Nicht die Islamisten, sondern die Säkularen sind das Problem

Nicht die Islamisten, sondern die Säkularen sind das Problem

Ist der Islamismus wirklich das größte Problem für eine freiheitliche und demokratische Entwicklung der arabischen Transformationsstaaten? Oder ist die Stärke der Islamisten nicht vielmehr ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem: Die fehlende oder noch nur unzureichend verankerte demokratische Kultur, die erst gesichert ist, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte eine Teilhabe an der Macht haben.

Marina Ottaway, Direktorin des Middle East Programme beim Carnegie Endowment for International Peace in Washington, hielt Ende des Jahres eine Keynote Speech in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Dort formulierte sie folgende These, die ob der simplen Wahrheit noch lange im Gedächtnis blieb: Das größte Hindernis für eine erfolgreiche Demokratisierung der Länder des „arabischen Frühlings“ ist nicht der radikale Islamismus, sondern der fehlende Pluralismus. Ottaway sprach damit eine entscheidende Fehlwahrnehmung der Probleme des arabischen Frühlings an. Sowohl in Ägypten als auch in Tunesien haben die konservativen islamischen Parteien die ersten Wahlen mit deutlicher Mehrheit gewonnen und dominieren die politische Bühne. In beiden Ländern fehlt derzeit aber eine echte politische Alternative, die in der Lage wäre, Wahlen zu gewinnen, oder aber auch nur als politischer Gegner ernst genommen werden kann. Die fehlende („säkulare“) Alternative ist das Problem, nicht der Islamismus als solcher.

Solange dieser Zustand andauert, befindet sich der demokratische Transformationsprozess in großer Gefahr. Diese Gefahr rührt nicht notwendigerweise von der islamischen Ideologie der führenden Parteien, sondern von ihrer politischen Dominanz her. Das konnte in Ägypten in den vergangenen Wochen eindrücklich beobachtet werden. Die Partei der Muslimbruderschaft, die FJP, konnte ihre Machtstellung dazu missbrauchen, auch die Verfassung nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und warum? Weil die säkularen Kräfte zu schwach sind.

Deshalb aber sind jetzt die „säkularen“ Parteien in der Pflicht: Denn die starken islamischen Kräfte werden ihnen nicht den Gefallen tun und sich in nächster Zeit aufsplittern oder sich auf andere Weise signifikant selbst schwächen. Der gemeinsame Wille zur Macht wird diese Kräfte zusammenhalten. Es ist zwar wahr, dass beispielsweise die ägyptische Muslimbruderschaft und damit auch ihre Partei, die FJP, mit erheblichen internen Spannungen zu kämpfen haben – gleiches gilt auch für die tunesische El-Nahda. Doch all jene, die wirklich nicht mit der derzeitigen Leitung dieser Gruppen leben wollten, haben die Bewegungen bereits verlassen. Ein Auseinanderbrechen der islamischen Parteien, wie es oftmals – durchaus auch hoffnungsvoll – diskutiert wurde, ist daher mittelfristig nicht zu erwarten.

Von den Islamisten ist also kaum mit einer Pluralisierung der Politik zu rechnen. Wie sieht es aber auf der anderen Seite des politischen Spektrums aus? Die Probleme beginnen schon mit der Bezeichnung. Auch wenn in diesem Artikel von „säkularen“ Parteien die Rede ist, würden sich die meisten dieser Parteien nie selbst so bezeichnen, das Wort „säkular“ ist viel zu negativ konnotiert. Stattdessen verwenden viele die Bezeichnung „liberal“, was ebenso wenig treffend ist, schon allein weil viele dieser Parteien eher linke Wirtschafts- und Sozialprogramme haben. Das Wort „zivil“ wird ebenfalls gern verwendet, ist aber derzeit ein regelrechtes Modewort aller politischen Gruppierungen. Auch der Staat soll nach dem Willen fast aller Parteien ein „ziviler“ sein. Eine überzeugende Abgrenzung vom politischen Gegner sieht anders aus.

Die „säkulare“ Opposition in Ägypten und Tunesien ist zudem in eine Vielzahl von kleinen Parteien aufgesplittert, deren allererstes politisches Programm in der Regel die Propagierung ihres jeweiligen Parteiführers ist. Viele dieser altgedienten Parteiführer führen ihre Partei teilweise schon seit Jahrzehnten. Andere Parteien sind Neugründungen prominenter Politiker, die sich nach Führungsstreitigkeiten eine neue politische Heimat aufzubauen suchten. Viele Parteien haben sich zwar zu Koalitionen zusammengeschlossen, doch diese wechseln oft und schnell und meist mehr aus persönlichen denn aus inhaltlichen Gründen. Einer echten Einigung stehen meist die Egos der Parteiführer entgegen. Schon die Vielzahl der Bewerber um das Präsidentenamt, die alle um die Stimmen der „säkularen“ Mittelschicht kämpften, hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich am Ende ein Kader des alten Regimes und der Muslimbruder Mursi in der Stichwahl in Ägypten gegenüber standen.

Auch inhaltlich bietet die Opposition keine echte Alternative. Das für die allermeisten Ägypter und Tunesier noch immer wichtigste Thema ist die soziale Gerechtigkeit. Doch dieses Themenfeld ist, so scheint es, sehr erfolgreich von den islamischen Parteien besetzt worden.  Die „säkularen“ Parteien erreichen mit ihren Programmen nicht die  Massen, sondern nur eine wirtschaftlich abgesicherte intellektuelle Minderheit. Dabei gäbe es viele Ansatzpunkte. Noch immer sind massive wirtschaftliche und soziale Probleme ungelöst, die Zahl der städtischen Armen wächst. Die Korruption, der zündende Funke in Tunesien, läuft vielfach noch ungehindert weiter. Die Rechte von Arbeitern, eine Quelle zahlreicher sozialer Proteste in Ägypten vor der Revolution, wurden nach wie vor nicht gestärkt.

Natürlich gilt immer noch, was auch schon von Beginn des arabischen Frühlings an klar war: Die „säkularen“ Parteien haben deutlich weniger organisatorische Kapazitäten und oft auch finanzielle Mittel als die islamischen Gruppierungen. Daher hatten sie es in den vergangen Wahlkämpfen schwer, die breite Masse zu erreichen. Doch die Revolutionen sind nun zwei Jahre alt. So wird langsam klar, dass es hier nicht nur um organisatorische Schwäche geht. Die Probleme liegen tiefer. Aber solange die „Säkularen“ nicht einmal wissen, wie sie sich selbst bezeichnen sollen, sind sie den Islamisten ideologisch unterlegen.

Was kann die Opposition also tun?

Zuallererst müssen die „säkularen“ Parteien daher versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Sie müssen einheitlicher, kohärenter und professioneller auftreten. Streitigkeiten müssen schneller, aber auch transparenter beigelegt werden. Die wichtigste Umstellung aber muss von den Parteiführern, den notwendigen bekannten Gesichtern ausgehen. Nur wenn diese Personen, wie etwa Amr Mussa, Mohammad El Baradei und Hamdin Sabahi akzeptieren, dass eine Partei eine gesellschaftliche Institution ist und keine Maschine, die einzelne Personen in politische Ämter befördern soll, wenn diese Parteien auch ein Leben jenseits ihrer Vorsitzenden führen, dann können sie als überzeugende politische Kräfte auftreten.

Einige neue Entwicklungen machen aber Hoffnung, dass der Transformationsprozess nun fast zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings in eine neue Phase geht. Dem populären ägyptischen Politiker Amr Mussa ist es etwa gelungen, aus mehr als 20 Kleinparteien eine neue Partei zu formen.

Auch haben viele Ägypter verstanden, so zeigt es die Kraft der jüngsten Proteste zur Verteidigung der unabhängigen Justiz in Kairo, dass Wahlen allein noch keine demokratischen Verhältnisse schaffen. Nach den Umbrüchen in Nordafrika wurde das politische Gesehen vor allem von dem Wunsch dominiert, endlich freie und faire Wahlen abzuhalten. Auch im Westen lag der Fokus in der Berichterstattung eindeutig auf den Wahlen und auf der offenbar alles entscheidenden Frage, ob diese frei und fair verlaufen würden. Gemeinhin galt der Erfolg des Urnengangs als ein Test für den Erfolg der Revolutionen. Und die Bilder der Wahltage schienen hoffnungsvoll zu stimmen. Glückliche und stolze Menschen warteten geduldig vor den Wahllokalen, um endlich über die Zukunft ihres Landes abstimmen zu können. Doch wichtige Voraussetzungen für die Verankerung einer echten Demokratie blieben dabei auf der Strecke: Noch immer gibt es weder in Ägypten noch in Tunesien eine Verfassung, geschweige denn Einigkeit darüber, wie diese aussehen sollte. Eine Verfassung im Eilverfahren durchzubringen, wie es Präsident Mursi und seine Muslimbrüder versuchen, wird sicher auch keine endgültige Lösung sein.

In Tunesien begann in der Provinzstadt Siliana vor wenigen Wochen ein großer Protest gegen den lokalen Gouverneur, der einer islamistischen Partei angehörte. Menschen aus ganz Tunesien solidarisierten sich mit den Protesten, die letztlich zum Rücktritt des Gouverneurs führten. Diese Entwicklung zeigt eine neue Qualität der Proteste, die nun vielmehr auf lokaler Ebene machbare Forderungen durchzusetzen versuchen. Dies sind wichtige Schritte hin zur Schaffung und Verteidigung eines pluralistischen Systems, das die Basis einer etablierten demokratischen Kultur ist. Zwei Jahre nach dem Beginn des arabischen Frühlings ist dies das Gebot der Stunde.

 Thomas Claes studiert Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. In Kairo forschte er zur Rolle von religiösen Institutionen in der post-revolutionären Transformationsphase an der American University.

Dieser Artikel ist Gewinnerbeitrag des IFAIR-Wettbewerbs „Der Arabische Frühling“

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