Accessio, quo vadis? Die Verpflichtung der Europäischen Union zum Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention besteht weiterhin

Accessio, quo vadis? Die Verpflichtung der Europäischen Union zum Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention besteht weiterhin

Im europäischen Grundrechtsraum steht ein Beitritt der Europäischen Union (EU) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) schon seit Jahrzehnten zur Debatte. Im Dezember 2014 scheiterte zuletzt ein Beitrittsversuch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Seitdem herrscht Stillstand in den Beitrittsverhandlungen. Dieser Artikel plädiert dafür, erneute Anstrengungen für einen Beitritt zu unternehmen.

Die Europäische Union und die Europäische Menschenrechtskonvention

Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 ist die EU gemäß Art. 6 Abs. 2 des Vertrags der Europäischen Union (EUV) zum Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet. Nach dreijähriger Verhandlung zwischen der EU-Kommission und Vertretern der 47 Vertragsparteien der EMRK stellte der Europäische Gerichtshof in einem Gutachten im Dezember 2014 die Unionsrechtswidrigkeit des Beitrittsübereinkommens fest. Seitdem liegt der Beitrittsprozess auf Eis. Das ablehnende Gutachten des EuGH mit seiner defensiven Argumentation des Schutzes der Autonomie der Unionsrechtsordnung wurde in der Literatur teils berechtigt, teils unberechtigt scharf kritisiert.[1] Aufgrund der hohen Komplexität spezieller europarechtlicher Fragestellungen soll die Begründung des EuGH hier nicht erörtert werden. Stattdessen stellt sich mit einem Blick in die Zukunft die Frage, warum ein Beitritt der EU zur EMRK sinnvoll und notwendig ist.

Grundrechtsschutz wird in Europa durch drei in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehende Rechtssysteme gewährt – den Grundrechtskatalogen der Nationalstaaten (in Deutschland das Grundgesetz), der supranationalen Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und der zwischenstaatlichen EMRK, deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehütet wird. Schon seit den 1970er Jahren wird über eine Verbindung der beiden Rechtssysteme der EU und der EMRK durch einen Beitritt diskutiert. Und das aus gutem Grund, denn ein Beitritt hätte eine Vereinheitlichung des Europäischen Grundrechtsraums und eine externe Menschenrechtskontrolle von Maßnahmen der EU zur Folge.

Zwar gilt die EMRK schon jetzt als Rechtserkenntnisquelle und grundrechtlicher Mindeststandard in der EU. Jedoch unterliegen Maßnahmen der EU mangels Mitgliedschaft keiner externen Kontrolle im Hinblick auf ihre Konformität mit der EMRK. Ein Kläger kann sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte also nicht unmittelbar gegen eine Maßnahme der EU wenden. Gleichzeitig können Rechte aus der EMRK nicht unmittelbar vor dem EuGH geltend gemacht werden. Dazu kommt, dass eine Anrufung des EuGH in Grundrechtsfragen durch einen betroffenen Einzelnen wegen der engen Auslegung der individuellen Betroffenheit im Rahmen der Nichtigkeitsklage ohnehin schwierig ist. Grundrechtsschutz unmittelbar gegen Maßnahmen der EU ist aus der Perspektive des Einzelnen also nur schwer zu erlangen. So konnte sich z.B. ein spanischer Kleinbauernverband mangels Klagebefugnis vor dem EuGH nicht gegen eine EU-Verordnung wehren, durch die eine bestehende Beihilferegelung abgeschafft wurde.[2] Ein etwaiger Eingriff in die Berufs- und Eigentumsfreiheit der Kleinbauern konnte daher nicht geprüft werden. Derzeit gibt es also Lücken im Rechtsschutzsystem der EU.

Durch einen Beitritt würden diese Lücken gefüllt werden. Die EMRK würde als völkerrechtlicher Vertrag Bestandteil des Rechts der EU. Diese Inkorporation hätte zur Folge, dass Maßnahmen der EU mit der EMRK in Einklang stehen müssten. Damit unterlägen sie der externen Kontrolle durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Wäre die EU im genannten Beispiel Vertragspartei der EMRK, könnte der spanische Kleinbauernverband seine Rechte aus der EMRK geltend machen und gegen die Verordnung der EU mittels Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgehen.

Ein kohärenterer Menschenrechtsschutz in Europa?

Als Vertragspartei der EMRK wäre die EU mit ihren Institutionen und Einrichtungen, Ämtern, Agenturen und im Namen der EU handelnden Personen an die Menschenrechte der EMRK gebunden. Dies hätte einen effektiven Menschenrechtsschutz in den zahlreichen, das tägliche Leben des Einzelnen betreffenden Kompetenzbereichen der EU zur Folge, etwa in den Gebieten Inneres, Justiz, Datenschutz und Migration. Sollte der EGMR in einem Urteil etwa den Verstoß einer EU-Verordnung zur Datenverarbeitung gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 8 EMRK feststellen, wäre der EU-Gesetzgeber zu einem Einlenken verpflichtet. Zudem wären die Gerichte in Straßburg und Luxemburg durch ihre vorgesehene Verzahnung im Übereinkommensentwurf zur Kooperation verpflichtet, sodass divergierende Rechtsprechungen verhindert würden. All dies würde zu einem einheitlicheren Grundrechtsschutz in Europa führen.

Und doch regt sich trotz der Beitrittsverpflichtung aus Art. 6 Abs. 2 EUV nichts in Brüssel. Zwar erklärte Kommissionspräsident Juncker vor dem Europarat im April 2016, dass der Beitritt zur EMRK für die Kommission eine politische Priorität sei. Es werde an einer Lösung gearbeitet und nicht geruht, bis eine gefunden sei.[3] Auch auf Seiten des Europarats ist die Bereitschaft für einen Beitritt der EU nach wie vor gegeben. Anzeichen für erneute Beitrittsverhandlungen in Straßburg sind jedoch seitdem nicht ersichtlich. Das mag daran liegen, dass die EU derzeit mit anderen wichtigen Herausforderungen wie dem Brexit, dem Ukraine-Konflikt oder der Flüchtlingspolitik beschäftigt ist oder dass die Chancen für einen erneuten Übereinkommensentwurf wegen des derzeit angespannten Verhältnisses der EU zu den EMRK-Vertragsstaaten Russland und Türkei eher schlecht stehen. Ein weiterer Grund könnte sein, dass der EuGH in seinem Gutachten hohe Hürden für den Beitritt aufgestellt hat. Die Befürchtung eines nach 1996 und 2014 dritten ablehnenden Gutachtens ist vielleicht zu groß. Doch auf eine erneute Anrufung des EuGH nach neuen Verhandlungen und Ausräumen der berechtigten Zweifel des EuGH könnte das nächste Mal verzichtet werden, da Art. 218 Abs. 11 AEUV nur die Möglichkeit, keine Pflicht zu einer Anrufung des EuGH vorsieht.

Die Verpflichtung zum Beitritt aus Art. 6 Abs. 2 EUV besteht jedenfalls weiter. Und die Harmonisierung der Grundrechtskataloge würde eine externe Menschenrechtskontrolle etablieren, die die Glaubwürdigkeit der EU in Europa und als größer werdendem Akteur auch auf internationaler Ebene für kommende Herausforderungen in menschenrechtssensiblen Bereichen stärken würde. Es wird also Zeit für erneute Beitrittsverhandlungen.

 

[1] Vgl. die auf dem Verfassungsblog eigens eingerichtete Debatte, http://verfassungsblog.de/category/schwerpunkte/die-eu-als-mitglied-der-menschenrechts-konvention/ (27.01.2017).

[2] EuGH, Urt. v. 25.7.2002, Rs. C-50/00 P, Unión de Pequeños Agricultores/Rat der EU, ECLI:EU:C:2002:462, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=47107&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1.

[3] Siehe BayRVR, 19.04.2016, http://bayrvr.de/2016/04/19/eu-kommission-beitritt-der-eu-zur-menschenrechtskonvention-ist-prioritaet-juncker-beim-europarat/.

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