Die Mär vom Niedergang der USA

Die Mär vom Niedergang der USA

Jüngst prophezeite der amerikanische Soziologe Richard Sennett: „Amerika ist ein reiches Land und befindet sich doch im Niedergang.“ Die Mär vom Niedergang der USA hat sich in den Köpfen vieler bereits verfestigt: eine dramatische Finanz- und Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Probleme im Bildungssektor, eine ineffizient organisierte medizinische und soziale Sicherung und der Aufstieg der BRIC-Staaten gelten als Standardargumente.

Schon oft wurde das Ende der Vereinigten Staaten und der Abstieg einer Weltmacht prophezeit: unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg aufgrund des schnell wachsenden Einflussbereiches der UdSSR, im Korea-Krieg, schließlich im Dschungel Vietnams und auch in der Gegenwart mit Blick auf China. Doch wir ahnen, dass auch Propheten irren können. Also: Wo stehen die USA heute?

Der nüchterne Blick auf die Faktenlage verrät bereits, dass auch das 21. Jahrhundert ganz maßgeblich von den USA geprägt werden wird. IWF, Weltbank, UNO, WTO – die internationale Ordnung basiert auf den Rahmenprinzipien, die die USA nach dem 2. Weltkrieg definierten und bis heute das Instrumentarium der multilateralen Diplomatie bilden. Ein Aufstieg des Reiches der Mitte zur geopolitischen Macht müsste dieses System mit einer Alternative ablösen wollen – doch: Mit welchem Gegenmodell könnte China aufwarten? Die amerikanische Hegemonie hat sich in multilateralen Gremien verfestigt, ohne die nationale Handlungsfähigkeit signifikant zu beschränken. Liberalismus, Individualismus und Moderne, gehasst wie geliebt, können von einem Neonationalismus chinesischer Prägung in einer sich demokratisierenden Staatenwelt mangels breiten Konsenses nicht abgelöst werden. Robert Kagan ist Recht zu geben: Die „amerikanische DNA” der internationalen Ordnung ist nicht ohne Weiteres auszumerzen. Von den American Universities bis zu den Amerika-Häusern, von Coca Cola bis zur Jeans, von Hollywood bis Apple – der American Way of Life kennt keinen namhaften Rivalen. Die besten Universitäten der Welt stehen in Massachusetts und Kalifornien, nicht in Liaoning und Yunnan.

Eine Supermacht definiert sich nicht nur durch ihre ökonomischen Wachstumsraten, sondern durch ihre Bereitschaft, in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Wo ist Chinas Führung im Arabischen Frühling, im wieder erhitzten Nahost-Konflikt, bei der Stabilisierung des nach wie vor labilen internationalen Finanzsystem? Der symbolische Streit um eine Inselgruppe im Ostchinesischen Meer scheint für China im Vordergrund zu stehen, während sich selbst Vietnam unter den amerikanischen Schutzschirm begibt und sich Birma in seiner wandelnden politischen Identität von Peking abwendet. Die USA tragen jährlich fast 500 Milliarden Dollar an Rüstungsausgaben – immerhin 50 Prozent der globalen militärischen Ausgaben. Trotz fiskalischer Klippe wird sich der Abstand zu China nur unwesentlich verkleinern: China gibt – nach eigenen Angaben – derzeit rund 30 Milliarden Dollar für seine Verteidigung aus und beschäftigt sich vor allem mit dem Aufbau einer Fundamentalstruktur, während US-Präsident Obama eine neue Drohnen-Generationen entwickeln lässt. Der Flugzeugträger der Chinesen ist ein ausrangiertes Schiff aus Sowjetzeiten, während die 7. US-Flotte im Pazifik die amerikanischen Sicherheitsgarantien eindrucksvoll unterstreicht. Das weltweite Netz an Militärbasen und die Kontrolle über GPS und das Internet leisten ihr Übriges. Die finanziellen Auswirkungen der chinesische Ein-Kind-Politik, das absehbare Ende zweistelliger Wachstumsraten und die schwelenden Immobilienblase werden Pekings Aufmerksam nach innen richten. Amerika wird auch in Zukunft das Weltbild entscheidend prägen.

Kooperation mit dem Diplomatischen Magazin

Dieser Artikel erreichte den hervorragenden dritten Platz des IFAIR-Mitgliederwettbewerbs mit dem Diplomatischen Magazin vom November 2012.

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© Titelbild: Richard Sennett | Ars Electronica (flickr.com)