Ein Brief aus Texas
Im Rahmen der Fulbright Diversity Initiative 2018 besuchte ich mit anderen deutschen Studierenden mit Migrationshintergrund die Trinity University in San Antonio (Texas). Wir haben einen Einblick in das Studentenleben bekommen und darüber hinaus an mehreren Exkursionen teilgenommen, wie z. B. an die Grenze zu Mexiko. Die Reise hat das Bild einer polarisierten und gespaltenen US-Gesellschaft hinterlassen, die mit sozioökonomischen und kulturellen Entfremdungsprozessen konfrontiert ist.
Es war mein erster Aufenthalt in Texas und er war voller Überraschungen. Im Rahmen der Fulbright Diversity Initiative 2018 besuchte ich mit anderen deutschen Studierenden mit Migrationshintergrund die Trinity University in San Antonio (Texas). Wir sollten einen Einblick in das Studentenleben an dem Liberal Arts College bekommen. Dazu belegten wir reguläre Kurse und nahmen an Campus-Aktivitäten teil. Natürlich gab es für uns auch verschiedene Exkursionen: Museen, Konzerte, Rodeos, Kayaking, an die Grenze zu Mexiko und zu einer evangelikalen Kirche.
Was fiel mir auf? Die Menschen in Texas sind nicht so konservativ, wie man hierzulande denkt. Nicht nur auf dem Campus, sondern auch in San Antonio sprach ich mit Menschen, die sehr vielfältige kulturelle Hintergründe haben. Die Offenheit, das Interesse am Leben in Deutschland und die multikulturelle Vielfalt im Umgang miteinander, aber auch im Essen, beeindrucken. Wenn wir Freizeit hatten, sprachen wir mit amerikanischen Studierenden über Politik, Kultur und viel Sport. Dabei überraschte mich zweierlei:
Erstens, wie politisiert der Sport in den USA ist. Von den Olympics bis zum Super Bowl, von NBA bis Softball. Sport und Politik waren auf dem Campus allgegenwärtig und sorgten immer für reichlich Gesprächsstoff.
Zweitens überraschte mich, wie nah der Sozialismus in den USA ist, zumindest bei vielen Studenten. Eine afroamerikanische Studentin erklärte mir, dass sie es für möglich hält, dass sich der Sozialismus in den USA stärker verbreiten und dadurch eine „Revolution von unten“ stattfinden könnte. Zugegeben, ich war ein wenig ratlos, als ich ihrer Argumentation folgte, nicht weil diese unschlüssig war, sondern weil wir in Deutschland andere Debatten in Bezug auf die inneramerikanische Spaltung führen. Für sie sei es eine Kombination aus sozioökonomischer Benachteiligung, identitätspolitischer Probleme sowie das Gefühl, „Strangers in their own land“ (Fremde im eigenen Land) zu sein. Deshalb beteuerte sie mir, dass sie und andere gleichaltrige Studierende nach Europa reisen wollen, um sich endlich akzeptiert zu fühlen. Ich muss ehrlicherweise gestehen: Bis dato wusste ich nicht, welcher Belastung sich afroamerikanische Jugendliche und Angehörige der „black community“ ausgesetzt sehen. Sie sagen offen, dass sie auf ihre Hautfarbe reduziert werden. Hierbei ging es nicht nur um offene Diskriminierung, sondern auch um Sprache. Die Diskussionen an der Trinity University waren stets kontrovers, emotional und auch persönlich. Das erleichterte mir, mich besser in die Lebenswelt der amerikanischen Studenten hineinzuversetzen. Sobald es um die Flüchtlingskrise, Sozialstaat, soziale Ungleichheit und Kapitalismus ging, wurden die Debatten kontroverser. Es kamen dann immer mehr Leute dazu. Die unterschiedlichen Perspektiven von Libertären, „Social Justice Warriors“, Linken, Rechten und ja, auch Konservativen, war eine neue Erfahrung. Mir wurde an diesem kleinen College in Texas deutlich, wie tief die US-amerikanische Gesellschaft polarisiert, ja gespalten ist. Diese Dimensionen hatte ich unterschätzt.
Eine weitere wichtige Erfahrung machte ich an der texanischen Grenze zu Mexiko. Wir machten einen Besuch bei der Border Patrol in Laredo, Texas. Zunächst ging es in den „Screening Room“ mit mehreren Bildschirmen mit Überwachungsbildern von der Grenze zu Mexiko. Als ein Officer uns gerade die Monitore erklärte, bewegte sich auf einem der Bildschirme etwas. Es war ein Flüchtling, der versuchte, die Grenze zu überqueren. Es kam uns so vor, als würden die Officers im Raum, das Aufgreifen der Menschen als „Spiel“ betrachten: Bei jedem „Catch“ – Fang – wurde die Stimmung besser und ausgelassener, als gehe es nicht um Menschenleben, sondern um das „perfect game“.
Ein Officer mit mexikanischer Abstammung meinte, dass es nötig sei, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, um neben den „illegal immigrants“ auch die Drogenkartelle zu bekämpfen. Unangenehm wurde es, als wir an einen Checkpoint in das euphemistisch als Detention-Center bezeichnete Gefängnis gingen: Einige von uns weigerten sich, es zu betreten. Sie hielten das für moralisch abstoßend. Auch mir war bei dem Gedanken unwohl, sich die Gefangenen anzuschauen. Jedoch überwog die Neugier; ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Auffallend war die Kälte in den Zellen, die – so erfuhren wir auf Nachfrage – mit Absicht so runtergekühlt wurden, damit die Gefangenen leichter zu beeinflussen seien. Unsere Koordinatorin Habiba Noor hatte uns empfohlen, als „Participant Observer“ erst alles wertneutral aufzunehmen und zu beobachten, um anschließend unsere Schlussfolgerungen zu ziehen. In diesem Fall ein recht schwieriges Unterfangen!
Prägend bleibt der Eindruck von einer polarisierten US-Gesellschaft, die sich durch sehr unterschiedliche Kulturen und vielfältige Lebensstile auszeichnet. Zugleich laufen sozioökonomische und kulturelle Entfremdungsprozesse. Sie befeuern die Debatte um ein neues Wirtschaftsmodell (Sozialismus statt Kapitalismus). Hier zeigt sich auch ein Paradoxon, mit dem die europäischen Gesellschaften ebenso konfrontiert sind: Einerseits der kosmopolitische und multikulturelle Ansatz. Dieser plädiert für eine liberale Einwanderungsgesellschaft, Diversität und Inklusion. Andererseits der nationalstaatliche und ethnozentrische Ansatz, der die nationale Souveränität und den Schutz der eigenen kulturellen Identität betont, und Flüchtlinge als Bedrohung wahrnimmt.
Von dem US-Politiker James William Fulbright stammt der Satz: „In einer Demokratie ist eine abweichende Meinung ein Akt des Vertrauens.“ Das nach ihm benannte Programm zeigt, wie wertvoll ein interkultureller Austausch sein kann, der Respekt, Toleranz und Verantwortungsbereitschaft erfordert und gleichzeitig eine demokratische Streitkultur zulässt.
Dieser Artikel ist zuerst im WeltTrends Journal, Ausgabe Nr. 153 (Juli 2019), erschienen.
Majd El-Safadi
Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie, Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und Fulbright-Alumni, Literaturverantwortlicher und Redaktionsmitglied des außenpolitischen Journals WeltTrends