rosinenpickens geben, sagte etwa der deutsche Außenminister, doch im Grundsatz stimmte die Bundesregierung den Briten zu: „Wir teilen die Vision eines ‚Besseren Europas‘: Wir brauchen ein neues Bekenntnis zum Grundsatz der Subsidiarität. Nicht alles muss in Brüssel und von Brüssel geregelt werden. Differenzierung bleibt weiter notwendig“, so Guido Westerwelle.
Die von Cameron thematisierte Enttäuschung der Menschen mit der EU ist zudem kein britischer Sonderfall, sondern europäischer Mainstream. Die ehrliche EU-Begeisterung früherer Jahre ist vielerorts verflogen. Zu existenziell sind die Probleme vieler Europäer, für die die EU mitverantwortlich gemacht wird. Die Arbeitslosigkeit erreicht neue Höchstwerte, die Haushaltseinkommen sinken und das Armutsrisiko steigt. Im Süden und Osten Europas ist die Lage besonders schlimm. Nach fünf Jahren Wirtschaftskrise ist der Friedensnobelpreisträger Europäische Union wirtschaftlich, sozial und somit auch politisch angeschlagen. Camerons angestrebtes Referendum über „in oder out“ zur EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ist ein Warnruf. Die zentrale Frage ist: Wie kann eine EU, die offensichtlich für viele Europäer eher „out“ ist, wieder „in“ werden? Eine Grundvoraussetzung dafür ist ein baldiger wirtschaftlicher Aufschwung. Die Menschen brauchen wieder eine Perspektive auf Jobs und Wohlstand. Doch auch politisch müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten zeigen, dass sie reformwillig und -fähig sind.
„Brüssel soll nur dort mehr Durchgriffsrechte bekommen, wo es einen europäischen Mehrwert gibt“, sagte jüngst Staatsminister Michael Link (FDP). Den Mehrwert einer EU-weiten Frauenquote für Unternehmen sieht die aktuelle Bundesregierung nicht und will sie verhindern. Den Mehrwert einer EU-Arbeitszeitrichtlinie sieht Cameron nicht und will sie wieder abschaffen. Wieso wird die von Cameron angestrengte Debatte tabuisiert, ob einmal übertragene Kompetenzen zurückgeholt werden können? Nationale Kompetenzen auf die EU-Ebene zu übertragen, ist eine höchst politische Entscheidung. Wieso sollte gerade diese Entscheidung in einer demokratischen EU unumkehrbar sein?
Ob es einen europäischen Mehrwert gibt, kann im Zweifel erst überprüft werden, nachdem Brüssel die Durchgriffsrechte bekommen und eingesetzt hat. Falls das Prinzip der Subsidiarität in der EU also ernst genommen wird, muss die politische Entscheidungsebene nicht nur von unten nach oben verschoben werden können, sondern bei Bedarf auch von oben zurück nach unten.
Michael Kaczmarek
Der Autor ist stellv. Chefredakteur des europäischen Nachrichtenportals EurActiv.de.
Dieser Artikel wurde ebenfalls im Diplomatischen Magazin, Partner von IFAIR e.V., in der März-Ausgabe veröffentlicht.