Die Welt ist genug

Die Welt ist genug

Das westliche Ego-Modell hat Asien fest im Griff. Diese Kolonialisierung des Geistes ist die größtmögliche Verarmung. Eine Alternative liegt auf der Hand.

Das 21. Jahrhundert ist geprägt von den Werten, den Überzeugungen, Angewohnheiten, Routinen, Regeln und Organisationen der westlichen Welt. Politiker und Eliten in den sogenannten Entwicklungsländern haben diese Weltsicht aufgesogen, und sie spiegelt sich in allen wirtschaftlichen, staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen dieser Länder. Das Ergebnis: Obwohl Demokratie und Massenbildung auf dem Vormarsch sind, steigt die Ungleichheit. Auch in Indien und China.

Wohlstand und Macht wurden privatisiert und in kleinen Zirkeln aufgeteilt. Das Geld, über das Unternehmen wie Wal-Mart oder Shell verfügen, übersteigt das Bruttoinlandsprodukt von 171 Ländern. Währenddessen muss die Hälfte der Weltbevölkerung mit weniger als zwei Euro am Tag auskommen. Dafür bekommt man im Westen oft nicht mal einen Kaffee.
Die Welt hat sich einer Marktwirtschaft verschrieben, die Ungleichheit und Umweltzerstörung ignoriert. Diese Machtgefälle zeigen sich sogar in den einzelnen Familien. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass rund ein Drittel aller Frauen Gewalt durch ihren Partner erleben oder erlebt haben. Es ist eine Sauerei, aber das ist das Boot, in dem wir alle gemeinsam sitzen.

Das egoistische Wirtschaftsmodell des Westens

Im Mittelpunkt der westlichen Weltanschauung steht das Individuum. Das Ich wurde zur höchsten Gewalt und darf seine Mitmenschen und die Umwelt massiv ausbeuten. Diese Verengung auf den Einzelnen spiegelt sich in den westlichen Wirtschafts-, Politik-, Psychologie- und Bildungs-Theorien wider. Gesetze, Metaphern, Traditionen, Geschichten und Lieder hämmern den Individualismus in die Köpfe der Menschen. Die treibende Kraft hinter dieser jahrhundertelangen Entwicklung ist ein auf Egoismus basierendes Wirtschaftsmodell.

Und obwohl dieses Weltbild Risse bekommen hat, wird dort, wo sich die Macht konzentriert, weiterhin nur über oberflächliche Korrekturen nachgedacht. Das System selbst wird nicht in Frage gestellt. Dabei brauchen wir dringend ein neues Bewusstsein, eine neue Moral, die sich nicht zuerst auf das Ego, Überlegenheit und Ausbeutung stützt. Arme Menschen haben längst ein filigranes Verständnis der tatsächlichen Lebenswirklichkeit entwickelt. Sie wissen, dass sie nicht die Schuld an ihrer Armut tragen. Sie sehen das gravierende Machtgefälle, die systemische Gewalt und merken, wie sie von einem Leben in Würde ausgeschlossen werden.

Beispielhaft dafür ist etwa eine Diskussionsrunde armer Männer und Frauen in Tansania, der ich beiwohnte: „Siehst du den Beamten dort drüben? Er ist winzig. Würde ich ihn schubsen, fiele er hin. Er kann noch nicht mal einen Wasserkanister anheben. Aber fass ihn an, und du wirst sehen, was passiert. Sie machen die Regeln, die ihnen Macht verleihen. Ihre Macht ist in Papieren versteckt.“ In einer anderen Gruppe: „Hör’ auf zu träumen, wenn du keine Macht hast. Du wirst nie Freiheit oder Gleichberechtigung erlangen. Demokratie wird für dich immer nur ein Märchen bleiben.“ Ein Mann im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh fasst das Machtgefälle so zusammen: „Der reiche Mann leitet das Dorf, der arme Mann den Friedhof.“

Arme Menschen unterscheiden zwischen den klassischen soziologischen Definitionen: Macht über Menschen, Macht, etwas zu tun, und die Macht der Gemeinschaft. Und sie fügen eine vierte Kategorie hinzu: die innere Macht. Sie bleiben trotz allem optimistisch, versuchen es weiter und halten so die Gesellschaft zusammen. Auszuwandern ist nur die letzte, verzweifelte Option.

Die Kolonialisierung des Geistes

Wenn arme Menschen diese Machtstrukturen so gut verstehen, die ihre Chancen auf ein glückliches Leben limitieren, warum können wir das nicht? Weil wir, die Gebildeten, lange nach dem Verschwinden der früheren Kolonialstrukturen erneut kolonialisiert wurden. Die Werte der westlichen Kultur haben sich tief eingegraben in unsere heutigen Institutionen, ob nun im Osten oder im Westen. Diese Kolonialisierung des Geistes ist die größte Verarmung von allen.

Die Briten etwa haben den indischen Staat nicht geschaffen, damit es den Menschen dort besser geht. Er war bloßes Mittel, um die Ressourcen des Landes effizient auszubeuten, den Menschen horrende Steuern abzupressen und die „ignorante“ und „minderwertige“ Masse in Schach zu halten. Nach der Unabhängigkeit wurde dieser Staat an die Einheimischen übergeben, die dann aber versäumten, die zu Grunde liegenden Strukturen einzureißen. Die koloniale Umerziehung wirkt nach und stützt ein Kontrollregime. Über die Jahre wurde der Staat dann zum Nutzen Einzelner privatisiert, und Korruption ist heute allgegenwärtig.

Gemeinsam Verantwortlich

Jetzt brauchen wir eine moralische Vision, die uns dabei hilft, das System der Macht neu zu denken und neu zu erfinden. Dieses System muss auf dem „Wir“ basieren, nicht auf dem „Ich“ – es muss sich auf Respekt gründen. Wirtschaft und Handel müssen das Teilen entdecken und das Genug erkennen. Wir brauchen eine Gesellschaft kleiner miteinander verknüpfter Gemeinden, durchtränkt von Gleichheit und Mitgefühl.

Gemeinsam sind wir dafür verantwortlich, eine neue Zukunft, Vokabeln, Metaphern und Erzählungen zu denken. Unsere derzeitigen Politiker und Wirtschaftsbosse werden uns diese Aufgabe nicht abnehmen. Einfache Bürger werden sich für diesen tiefgehenden Wandel engagieren müssen. Und damit nicht genug. Wir müssen diese Vision auch in die Tat umsetzen.

Deepa Narayan

Deepa Narayan ist als Beraterin zur Verringerung von Armut und Ungleichheit tätig. Mit ihren Studien für die Weltbank (Moving out of Poverty) widerlegte sie die These von der selbstverschuldeten Armut und wurde deshalb von Foreign Policy als Top 100 Global Thinker eingestuft

Der Beitrag wurde im Rahmen unserer Kooperation mit dem Online-Debattenmagazin “The European” veröffentlicht. Zur >> [Erstveröffentlichung] und zur entsprechenden >> [Debatte] bei “The European”.