Auf Spurensuche in Westsibirien

Auf Spurensuche in Westsibirien

Städte wie Chanty-Mansijsk oder Nowy Urengoi in Sibirien haben selbst für erfahrene Osteuropa- Reisende einen fast exotischen Klang. Jedoch sind diese Tausenden spärlich besiedelten Kilometer in der russischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert von großer Bedeutung: Zahlreiche politische Gegner und Strafgefangene wurden von Moskau nach West-Sibirien verbannt. Die Sowjets knüpften nahtlos an die leidvolle Tradition des Exils an und verbannten politisch Andersdenkende in die hintersten Teile Sibiriens. Gleichzeitig entstand unter Stalin in den 1930ern ein großes Netz an Straflagern, bekannt als GULAGs, in denen Strafgefangene unter härtesten Bedingungen Arbeit leisten mussten.

Diesen Spuren gingen 17 deutsch-russische Teilnehmende Anfang Juli nach. Zusammen mit der Yugra State University organsierte IFAIR e. V. eine vom Auswärtigen Amt finanzierte Exkursion, die am 2. Juli in Tjumen startete und am 14. Juli 2017 in Surgut endete. In den 13 Tagen wurden insgesamt zehn Orte „im Oblast Tjumen, den Autonomen Kreisen der Chanten und Mansen und der Jamal-Nenzen“ besucht und 3500 Kilometer per Bus, Zug und Schiff zurückgelegt. Ziel der Reise war es, sich vor Ort mit Zeitzeugen und deren Angehörigen, Experten und Aktivisten zu treffen, um mehr über die Art und Weise zu erfahren, wie heute auf lokaler Ebene an die verschiedenen Facetten des stalinistischen Terrors erinnert wird. Von großem Interesse für die Teilnehmenden war auch die Frage, wie das Gedenken vor Ort mit dem größeren Narrativ der russischen Geschichtsschreibung zusammenpasst.

So äußerte sich Präsident Putin jüngst im Interview mit Oliver Stone kritisch über die „exzessive Dämonisierung“ von Stalin im Westen und bezeichnete diese als „Angriff auf die UdSSR und Russland“. Jüngste Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts von Juni 2017 zeigen außerdem, dass eine Mehrheit von Russen Stalin als bedeutendste historische Figur Russlands betrachtet, noch vor Putin und Puschkin. Genaue Zahlen sind bis heute umstritten, aber Historiker schätzen, dass unter Stalin 15 bis 30 Millionen Sowjetbürger umkamen. Historiker und Zeitzeugen berichteten der Gruppe, wie während des „Großen Vaterländischen Krieges“ – die Bezeichnung des Zweiten Weltkrieges – die Zwangsumsiedlungen ein ganz neues trauriges Niveau erreichten. Neben den Wolga- und Schwarzmeerdeutschen wurden zahlreiche andere ethnische Gruppen, wie die Tartaren, Kalmüken oder Tschetschenen, für angebliche Kollaborationen mit den Nazis kollektiv zwangsumgesiedelt.

Bis Ende 1941 wurden mindestens 900.000 Deutsche nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Mehrere Zeitzeugen berichteten, wie sie ausgerüstet mit wenig Werkzeug, ohne jegliche Winterkleidung, in kaum besiedelte Teile Sibiriens gebracht und dort zunächst ihrem Schicksal überlassen wurden. Einen Höhepunkt der Reise bildete eine Exkursion zu verlassenen GULAG-Lagern entlang der Polarkreis-Eisenbahn, einem gescheiterten riesigen Infrastrukturprojekt der UdSSR. Die verlassenen und teilweise gut erhaltenen Lager entlang der 1300 Kilometer langen Trasse erinnern an die harten Haftbedingungen der Lagerinsassen, die unter extremen klimatischen Bedingungen mit Wintern von Temperaturen bis zu minus 60 Grad an der Fertigstellung arbeiten mussten.

Eingebettet in den historischen Kontext ermöglichten die Zeitzeugengespräche der Gruppe gute Einblicke in tragische Einzelschicksale. Interessanterweise waren wenige Zeitzeugen und deren Angehörige kritisch gegenüber Stalin. Eine weitere Erkenntnis der Reise ist, dass auf lokaler Ebene zwar ein Gedenken an die Opfer stattfindet, dieses staatlich geduldet und teilweise auch unterstützt wird, aber nur wenige Zeitzeugen und deren Angehörige ihr Schicksal mit dem dahinter stehenden System verknüpfen. Das passe zum offiziellen Narrativ des russischen Staates, der an die dunklen Seiten des stalinistischen Systems wie das Thema GULAG eher als notwendiges Übel zum Sieg gegen die Nazis erinnere, wie ein kritischer Kirchenvertreter der Gruppe in Nowy Urengoi berichtete.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Aprilausgabe des Diplomatischen Magazins.

© Titelbild: IFAIR